Domino im Kaukasus

Der Kaukasus und sein Umfeld wird immer offensichtlicher zum neuen Konfliktfeld zwischen Russland, der GUS und dem Westen: Die „Rosenrevolution“ in Georgien, das tschetschenische Drama von Beslan, die „orangene Revolution“ in der Ukraine, um nur die letzten Vorgänge zu nennen, dazu viel beschworene kommende Unruhen in Weißrussland. Die Reihe dieser Vorgänge ist nur im geopolitischen Rahmen zu verstehen, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem US-Anspruch auf Weltherrschaft.
Die Eindämmung der Sowjetunion war Hauptinhalt der US-Politik während des kalten Krieges – die Einkreisung und Minimierung Russlands als eurasische Hauptmacht ist das erklärte Ziel der US-Politik seit Auflösung der UdSSR. Nachzulesen ist das bei Zbigniew Brzezinski: „Die einzige Weltmacht“, Fischer, tb, 14358.
Ausgehend vom Zusammenbruch der Sowjetunion entwirft Brzezinski als Hauptaufgabe der „einzig verbliebenen Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den Euroasiatischen Kontinent. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine Grundthese. Erstmals werde Eurasien heute von einer außer-eurasischen Macht beherrscht, nämlich den USA. Eine „Hegemonie neuen Typs“ habe sich entwickelt, die auf der Überlegenheit der amerikanischen Kultur und der Überlegenheit der amerikanischen Machtentfaltung beruhe. Diese Hegemonie müsse jedoch durch Interventionen abgesichert werden, die geeignet seien, den „globalen Pluralismus“ zu fördern, um auf diese Weise „jedes Aufkommen eines Rivalen zu verhindern“.
Wichtigstes Objekt solcher Interventionen ist für Brzezinski das, was er das „Schwarze Loch“ Eurasiens nennt, nämlich Russland. Russland, so Brzezinski, müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln.
Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen:
– im Westen durch NATO- und EU-Erweiterung;
– im Osten durch einen Block aus Japan, Korea, Taiwan;
– im Süden, am Bauch Russlands, durch Eingriffe in das, was Brzezinski den „Eurasischen Balkan“ nennt: Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem Raum gelte es für Amerika, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern.
Der demokratischen und pluralistischen Floskeln entkleidet bedeutet diese neue Strategie nichts anderes als die systematische Anwendung des uralten imperialen Prinzips des Teile-und-Herrsche – jetzt allerdings tatsächlich erstmals in globalem Maßstabe.
Die Reihe der Interventionen auf dieser Linie reißt seitdem nicht ab: Kosovo, Afghanistan, Irak, NATO-Erweiterung über den gesamten Kaukasus bis nach Usbekistan, „Revolutionen“ in Aserbeidschan, Georgien, Ukraine, Aufrechterhaltung der koreanischen Spaltung. Diese Reihe lässt sich mühelos noch um einige Positionen verlängern.

Im Kern geht es um die Neuordnung der globalen Kräfteverhältnisse nach der Auflösung der früheren bi- (genauer tri-) polaren Ordnung, also einer Ordnung, in der eine erste („freie“) und eine zweite („nicht freie“, nämlich kommunistische) Welt sich die Herrschaft über eine dritte, die Welt der ehemaligen Kolonien, teilten.

Für die Neuordnung stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber:

– Die von China ausgehende Konzeption einer multipolaren Welt, die im Prinzip eine konföderative Aufteilung des eurasischen Blocks (UNO, OSZE und regionale Unionen nach dem Muster der Europäischen Union) vorsah und vorsieht. Diese Strategie wurde von den Chinesen Ende der 70er des zwanzigsten Jahrhunderts vorgebracht, von Gorbatschow, später von Jelzin, danach auch von Putin aufgegriffen. Sie ist, ungeachtet aller Anti-Terror-Allianzen und aller Differenzierungen durch die neuen russischen Militärdoktrinen, die bis heute gültige Orientierung russischer Außenpolitik.
– Die von den USA ausgehende Konzeption eines globalen Imperiums der „einzig verbliebenen Weltmacht“, welche die Ausbreitung einer uneingeschränkten Dominanz der USA und die systematische Niederhaltung möglicher Konkurrenten vorsieht. Diese Strategie wird, nachdem sie schon 1994 von Brzezinksi öffentlich formuliert war, heute von den Neo-Konservativen unter G.W. Bush verfolgt – allerdings in einer solchen Weise, die selbst einen Brzezinski noch fast als Taube erscheinen lassen könnte.

Die Anti-Terror-Allianz nach dem 11. 9. 2001, der auch Russland beitrat, überdeckte nur vordergründig und nur zeitweilig die real existierenden strategischen Differenzen, die sich aus der Neuordnung Euroasiens und der daran geknüpften globalen Neuordnung ergaben. Tatsächlich taktierte schon Jelzin, sehr viel geschickter dann aber Putin zwischen Osten und Westen. Das ist unter anderem daran erkennbar, dass westliche Politiker – die ihn als Westler nutzen wollen – immer wieder seine Treue zum Westen, sein Bekenntnis zur Demokratie vermissen und in dies letzter Zeit zunehmend aggressiv anmahnen.
Tatsächlich ist Putins Kurs, oft als konzeptloses Schwanken zwischen Ost- und West gedeutet, keineswegs so konzeptionslos, wie es scheint, sondern die einzig mögliche Position, die Russland zwischen Asien und Europa im globalen Kräfteringen um die Neuaufteilung, um die Neuordnung der Welt – mit Euroasien als dem gegenwärtigen Zentrum der Auseinandersetzung – einnehmen kann.

Entlang dieser von Putin vorgegebenen (und von russischen Nationalisten a la Alexander Dugin und anderen ins Neo-Imperiale und Mystische –Moskau als drittes Rom – verlängerten) Linie eines „starken Russland“, das als Integrationsknoten im Gesamtzusammenhang einer multipolaren Weltordnung stabilisiert und reorganisiert werden müsse, sind sehr differenzierte politische Signale zu erkennen:
– das ist die Öffnung Russlands für das Kyoto-Protokoll, für eine Stärkung der UNO, sein Auftreten gegen den Irak-Krieg, womit sich Russland globale Sympathien verschafft; auch im politischen Einflussbereich Bereich der EU.
– das ist die Wiederannäherung an die der GUS, die Annäherung an China, der Aufbau des Schanghaier-Bündnisses in Fernost, mit denen womit Russland seine östliche Flanke stärkt. Das schließt auch die Stationierung von Truppen mit ein. Das schafft Russland, versteht sich, schon weniger Sympathien im EU-Bereich.
– das ist das Bemühen um eine Restauration des früheren Einflussgebietes durch eine Wirtschafts- und Zoll-Union Russlands, der Ukraine, Weißrussland, Kasachstans und Moldawiens, mit der Russland der NATO-, ebenso wie der EU-Erweiterung, nicht zuletzt auch deren Erweiterung bis in die Türkei Grenzen setzt, bzw. zu setzen versucht. Das ist bereits eine Konfliktlinie mit der EU.

Dass alle drei Aspekte der Außenpolitik Russlands sich in Auseinandersetzung mit dem US-Anspruch der „einzigen Weltmacht“ bewegen, muss ich hier nicht weiter ausführen., denn alle diese Schritte sind auf die Gewinnung von Bündnispartnern im Rahmen einer multipolaren Orientierung gerichtet; aber es bleibt doch auch festzustellen, dass die US-Strategie der „einzigen Weltmacht“ einen Wladimir Putin auf den Plan brachte, der Gorbatschows und Jelzins Ent-Imperialisierung, Entmilitarisierung und Orientierung auf eine zivile Transformation – nolens volens – in eine Abwehr der amerikanischen Intervention(en) und in einen Kampf um die innere und äußere Restauration Russlands überführte, bzw. zu überführen im Begriffe ist.
Nolens volens – damit meine ich, dass Russlands historische Rolle als expansiver Imperialstaat objektiv ausgereizt ist. Mit dem Rückzug aus Afghanistan waren die Grenzen gesetzt. Die Notwendigkeit von Transformation und neuen Wegen intensiver Entwicklung ist für Russland an die Stelle von Expansion getreten. Die Seit 1991 stattfindende Einkreisung Russland durch die USA, NATO, die auf eine Minimierung des Landes, eine (von den USA bewusst und systematisch geschürte) pluralistische Zersplitterung, statt auf eine notwendige konföderative Neugestaltung des eurasischen Herzlandes hinausläuft, hat aber die Kräfte der Restauration mit dem Ziel der Rezentralisierung autoritärer Strukturen auf den Plan gerufen. Faktisch sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf dem besten – schlechtesten – Wege in eine neue Phase des kalten Krieges überzugehen, wenn die Hebel nicht gründlich umgelegt werden.

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In dieser strategischen Konstellation kommt dem Kaukasus eine Schlüsselstellung zu. Ich will hier nicht im Detail wiederholen, was unter dem Stichwort Wiederkehr des „Great Game“ dazu in den letzten Jahren bereits erarbeitet wurde – also, dass es im Kaukasus um die Ansicherung auf die kaspischen Ressourcen an Öl, Gas und andere Ressourcen geht.
Ich möchte jedoch auf die neuste Ausarbeitung zu diesen Fragen verweisen, nämlich auf die Zeitschrift OSTEUROPA 9/10, Oktober und September 2004. Dort wird neben dem, was Brzezinski den „Eurasischen Balkan“ nennt, eine „Strategische Ellipse“ beschrieben, auf die Europa seine volle Aufmerksamkeit richten müsse. Diese Ellipse wird von der arabischen Halbinsel über den Irak und Iran, in die kaspische und kaukasische Region bis nach Zentralrusslands hinein gezogen. Sie beschreibt die Gebiete mit den größten vorhandenen und vermuteten Vorräten an Öl, Gas und sonstigen Bodenschätzen auf dem Globus.
In OSTEUROPA sind auch die früheren und bisherigen Pipelines sowie deren Umleitungen vom bisher sowjetisch/russischen auf türkische Transportwege und Endhäfen bestens zu besichtigen. Nach einem Blick auf diese Karten ist klar, wovon Brzezinski redet und was Russland zurückzukämpfen versucht.

Aus Gründen der Aktualität möchte ich zudem darauf hinweisen, dass sich in dieser Ellipse nicht nur das klassische „Great Game“ zum x-ten male wiederholt, sondern dass neue Spieler zu einem Spiel mit neuen Regeln angetreten sind: Beteiligt sind jetzt: die entwickelten Industriestaaten der USA, der EU ebenso wie die kommenden Industrieriesen China, Indien, Iran, dazu die Türkei und Russland selbst.
Der Konflikt, der sich hier anbahnt, betrifft nicht nur die zukünftigen Zugriffe auf die noch verbliebenen fossilen Ressourcen der Welt in einem schärfer werdenden Konkurrenzkampf, sondern auch die Frage, mit welchen Mitteln dieser Konkurrenzkampf ausgetragen wird – ob nach den Gesetzen imperialer Ausbeutung durch den Stärksten oder durch kooperative Völkervereinbarungen entlang solcher Entwürfe wie dem Protokoll von Kyoto, Vereinbarungen über die globale Entwicklung erneuerbarer Energien usw.

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Innerhalb des Kaukasus wuchs dem tschetschenischen Konflikt eine Rolle zu, die sich besonders für Interventionen eignet. Die Gründe liegen in Tschetscheniens Charakter als mehrfacher Durchgangszone:
– Es ist Durchgangsgebiet für kaukasische Öl- und Gastransfers
– Es steht zwischen christlicher und islamischer Welt
– Es wurde nie endgültig kolonisiert; die von Stalin veranlasste Deportation der Tschetschenen ist noch in frischer Erinnerung
– Tschetschenien genoss vor Perestroika einen wirtschaftlichen Sonderstatus, der seine Bewohner zu privatem Handel berechtigte; in den Augen der sowjetischen Bevölkerung waren die Tschetschenen dadurch – darin in Russland oft mit den Juden verglichen – mit dem Vorurteil des Schacherns belastet, lange bevor sie sich durch ihre Forderung nach Souveränität unbeliebt machten.

Kurz: Tschetschenien war das schwächste Glied in der Länderkette des neuen Russland; der tschetschenische Konflikt wurde zum Stachel im Fleisch des ehemaligen russisch-sowjetischen Imperiums, der sich für dessen weitere Schwächung und verdeckte Zügelung geradezu anbot.

Von einer Unvermeidlichkeit des tschetschenischen Krieges zu sprechen oder zu behaupten, er sei insgesamt von außen gesteuert, wie das von russischen Offiziellen hin und wieder zu hören ist, trifft allerdings nicht die Realität. Die Auseinandersetzung begann mit der Auflösung der UdSSR als innerer Konflikt des neuen Russland, sie eskalierte in mehreren Phasen, von denen jede für sich – ungeachtet äußerer Interventionen – Möglichkeiten der Korrektur durch die russische Politik enthielt und auch jetzt enthält:

Es begann mit einem halbherzigen Versuch Jelzins nach der Unabhängigkeitserklärung vom 9.11.1991, der Loslösung Tschetscheniens sofort mit Gewalt entgegenzutreten. Er wurde von der Duma zurückgerufen. Zu frisch war noch die Geschichte seiner eigenen Machtübernahme, die auf dem Angebot an die „Subjekte“ der UdSSR beruht hatte, sich soviel Souveränität zu nehmen, wie sie bräuchten.

Im Dezember 1994, nach der Niederschlagung des „Sowjet-Aufstandes“ vom Herbst 1993, als er sich stark genug fühlte, erklärte Boris Jelzin der abtrünnigen Republik dann doch den Krieg: Auch dieser Versuch endete mit einer Niederlage der Zentralmacht, nicht zuletzt wegen schwerer Fehleinschätzungen der Lage durch die russische Armeeführung.
Ergebnis war eine um mehr als die Hälfte reduzierte Bevölkerung, ein in Trümmern gelegtes Grosny sowie anderer Städte und Dörfer, eine zerstörte Infrastruktur des Landes, ein kriminell-terroristisches gesellschaftliches Milieu, aus dem keine neue staatliche Ordnung, sondern der Rückfall auf archaische Formen der Selbsterhaltung und Selbstjustiz resultierte. Im Waffenstillstand von 1994 sagte die Moskauer zentrale Mittel zum Wiederaufbau des Landes zu, die aber ihre Adressaten niemals erreichten.
Stattdessen wurde Tschetschenien jetzt zum Umschlagplatz für die von der Transformation freigesetzten Abfallprodukte, für die aus der überhitzen Privatisierung resultierenden anti-sozialen und kriminellen Fliehkräfte. Der Kampf um Unabhängigkeit verwandelte sich in einen unkontrollierbaren Prozess der Desintegration und Gewalttätigkeit von allen Seiten – angefangen bei dem marodierenden und korrupten russischen Besatzer-Heer über klassische Guerilla zu purem Banditismus, Umschlagplatz der russisch-eurasischen Mafia, bis zum religiös fundierten Terrorismus.
1997 wurde der tschetschenische Präsident Dudajew von russischem Militär gezielt getötet. An seine Stelle trat Aslan Mashadow, den Moskau nicht als Nachfolger anerkannte. Tschetschenien wurde zum Symbol russischer Sprachlosigkeit und russischen Identitätsverlustes, zum Einfallstor für Fundamentalismus jeglicher Art.

Ende 1999 trat Wladimir Putin mit dem Versprechen an, diesen Prozess der Desintegration zu stoppen. Dafür legte er drei Grundlinien, für die er eine siebzigprozentige Zustimmung in der Bevölkerung bekam:
– Im September 1999 begann er den zweiten Krieg gegen den tschetschenischen Separatismus, indem er ihn als Banditismus aus dem bisherigen russischen Solidarverband exkommunizierte. Als Rechtfertigung diente der Überfall tschetschenischer Kämpfer auf Dagestan. Zugleich forderte er seine Unterordnung unter den russischen Staatsverband – eine Doppelbotschaft, die Chaos, Gesetzlosigkeit und Terror nur anheizen konnte.
– er restaurierte die vertikale Machtstruktur in Russland; Tschetschenien stellte er unter Militärkommando;
– er definierte Russland/Moskau (erneut) als Integrationsknoten zwischen Asien und Europa, das heißt, er setzte der Einkreisung Russlands durch die NATO- und durch die EU-Erweiterung eine Politik der Bündnisse nach Osten und Westen entgegen – wobei er sich gleichzeitig aus imperialen Verpflichtungen (Afghanistan, Irak uam.) herauszog.

Das Drama von Beslan im September 2004 zeigte endgültig, dass Putin sein Versprechen nicht einlösen konnte. Schon der Schauplatz des Dramas, ein Ort in Nord-Ossetien, nicht weit von der georgischen Grenze, signalisierte, dass der tschetschenische Konflikt die Grenzen Tschetscheniens inzwischen verlassen hat, ganz zu schweigen von den vorangegangenen Anschläge auf die Moskauer Metro und zwei Flugzeuge innerrussischer Fluglinien. Das Drama dokumentierte auch, dass es bei den Auseinandersetzungen nicht mehr allein, wenn überhaupt noch, um einen Kampf für Unabhängigkeit Tschetscheniens oder deren Verhinderung geht, sondern um den Versuch, einer allgemeinen Destabilisierung des Kaukasus im Namen einer nicht mehr zu definierenden Mischung unterschiedlichster Kräfte von einfachem Banditismus bis zu internationalen terroristischen Interventionen.
Anders gesagt, die Ereignisse zeigten, dass sich nach fünf Jahren Krieg, Besatzung, Folter und Vertreibung, wirtschaftlicher und sozialer Perspektiv- und Ausweglosigkeit der auf diese Weise provozierte Terror nicht nur selbst reproduziert, sondern im Begriffe ist, sich als Flächenbrand weit über die Grenzen Tschetscheniens hin auszubreiten und Russland in seiner Substanz zu schädigen, das heißt, in seinem pluralen Selbstverständnis zu schädigen, indem er seinerseits das Aufkommen eines chauvinistischen Rassismus auf alles „Nicht-Russische“ provoziert.

Die öffentlichen Bewertungen des Dramas von Beslan durch Politiker der USA, der EU und Russlands ließen darüber hinaus auch überraschende Einblicke in die strategischen Hintergründe des tschetschenischen Konfliktes zu:
Wladimir Putin sprach von fremden Mächten, „die sich beste Filetstücke aus uns herausschneiden wollen“. Viele Beobachter/innen wollten das als Hinweis auf Bin Laden und Al Kaida verstehen – ich sehe darin eine klare Anspielung auf Brzezinkis Formulierung der Filetstücke, die sich die USA auf dem „Eurasischen Balkan“ und im Kaukasus sichern müsse. Wer dies zurückweist, möge sich klar machen, dass Brzezinski heute als Chef des US-„Komitees für den Frieden in Tschetschenien“ fungiert, das unter der Vorgabe, den tschetschenischen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit zu unterstützen, offensiv in russische Innenpolitik eingreift.
In diesem Zusammenhang ist es wohl auch angebracht, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Weise Brzezinki sich für die Rolle rühmt, die er seinerzeit als Sicherheitsberater US-Präsident Carters dabei spielte, die Sowjets in Afghanistan in die Falle des Djihads zu locken: (Le Nouvel Observateur, Paris, Januar 1998)

Gefragt, ob die US-Hilfe für die Mujaheddin-Opposition 1979 auf eine bewusste Provokation eines sowjetischen Einmarsches nach Afghanistan gezielt habe, antwortet Brzezinski:

„Nicht ganz. Wir haben sie nicht dazu getrieben zu intervenieren, aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie es tun würden.“

Auf die Frage, ob er das heute bedauere, antwortet er:

„Bedauern? Was? Diese geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hatte den Effekt, die Sowjets in die afghanische Falle zu ziehen und Sie schlagen vor, das zu bedauern? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überquerten, schrieb ich an Präsident Carter: Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu geben. In der Tat, für fast zehn Jahre, musste Moskau einen von der Regierung nicht tragbaren Krieg führen, einen Konflikt, der die Demoralisierung und den endgültigen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums mit sich brachte.“

Jetzt rennt Russland, wenn aus US-Sicht alles gut läuft, zum zweiten mal in die Djihad Falle, denn dies kann man nicht deutlich genug herausheben: Die Russen sind von der Kriegserklärung gegen den Terrorismus – was ja in Wirklichkeit nichts anderes ist als Krieg gegen den militanten Islam – um ein unvergleichlich Vielfaches mehr betroffen als die US-Amerikaner: Zu Russland gehört nicht nur der muslimische Kaukasus, zu Russland gehören auch muslimische Republiken in Zentralrussland. Insgesamt rund 25 Millionen Menschen, 17% der Bevölkerung der russischen Föderation sind Muslime, bzw. Menschen, die im muslimischen Traditonsstrom leben und sich nach dem Zerfall dessowjetischen Weltbildes nun neu am Islamorientieren, ganz zu schweigen von den muslimischen Nachbarstaaten der ehemaligen Sowjetunion: Afghanistan, Irak, Iran, Türkei.
Klar gesagt: Russland kann keinerlei Interesse an einer irgendwie gearteten Eskalation seiner Vielvölker-Kultur zu einem anti-teroristischen Kulturkampf haben! Dieser Kulturkampf ist ein unerwünschter Import aus den USA, der den inneren Zusammenhalt der pluralen Gesellschaft Russlands zu sprengen droht. Dies wird u.a. an der bemerkenswerten Tatsache deutlich – die zwar für westliche Vorstellungen, aber für Russland kein Wunder ist – dass es gerade die russischen Nationalisten sind, welche die stärkste Agitation gegen anti-muslimische Propaganda entfalten und stattdessen zu einer gemeinsamen Front euroasiatischer Muslime und Christen gegen Amerika aufrufen. In dieser von den USA sehr verschiedenen Situation Russlands gegenüber dem Islam liegt eine der tiefsten Ursache für die Differenzen zwischen den USA und Russland.

Schließlich kamen nach dem Drama von Beslan auch von westlicher Seite Bewertungen, die eindeutige Interessenlagen hinter den Ereignissen erkennen lassen: Ich spreche von dem „Offenen Brief“, mit dem „Persönlichkeiten des öffentlichen“ Lebens sich nach den Ereignissen, konkret nach den Ankündigungen Putins, nunmehr mit größerer Geschlossenheit gegen die Bedrohung des Terrorismus und seine Unterstützer in und außerhalb Russlands vorgehen zu wollen, mit Vorwürfen und in einer Tonlage gegen Putin wandten, die an Zeiten des kalten Krieges erinnert. Man klagt Putin als Diktator an, der die demokratischen Werte verrate, während der Westen überall auf der Welt für Demokratie interveniere und wandte sich an die NATO und die EU mit der Aufforderung, ihre bisherige Politik mit Russland zu überprüfen.
Bei Durchsicht der Unterschriftenliste stellt sich heraus, dass die Unterzeichner bis auf wenige Ausnahmen aus den Reihen der aktivsten Neo-konservativen Lobbyisten der USA stammen, von denen auch die initiative für den „offenen Brief“ ausging; nicht wenige von ihnen finden sich auch als Mitglieder im „Komitee für Frieden in Tschetschenien“ wieder.
Auch namhafte Personen aus dem EU-Raum unterschrieben – u.a. der Grünen-Chef Bütikofer, was darauf verweist, dass auch von Seiten der EU ein neuer Wind auf dem Ost-West Felde aufzieht.

Ich will hier nicht in eine Analyse der putinschen Restauration einsteigen. Soviel aber muß gesagt werden: Die aus dem Westen nach Beslan erhobenen Vorwürfe einer Diktatur halten der Realität nicht stand: Zweifellos betreibt Putin einen Kurs der autoritären Modernisierung, der weit entfernt davon ist, westlichen Standards von Demokratie zu entsprechen. Die jüngsten Maßnahmen – Ernennung der Gouverneure, Stärkung der Geheimdienste, Zentralisierung des Parteiwesens, Kontrolle der NGOs und Basisinitiativen – zeigen aber eher die tatsächliche Schwäche des von Putin gewollten „starken Staates“ und laufen eher auf eine Eskalation der Schwäche hinaus, als auf eine Diktatur Putins. Es ist ja nach wie vor eine Tatsache, dass die von der Moskauer Zentrale beschlossenen gesetze und Verordnungen vor Ort nur sehr partiell wirksam werden. Das heißt, die Frage ist nicht, ob Putin ein Diktator ist, sondern was geschieht, wenn Putin seine Option, den starken Staat mit einer liberalen Gesellschaftsverfassung verbinden zu wollen, nicht durchsetzen kann? Eine neuerliche Verteufelung der russischen Verhältnisse als Diktatur ist mit Sicherheit keine Hilfe für die liberale Seite dieser Option, erst recht nicht, wenn dabei die Einführung militärischer Interventionen im Irak und anderswo und die Einführung des präventiven Sicherheitsstaates im eigenen Land als Kampf für die Demokratie herausposaunt wird.

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Aktuellster Ausdruck dieser Entwicklung ist die Wahlkrise in der Ukraine. Westliche Politiker und Medien schreien laut: Demokratie in Gefahr! Im Kern geht es darum, Russland zurückzudrängen. „Russland ohne die Ukraine ist kein Imperium mehr“, schrieb Brzezinski bereits 1994. Die Gefahr einer Spaltung des Landes, das heißt der weiteren Fragmentierung des Krisengebietes zwischen Russland und der EU wird dabei von der Mehrheit der westlichen Kritiker in Kauf genommen. Generell lässt sich sagen: Eine Art neuer Stellvertreterkrieg – in Gestalt örtlicher „Revolutionen“ hat sich am Bauch Russlands und seiner westlichen Front entwickelt: Aserbeidschan, Georgien, Ukraine, tendenziell Weißrussland. Die Rollen sind klar verteilt: Die USA interveniert und pluralisiert, die EU assistiert und moderiert aus dem Hintergrund: Russland versucht zu stabilisieren. Begriffe wie „Pluralität“, „Demokratie“ oder „Revolution“ werden dabei fadenscheinig und verkehren sich ins Gegenteil. Paradox formuliert: Die USA „pluralisieren“ und destabilisieren im Interesse einer unipolaren, Russland zentralisiert im Interesse einer pluralen, multipolaren Ordnung. Eine verkehrte Welt könnte man das nennen, deren Verkehrtheit beweist, dass nicht nur die globalen Machtverhältnisse, sondern in viel größerem Maße noch unsere Begriffe einer dringenden Neuordnung bedürfen, wenn wir nicht – wieder einmal – in Orwellscher Sprachverwirrung enden wollen.
Um die Lösung der örtlichen historisch gewachsenen, ethnischen oder wirtschaftlichen Probleme geht es jedenfalls, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie. Der tschetschenische Krieg, möchte ich behaupten, wird überhaupt nur noch aus der strategischen Konfliktlage heraus geführt: Wo Russland zurückweicht, ziehen morgen die Ausbilder der NATO ein. Die örtliche Bevölkerung ist an diesem „Spiel“ nur noch als Opfer beteiligt, nicht mehr als handelndes Subjekt mit eigenen Zielen. Die große Mehrheit der noch lebenden Bevölkerung versucht, irgendwie ihr Überleben zu organisieren oder in der Diaspora den Krieg und die Vertreibung zu überdauern. Das wird solange so bleiben, wie die strategischen Interessen in dem Raum nicht entschieden sind und das ist solange nicht der Fall, wie die letzten Entscheidungen über die Pipelineführung noch nicht gefallen sind.
Ungeachtet des Überlebensdrucks, der von der Bevölkerung ausgeht, ungeachtet auch des Existenzdruckes einzelner der auf dem Kaukasus entstandenen neuen Staaten, selbst unabhängig von den Wünschen der USA oder EU, dürfte die entscheidende Frage sein, wie lange Russland diese Entwicklung weiter durchhalten kann – und will. Objektiv ist die Situation herangereift, der Einkreisung, dem „revolutionären“ Zündeln der „einzigen Weltmacht“ und ihrer Parteigänger Einhalt zu gebieten, zumal auch US- und EU-Interesse nicht mehr voll identisch sind, sich vielmehr die Notwendigkeit ergibt, Möglichkeiten der besonderen Kooperation zwischen Russland und der EU zu entwickeln. Weder Russland noch die EU kann an einer neuen Teilung Euroasiens interessiert sein – dieses mal vielleicht quer durch die Ukraine und den Kaukasus. Russland wie auch die EU muss handeln. Interessanterweise signalisiert der Konflikt um die Ukraine neben der Zündelei der „demokratischen Revolutionäre“ auch das Bemühen, die Entwicklung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen; langfristig angelegte Perspektiven einer für alle Seiten annehmbaren Lösung werden jedoch bisher nicht erkennbar.

Damit kommen wir zur Frage der Alternativen: Kritiker des US-Kurses wie der Britische Journalist John Laughland schlagen den Russen einen radikalen Schritt vor, nämlich, ihren ÖL-Handel von Dollar auf Euro-Basis umzustellen. „Das würde“, so Laughland, „eine massive geopolitische Verschiebung auslösen, da die gegenwärtige Funktionsweise des internationalen Finanzsystems mit der starken Bevorzugung des Dollars durch die Bindung an den Ölhandel eine der elementarsten Machtressourcen der USA darstellt.“ (aus der Online-Zeitung „Eurasisches Magazin“, 11/04) Der Gedanke klingt plausibel. Ein solcher Schritt – im Alleingang von Russland unternommen – könnte jedoch katastrophale Reaktionen der USA auslösen. Ruhe zu halten ist geboten! Einziger Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse der unipolaren „Revolutionsstrategie“ der USA dürfte daher in einer reformierten, das heißt, einer auf die reale Vielfalt der heutigen Völkergemeinschaft begründeten UN liegen, die einen solchen Schritt, wenn er denn versucht würde, absichern könnte, um damit jenen pluralen Rahmen zu schaffen, von dem die USA-Strategen nur reden, während sie die Pluralisierung real benutzen, um ihr unipolares Interesse durchzusetzen, aber selbst ein solches Vorgehen, das steht zu befürchten, käme noch einem Ritt über den Bodensee gleich.
Vorzuziehen wäre natürlich eine Vorleistung Moskaus im Sinne seiner prinzipiellen multipolaren Orientierung, etwa die Einleitung von Gesprächen mit allen kaukasischen Beteiligten, einschließlich verschiedener Vertreter Tschetscheniens, des russischen wie des aufständischen, und der unmittelbaren Anrainer des Kaukasus. Anzuknüpfen wäre an Vorstellungen einer kaukasischen Könföderation, die nach dem zerfall der Sowjetunion im kaukasischen Raum entstanden. Die Möglichkeit für einen solchen Schritt Moskaus und die Bereitschaft zu einem solchen kaukasischen Kofliktmanagment sinken jedoch mit jedem „Offenen Brief“ und mit jeder „revolutionären“ Intervention der Art wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Anders gesagt: Die Hebel der Ost-Politik und damit der gesamten außenpolitischen Orientierung müssen in der Tat herumgerissen werden, aber nicht in Richtung verstärkter Interventionen, wie der „Offene Brief“ es fordert, sondern in Richtung einer Ersetzung des westlichen Interventionismus durch eine tatsächlich demokratische, das heißt pluralistisch und multipolar orientierte globale Kooperation. Das dies an die Entwicklung einer Utopie grenzt, muss ich nicht weiter ausführen, aber letztlich, das wissen wir alle, kommt die Kraft zum Handeln eben gerade aus der Utopie.

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Um nicht in Hoffnungslosigkeit zu enden, möchte ich zum Schluss noch auf eine Erkenntnis hinweisen, die neuerdings von Astronomen vorgebracht wird, die sich auf die Erforschung von „Schwarzen Löchern“ spezialisiert haben: Sie beobachteten nämlich, dass Schwarze Löcher nicht nur Energie schlucken, sondern zugleich die Geburtsstätten neuer Sterne und ganzer Universen sind. Man kann nicht darauf warten, sich nicht einfach darauf verlassen, aber diese Erkenntnis rückt doch zumindest die geschichtliche Dialektik wieder zurecht. Deswegen habe ich einen weiteren Text unter die Überschrift „Russland – vom schwarzen Loch zum Entwicklungsland neuen Typs“ gestellt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der Text basiert auf einem Vortrag beim Friedensratschlag in Kassel am 4./5.12.2004

Aktuelle Veröffentlichungen des Autors zum Thema sind:
1.· „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

2. · „Wofür steht Russland? Wohin geht es? – Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk?
Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands. Modelle einer anderen Modernisierung. Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland. – Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme vom Sommer 2004 in der Reihe „Themenhefte“, Nr. 15/16, September 2004, zu beziehen über den Autor: info@kai-ehlers.de

3. · Im Februar 2005 erscheint der Dialogband: „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“, im Verlag Entwürfe Pforte