Streiflichter an der Wolga

Take 1: Gennadij und Rima singen (take 1)

Regie:
O-Ton ein paar Takte klar stehen lassen, dann runterziehen und dem Erzähler unterlegen.

Erzähler:     Zu Gast bei Gennadij Kolzow und seiner Frau Rima in

Tingowatowa. Das Dorf Tingowatowa gehört zum Einzugsbereich der Sowchose Imbjurtowo im Bezirk Zivilski. Wir sind im westlichen Teil der tschuwaschischen Republik. Ein Fußmarsch von gut zwei Stunden durch ein hügeliges Mischwaldgelände führt an die Wolga. Im Garten bin ich auf den Stumpf einer der mächtigen Weiden gestoßen, die hier als heilige Bäume verehrt werden. Auch die Stümpfe werden nicht angerührt.
Im Haus, einem Holzbau im Blockstil, ist alles, wie die Großeltern es noch vor der großen Kollektivisierung in den dreißiger Jahren angelegt hatten: Ein Raum, durch einen Vorhang unterteilt, mitten darin der mächtige Petschka, Kaminofen.
Gennadij wurde hier geboren, ist aber erst vor ein paar Jahren hierher gezogen. Gennadij ist Liedermacher. Seine Lieder werden im tschuwaschischen Radio gesendet. Rima ist ebenfalls Musikerin. Sie kommt aus der Stadt. Jetzt leiten sie gemeinsam die Kulturarbeit in Tingowatowa. Rima ist Direktorin des Kulturhauses, Gennadi der musikalische Leiter. „Sie ist der Chef“, lacht er und sie blinzelt ihm fröhlich zu. „Das Kulturhaus ist der einzige Ort weit und breit, wo die Menschen sich nach der Arbeit erholen können. Sogar aus den Nachbarorten kommen sie“, erklärt Rima. Gennadij gibt außerdem Musikunterricht in der Dorfschule von Tingowatowa und im Nachbarort Schordauschi. Einmal in der Woche vier Stunden.
Gennadij und Rima sind zwei von vielen, die ich getroffen habe. Moderne „Narodowolzen“, Volkstümler, wie sie auch vor der Revolution von den Städten aufs Land zogen, um das Volk zu unterrichten. Wiedergeburt der Kultur, besonders aber der tschuwaschischen Kultur ist ihr Anliegen.
Wir üben tschuwaschische Lieder, sagt Gennadij, aber nicht nur, auch russische und ausländische.

take 2: Kolchose Jangartschina, Raissa rezitiert (take 2)

Regie: Nach Kurzem anfahren zurückblenden (evtl. noch verblenden mit take 3 des Vorspielbandes)

Erzähler:  Kolchose Jangartschina. Mitglieder des  „tschuwaschischen Kulturzentrums“ und der Organisation „Wiedergeburt“ treten im großen Kultursaal auf. Raissa Sarbi, Poetessa, wie es hier heißt, zugleich Herausgeberin einer tschuwaschischen Frauen- und einer Kinderzeitung, rezitiert aus eigenen Gedichten. Außer den Kindern der Kolchoseigenen Schule hat sich niemand durch Regen und Matsch hergetraut. Außerdem ist es mitten am Tag. Man hat zu tun. Die Kinder aber lauschen andächtig.
Raissa versteht sich als Übersetzerin kosmischer Botschaften, die ihrem Volk in der schwierigen Stunde des Zerfalls der Union zeigen, woher es kommt und wohin es gehen müsse.
Raissa versteht sich und ihr Volk als Nachkommen der Amazonen. Die traditionelle Kopfbedeckung, im Tschuwaschischen „AMA“, der unverheirateten Frauen, die sich neben ihre Perlennornamenten durch die zum  Himmel weisende Spitze auszeichnet, sei ein Überbleibsel der kriegerischen Kopfbedeckung. Raissa belegt das mit etymologischen Ableitungen, in denen sie zugleich Verbindungen ins altertümliche Mesopotamien zieht. Von dort seien die Tschuwaschen einst aufgebrochen. Von dort hätten sie auch ihre Religion, den Zoroastrismus, die Sonnenreligion mitgebracht. „Die Tschuwaschen haben eine matriarchalische Tradition“, erklärt sie mir. In der ehrfurchtsvollen Anrede der Alten etwa, zum Beispiel in der Erzählung alter Geschichten, werde im Tschuwaschischen im Gegensatz zum Russischen bis heute immer noch zuerst die „Staruschka“, die Alte und dann der Alte genannt. Erst die Christianisierung durch die Russen im sechzehnten Jahrhundert habe diese matriarchalische Kultur zerstört. Raissa ist aber überzeugt davon, dass die Frauen besser verstehen, was die Welt heute braucht: Liebe, Pflege, ökologisch orientierte Verantwortung für die kommende Generation. „Sie sind Mütter“, sagt sie, „sie wissen, worum es geht.“

take 3: Valentin Tusendik deklamiert (take 5)

Regie: Voll anlaufen lassen, dann runterblenden.

Erzähler: Ehemaliges Verlagshaus der kommunistischen Partei in Tscheboksary, der Hauptstadt der Tschuwaschischen Republik. Es spricht Valentin Tusendik, ein verknitterter, halb bäurisch, halb vagabundisch wirkender Mann, zur Hälfte Tschuwasche, zur anderen Hälfte Tatare, wie er sagt. Valentin hat mich gebeten, mir als Mitglied der noch nicht existierenden Akademie der Wissenschaften der noch zu gründenden Wolga-Ural Republik ein Pamphlet für deren Gründung auf Band lesen zu dürfen.

Übersetzer:   „Wir Leute am Ende des 20. Jahrhunderts hier in der Wolga-Ural-Region auf dieser Erde im Sonnensystem der galaktischen Spirale befinden uns im Zentrum der Welt, auf dem Kontinent Euro-Asien, in der Mitte zwischen Osten und Westen, die man das „Kleine Europa“ oder das „Kleine Asien“ nennen kann.“ Hier treffen sich zwei slawische Kulturen, die türkische und die finnisch-ugrische; hier  treffen sich die drei Hauptreligionen der Menschheit: Christentum, Islam und Buddhismus, außerdem Atheismus und Heidentum, das sich, gemessen an den erschreckenden Auseinandersetzungen anderer Nationen seit, über zweihundert Jahren ohne Konflikte und Exzesse assimiliert. Deshalb ist für die menschliche Gesellschaft nur hier echte Demokratie möglich. Voraussetzung dafür ist eine Bevölkerung vom Typ der großen bulgarischen Zivilisation mit einer Geschichte der Amazonen und Vertretern wie Lenin, außerdem ein besonderes Klima und Wetter. Winter und Sommer, Herbst und Frühling sind hier gleich lang, das heißt wir haben die ruhigste, die engste Beziehung von allen zur Erde, philosophisch gesprochen.
Unsere Seele lebt zwischen West und Ost, zwischen slawischer und türkischer Kultur. Das muss alles richtig zusammengeführt werden. Dafür braucht man einen eigenen Staat, eine unabhängige Region, die aufs neue entsteht aus Tschuwaschien, Utmurtien, Tatarstan, Mari, Baschkiry, dem Orienburger, dem Uljanoswker und dem Samnarski-Bezirk. Der Name soll sein: `Föderative Republik Bulgarien‘ `kleines Europa‘ oder `kleines Asien‘, ein Kontinent zwischen den Flüssen.“

Erzähler  Valentin wohnt in der Hauptstadt der Nachbarrepublik Kasan, ist aber ständig auf Achse, in den neu entstandenen Kulturzentren der Völkerschaften an der Wolga für seine Vorstellung zu agitieren – in den autonomen Republiken der Tschuwaschen, der Utmurten, der Baschkiren, der Marisken und der Moldawzen sowie der Tataren, außerdem in den angrenzenden einfachen Verwaltungsbezirken, in denen noch große Sprengsel dieser Völkerschaften leben. Seine Vorstellungen kommen verschroben daher. Sie haben jedoch ihren historischen Kern.

Kommentator:  Im Jahre 451 endete der Hunnensturm mit der Niederlage Attilas auf den katalaunischen Feldern. Reste der hunnischen Scharen zogen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründeten sie, vermischt mit anderen Völkerschaften, das bulgarische Reich, das Ende des siebten Jahrhunderts seine größte Blüte erlebte. Aber der Raum blieb unruhig, immer neue Völkerschaften strömten aus den Steppen in die fruchtbaren Gebiete zwischen Wolga, Don und Dnepr, das Herz des heutigen Russland. Die Chazaren, die sich an der unteren Wolga festgesetzt hatten, zerschlugen das erste bulgarische Reich. Danach gründete ein Teil der Bolgaren das Donabulgarische, ein anderer das Wolgabulgarische Reich. Hauptstadt des Wolgabulgarischen wurde Bulgar. Erst der nächste Völkersturm, nämlich die Züge der Mongolen im dreizehnten Jahrhundert vernichteten auch Bulgarstan. In den revolutionären Kämpfen der zwanziger Jahre erlebten die Vorstellungen einer Wolga-Ural-Republik eine neue Blüte, wurden aber dann von den Bolschewiki beiseite geschoben, von Stalin dann endgültig als nationalistisch unterdrückt.

Erzähler: Drei Stunden weiter stromabwärts in Kasan. Mir gegenüber sitzt Damir Isxakow, Ethnologe in Kasan, Mitglied des „tatarischen kulturellen Zentrums“.

take 4:  Kasaner Ethnonolge spricht (take 6)

Regie: O-Ton anlaufen lassen, dann runterblenden.

Übersetzer: Also, ehrlich, glaube ich, dass jede Nation, gleich welche, in erster Linie eine Vereinigung im höheren Sinne ist, nicht in staatlichen Grenzen. Das ist Kultur, Sprache und ethnisches Selbstbewusstsein. In diesem Sinne existiert die tatarische Nation ziemlich lange. Wie viele andere Nationen hat sich auch die tatarische aus verschiedenen ethnischen Gruppen gebildet. Da kann man vor allem drei nennen: die Wolgataren hier, die sibirischen Tataren und die Astrachan Tataren. Das sind die Bevölkerungen früherer tatarischer Khanate. Sie unterscheiden sich voneinander, aber nicht sehr stark. Die Unterschiede liegen, sagen wir, auf dem Niveau unterschiedlicher Dialekte.

Erzähler: Der Glaube steht auch in Kasan an erster Stelle. Auch der Wissenschaftler möchte verlorene Zusammenhänge wiederherstellen. Diesmal geht es jedoch nicht von um die Zeit nach dem ersten, sondern nach dem zweiten großen Völkersturm, der Zeit der Mongolenreiche.

Kommentator:   Mehr als zwei Jahrhunderte stand Euroasien unter mongolischer Herrschaft. Mit Beginn des 12. Jahrhunderts machten sich die mongolisch, türkisch, tatarischen Steppenvölker unter ihrem Führer Dschingis Khan zur Eroberung der Weltherrschaft auf. Zwei Generationen später waren die nördlichen Teile Chinas, der Iran, die arabische Welt, das erste russische Reich, die Kiewer Rus, und Südeuropa unterworfen. Im Übergang zum Nordrussischen und nordeuropäischen Raum hörten die Kämpfe nicht auf. In ihnen bildete sich Moskau im Verlauf des vierzehnten Jahrhunderts Schritt für Schritt als neues russisches Machtzentrum heraus, das die Teil-Khanate nach und nach unterwarf. Einige Gebiete wurden dabei christianisiert, andere wie Kasan nach seiner Eroberung Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als muselmanischer Fremdkörper insgesamt einverleibt und im Lauf der Jahrhunderte von oben her russifiziert. Die Dörfer blieben dabei, wie übrigens auch in Tschuwaschien, weitgehend unberührt in ihrer traditionellen Kultur. So wie dort Tschuwaschisch ist hier Tatarisch die Sprache des Dorfes.

Erzähler:     Dies ist der Hintergrund, vor dem Damir Isxakow dann von der tatarischen Diaspora spricht. Sie sei die größte nach der jüdischen. Scharf grenzt er sich aber von Vorstellungen ab, alle Tataren in einem Nationalstaat zusammenzuführen. Man könne die Tatarische Republik nur dazu benutzen, den in der Welt verstreuten Tataren einen kulturellen Bezugspunkt zu schaffen. Auch eine Wolga-Ural-Republik hält er nicht für möglich. Zu unterschiedlich seien die Völker und zu unterschiedlich deren Geschichte, um in einem einzigen Staat zusammengefasst zu werden.

take 5: Alltschuwaschischer Kongress (take 10)

Regie: Anlaufen lassen bis zur Musik. Musik dann unterlegt stehen lassen.

Erzähler: Wieder Tscheboksary, Oktober 1992, all-tschuwaschischer Kongress. Aus allen Teilen der früheren Union, Russlands und auch aus westlichen Ländern sind Delegierte gekommen. Hier bekommen die vielen unterschiedlichen kulturellen Rinnsale ihre politische Richtung. Das klingt dann schon wesentlich schärfer.

take 6:   Atner Chusangai  (take 11)
Regie:  O-Ton anfahren, dann unterlegt halten. Darauf Übersetzer.
Übersetzer:   „Das System muss anders werden, das Budgetsystem, das Steuersystem, nicht so wie jetzt, nicht so zentralisiert. Das heißt, wir selbst müssen von unten, – nun bestimmte Vollmachten sind wir ja bereit der russischen Föderation zu geben, bitte sehr – aber wir sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das, das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist euers; das ist unsers usw. Aber sie kennen unsere Situation hier nicht. Es muss umgekehrt sein: Das ist euer, das fassen wir nicht an. Das müssen sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der Militärindustrie: Das ist euers, aber das da ist unsers, unsers, unsers. Diese Politik gibt es zurzeit bedauerlicherweise nicht. Das heißt, es muss eine härtere, unbeugsamere Position für die Realisierung des Schutzes unserer Souveränität der Republik her. Diese Position gibt es zurzeit leider nicht.“

Erzähler: Bei Micha Juchma erlebe ich die letzte Überraschung: Er ist nicht nur tschuwaschischer Nationaldichter und Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“. Er ist auch der zweite Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“. Zusammen mit Raissa Sarbi bereitete er sich vor, an der dritten Konferenz der türkisch-sprachigen Völker in Baku teilzunehmen. Rund zwanzig Völker der ehemaligen Sowjetunion zählte er mir als potentielle Teilnehmer über die des Wolgaraums hinaus auf, dazu noch die Türken, die Aserbeidschaner, Afghaner, Iraner… Über die turkstämmigen Völker, erklärte er mir, sei auch die erste mit der zweiten Völkerwanderung verkoppelt: Turkstämmige Völker hätten sich in vorchristlicher zeit vom Zweistromland über Persien nach Nordosten bis zum Altai und die sibirische Südebene hin ausgebreitet. Als Hunnen seien sie selbst, unter mongolischer Führerschaft im dreizehnten Jahrhundert dann als Teil des mongolischen Heeres nach Westen gezogen. So komme es denn auch, lächelt Micha Juchma, dass er sich nicht nur als Nachkomme der Hunnen, sondern auch als Nachkomme Zaratustras betrachte – der Name seines Clans und der Zaratustras stimmten überein – während er die Tataren eher als feindliche Geschwister empfinde.

Micha Juchna lud mich ein, mich der tschuwaschischen Delegation als Dritter anzuschließen. Aber die reise erwies sich als Rechnung ohne die neue Realität! Schon war unsere Abreise vom Republikfernsehen für die Abendnachrichten aufgenommen, da sagte „aeroflot“, die immer noch das Flugmonopol im ehemaligen sowjetischen Raum hat, den Flug ab: Flüge nach Baku gälten nicht mehr wie bisher als Inlandsflüge. Für diese Linie könne man nur noch zentral von Moskau aus buchen. Mit dem Zug war die Konferenz nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.
So lud Micha Juchma mich stattdessen zu sich nach Hause ein, wo er mir bei tschuwaschischer Kräutersuppe und Tee auf die Frage, ob er nicht nur eine tschuwaschische, sondern eine pantürkische Widergeburt für möglich halte, erklärte:

take 7: Micha Juchma spricht (take 9)

Regie: O-Ton anfahren, dann schnell runterziehen und wegblenden.

Übersetzer:   „Möglich! Möglich durch kulturelle Vereinigung,  durch Kulturbewegungen, durch gegenseitige Hilfeleistung. Wenn Russland selbst in Zukunft bei der Widergeburt der türkischen Völker nicht hilft, dann werden sie sich an andere Länder wenden, Aserbeidschan, Türkei und noch andere. Deshalb wäre es für Russland jetzt wichtig, mehr Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu richten. Aber Russland trifft bis jetzt keine Entscheidung in der nationalen Frage. Das russische Volk begreift bis jetzt nicht, wie riesig die türkische Welt ist und wie groß ihre Möglichkeiten – und wie groß auch Gefahren sind: Im Kaukasus – türkische Völker. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan: Ein Konflikt mit der türkischen Welt.“

Erzähler: Hört man dann noch, dass Micha Juchma als zweiter Vorsitzender der Organisation türkischer Völker von islamischen Fundamentalisten umworben wird, den Islamischen Fundamentalismus aber ablehnt, hört man, wie er erschreckt aserbeidschanische Fundamentalisten mit dem Ruf „Tötet alle Christen“ zitiert, dann erkennt man, wie sich hier Geschichte im Dreieck zwischen Pantürkismus, Panslawismus und Panislamismus vor unseren Augen in Zukunft verwandelt.

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