Jenseits von Moskau – Rußlands Türken

In Moskau stehen die Zeichen auf Sturm. Boris Jelzin kämpft um das politische Überleben. In einem Referendum soll die Bevölkerung nun über die Fortsetzung seiner Politik entscheiden. Der Ausgang ist ungewiß. Im Unionsrat, dem Gremium der Republik-und Provinzchefs, findet die Politik Boris Jelzins nur noch halbherzige Unterstützung. Aus der Republik Tatarstan verlautete gar, man werde ein Referendum auf keinen Fall mittragen. Nachdem die frühere Sowjetunion sich bereits zur G.U.S. wandelte, zeichnen sich weitere Teilungen innerhalb der russischen Föderation ab.

Generell für die Regie: Wenn nicht anders angegeben, gilt für die takes: Sechs Sekunden stehen lassen, dann abblenden und als Athmosphäre unterlegt weiterlaufen lassen. Wo takes unterlegt laufen, habe ich das Ende jeweils benannt. Wo der unterlegte Ton nicht nur Athmosphäre ist, sondern den Text belegt, habe ich es ebenfalls gesondert angegeben.       Bei Zitaten habe ich mich bemüht, Länge des O-Tons und der Übersetzung abzustimmen.

take 1:Kasan, Büro des „ToZ“  (1,11)
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen. Mit dem Text wegblenden.

Erzähler:   Kasan, Hauptstadt von Tatarstan, einer der sechs             autonomen Republiken an der mittleren Wolga. Hochbetrieb im Büro des „tatarischen gesellschaftlichen Zentrums“, kurz „TOZ“. Von sieben Millonen Tataren der russischen Föderation leben etwa zwei Millionen in diesem Gebiet. Mit 48 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung sind sie hier fast gleichstark mit den Russen, die 47 Prozent der Bevölkerung stellen. Die übrigen fünf Prozent gehören den Völkern der umliegenden Republiken an: Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mordawier und Marisken. Bis auf die Marisken, die finnisch-ugrischen Ursprungs sind, sind alle anderen turkstämmige Völkerschaften.
Freundlich wird der ausländische Journalist begrüßt. Gern nimmt man die Gelegenheit wahr, die friedlichen Absichten der tatarischen Unabhängigkeitsbewegung zu bekräftigen.

Regie O-Ton bei Stichwort „prijechal Trawkin…“ kurz hochziehen, dann wieder abblenden und dem Erzähler-Text weiter unterlegen. Mit dem Text wegblenden.

Erzähler:   Trawkin, eine der leitenden Männer der heutigen             Opposition gegen Boris Jelzin, sei 1990 ais Moskau nach Kasan gekommen, erzählt der Mann empört. Auf dem „Platz der Freiheit“ habe Trawkin eine Versammlung durchgeführt. Gleich auf der Straße habe er eine Partei organisiert. Dann habe er seinen Auftritt gehabt! So gehe das doch nicht! Was Trawkin wolle? Faschismus! „Er propagiert die Idee eines großen Rußland“, ergänzt der andere Mann. „Das Imperium.“ Obwohl doch alle sehen könnten, daß es zerfalle, wie vorher die Sowjetunion zerfallen sei. Die sei ja ohnehin nur die geschönte Fortsetzung des alten Imperiums gewesen, obwohl die Bolschewiki das Gegenteil behauptet hätten.
Die einheimische Opposition habe man bei dem „Miting“ nicht zu Wort kommen lassen. Die Russen seien einfach nicht bereit, ein souveränes Tatarstan zu akzeptieren,

Erzähler:   Vizepräsident Raschit Jegefarow erläutert mir die             Ziele des Zentrums. Er ist zugleich Beauftragter für Volksbildung und für die Belange der außerhalb der Republik lebenden Tataren. Er überreicht mir Statut und Programm des „ToZ“. Er legt Wert auf die Feststellung, daß das Zentrum eine staatliche Einrichtung sei. Dann erzählt er:
take 2: Vizepräsident „ToZ“ (1,10)
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzer:   „Alles begann bei uns als Volksbewegung vor zwei             Jahren, 1989. Zu Anfang waren es vielleicht elf Leute, Wissenschaftler, Historiker, eben, tatarische Intellektuelle. Es gab einfach das Verlangen, eine solche Volksbewegung zu schaffen, um für die Souveränität der Republik zu kämpfen. Erste Aufgabe war die Gründung einer Republik, ähnlich wie damals Usbekistan, Kasachstan. Das war das erste Ziel.“

Regie: O-Ton evtl. hochziehen, dann wegblenden.

Erzähler:   Das zweite Ziel, berichtet Jegeferow weiter,             bestehe darin, die Gleichbrechtigung der Sprachen durchzusetzen. Obwohl in den Dörfern der Republik generell tatarisch gesprochen werde, sei die Schulsprache überall Russisch. Zeitungen, Lehrbücher, Verträge, eben alle offiziellen Papiere seien auf Russisch verfaßt, obwohl doch fast die Hälfte der Bevölkerung Tatarisch spreche.

Regie: O-Ton wegnehmen.

Kommentator:  Am 13.8.91. erklärte Tatarstan seine staatliche             Souveränität. Das Referendum zu dieser Frage im März `92 brachte eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen von 61 Prozent dafür. Anfang Juni `92 trafen sich Tataren aus aller Welt zum All-Tatarischen Kongreß in Kasan. Er bekräftigte die Forderungen nach staatlicher Souveränität, nach Gleichstellung des russischen mit dem Tatarischen und nach Schaffung eines übergreifenden tatarischen Kulturraums. Im August ’92 wurde ein Gesetz über die Gleichbrechtigung der Sprachen verabschiedet.

Erzähler:Fünf von sieben Millionen russischer Tataren leben             in der „Diaspora“, wie Raschit Jegeferow es nennt, also in den umliegenden Republiken und anderen Teilen der früheren UdSSR. Wie kann unter diesen Umständen ein tatarischer Staat aussehen? Stimmen die Gerüchte, frage ich Jegeferow, daß man im „ToZ“ eine Wolga-Ural-Republik anstrebe, die die hier lebenden Völker vereinigen solle?

take3:Vizepräsident „ToZ“, Forts. (0,30)

Regie: O- Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit Ende der Übersetzung wegnehmen:

Übersetzer:   „Ich glaube, das wäre sehr gut, wenn man eine             solche Vereinigung zustande bekäme. Sehr gut wäre das, selbstverständlich! Wie das konkret sein müßte, als Konföderation oder wie, darüber haben wir hier natürlich noch nicht gesprochen. Aber jedes Volk muß erst seine eigene Souveränität haben, bevor man sich wirklich vereinigen kann. Das ist klar.“

Erzähler   Eine Vereinigung aller Tataren in einem tatarischen             Nationalstaat aber lehnt Jegeforow ab. So etwas könne nur von der gegnerischen Propaganda erfunden werden. Tonnenweise, klagt er bitter, habe man aus Moskau solches Material gegen sie in Umlauf gebracht und im Fernsehen Lügen verbreitet über die angeblich kriegerischen Absichten der Tataren.
take 4: O-Ton Jegeferow, Forts. (1,12)

Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer unterlegt auslaufen lassen:

Übersetzer:“Aber zu glauben, hier alle Tataren zusammenführen             zu können, nein, das ist nicht möglich. Die Tataren leben ja in vielen Regionen, in Sibirien, an der unteren Wolga, an der oberen Wolga, am Ural. Ihre historische Heimat ist äußerst weiträumig. Sie alle zusammenzuführen, ist einfach Utopie. Sicher, es gab hier bei uns einen sehr großen Staat vor dem 14. Jahrhundert: Wolga-Bulgarien. Vielleicht haben Sie davon gehört. Das ist natürlich eine lange Geschichte, aber die Kasaner Tataren hier sehen in den Wolga-Bulgaren ihre Vorfahren. Sie gingen dann ja im Mongolensturm unter, der aus Sibirien kam. Übrig blieb das Kasanische Khanat. Sie wissen, daß Kasan dann 1552 von den Russen erobert wurde.“
Regie: O-Ton hochziehen, dann wegblenden.

Erzähler:   Jegeferow setzt statttdessen auf die Wiedergeburt             der tatarischen Nation als kulturelle Einheit: Sprache, Literatur, Kunst, Kultur und Religion, also Islam. Das, vor allem die religiöse Einheit, liegt ihm am Herzen. Letztlich aber, lacht er, ginge es um ein großes Exepriment, nämlich wie man bei so viel Unterschieden in diesem Raum zusammen leben könne.

Erzähler:  Nur ein paar Häuser weiter kommt das neue             tatarische Selbstbewußtsein in rauheren Tönen zum Ausdruck. Dort treffe ich auf Rafik Signatulin, pensionierter Militär, heute ehrenamtlicher Organisator eines „tatarischen Unternehmerzentrums“.

take 5: Pensionär im „tartarischen Unternehmerzentrum“ (0,22)

Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:   „Ich bin ehemaliger Kommunist. Jetzt bin ich             gläubig. Das heißt, ich habe viele Fehler gemacht. Aber es zeigt sich, gläubig zu sein, ist gut. Der Atheist ist ein potentieller Verbrecher. Er glaubt an nichts. Er achtet nichts. Man muß glauben. Ich glaube den Kommunisten nicht mehr, aber ich glaube an Gott. “
Erzähler:Auf die Frage, von welchen Fehlern er spreche, platzt er los:

take 6: Forts. Pensionär. (1,20)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer (langsam Sprechen) unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:“Ich habe 25 volle Jahre in der Armee gedient.             Überall in unserer UdSSR habe ich gedient. Ich habe die Akadmie durchlaufen. Ich bin Tatar. Ich habe mir die russische Sprache gut angeeignet, ich bin zu Wetbewerben in der Akademie angetreten, alles war gut, der Dienst war gut – aber: als ich zum Volk kam, sah ich, daß die Kinder nicht unsere sind! Sie können nicht in ihrer Muttersprache reden. Ich begann zu lernen, ich begann zu begreifen und ich verstand: Daß Kultur und ethnisches Überleben solcher Völker wie der Tschuwaschen, der Mordawzier und so weiter vor der Vernichtung stehen. Schulen in der Muttersprache gibt es nicht. Die Traditionen sind vergessen. Die Geschichte kennen sie nicht. Jetzt setzt der Zerfall der Schulen sich weiter fort. Wer hält das auf? Jetzt arbeitet die Schule wieder nach dem Programm eines totalitären Regimes! Das totalitäre Regime ist um viele Male schlechter als das koloniale Regime der Zarenzeit.  Damals haben die Leute sich wenigstens um ihr Eigentum gesorgt. Aus Gründen der Religion.“

Erzähler:   Jelzin-Regierung, Sowjetunion, Zarismus – die             Unterschiede verschwimmen. Was bei Rafik Signatulin bleibt, ist die Abgrenzung gegen die Russen:

take 7: Zweite Fortsetzung: Pensionär  (0,31)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzung  „Russische Dörfer kaben keine Zäune. Die Häuser             sind verkommen. Die Leute sind alle betrunken, sie beklauen sich gegenseitig. In den tatarischen und tschuwaschischen Dörfern dagegen kann man gut leben. Tatarische Dörfer sind sauberer. Das liegt daran, daß dort der Hochmut geringer ist. Von der Religion her sind die Menschen mehr angehalten zu arbeiten: Nur Arbeit macht das Leben!“

Erzähler:     Alfred Xwalikow, Archäologe und Ethnologe,             ebenfalls Tatare, dessen Spezialgebiet die Erforschung der Geschichte der Turkvölker ist, kann darüber nur lachen. „Sie saufen doch alle“, sagt er. Im übrigen hält er die nationalistischen Differenzierungen für ein Erbe der sowjetischen Herrschaft.

take 8: Alfred Xwalikow (1,10)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:   „Jedes der hier lebenden Völker hat seine eigene             interessante Geschichte. Und jedes von ihnen hat die engsten Verbindungen zum anderen, sodaß die gewaltsame Abwendung von den anderen nur die eigene Lage verschlechtern würde. Das begreift das Volk im übrigen auch sehr gut. Das Volk ist nicht tschuwaschisch, nicht tatarisch, nicht baschkirisch, nicht mariskisch. Es hat nie danach gestrebt zu sagen: Wir sind besser, wir sind ein ausgewähltes Volk und ihr seid schlechter. Kaum aber tauchte die sowjetische Intelligenz auf, wurde ihre Herrschaft genau darauf gegründet: `Faßt nur die Russen nicht an, die Russen sind Eure großen Brüder; die anderen dagegen sind nichts. Wer sind denn die Tschuwaschen? Die Tataren sind bloß russische Eroberer…‘ – Nein, nein, das ist alles sowjetische Ideologie.“

take 9: Fahrtgeräusche auf der „Meteor“ (0,50)

Regie: Fahrgeräusche langsam kommen lassen, dann unterlegt laufen lassen, mit Text beenden.

Erzähler:   Auf der Wolga. Drei Stunden braucht die „Meteor“,             das linienmäßig verkehrende Luftkissenboot, von Kasan nach Tscheboksary. Tscheboksary, die Hauptstadt der Tschuwaschischen Republik ist mein Ziel. Gerade haben wir den Anleger von Joschkar-Olar verlassen, Zentrum der Mariskischen Republik auf der anderen, der östlichen Seite der Wolga. Alles liegt hier nah beieinander. Frauen mit Warenkörben drängen ins Boot, Landarbeiter. Sie wollen auf den Markt in Tscheboksary. Zu viele. Das Boot kann nicht alle aufnehmen. Man schlägt sich um den Zugang. Die Hälfte der Wartenden bleibt am Steg zurück. Tschuwaschen, Tataren, Russen. Die Szene bestätigt die Worte Professor Xwalikows: Im Alltag werden keine Unterschiede mehr gemacht.

Regie: O-Ton wegnehmen:

Erzähler:In Tscheboksary führt mich mein Weg direkt ins             „Tschuwaschische Kulturzentrum“, kurz „Tschokz“. Es entspricht dem Kasaner „ToZ“. Hier soll ich Grüße überbringen. Man kennt sich. Micha Juchma, der Vorsitzende des tschuwaschischen Zentrums, hört sich aufmerksam meine Kasaner Eindrücke an. Dann erklärt er mir sein Verständnis von „Wiedergeburt“:

take 10: Im „tschuwaschischen Kulturzentrum“ (2,50)

Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, bis zum Ende des takes als Atmosphäre stehen lassen:

Übersetzer:   „Das ist die Erneuerung, die Wiedergewinnung der             eigenen Persönlichkeit. Vor allem ist es die Wiedererlangung verlorener kultureller Werte. Es ist die Selbstachtung einer Nation, damit der Mensch, hier bei uns der Tschuwasche, wieder lernt, darauf stolz zu sein, daß er ein Tschuwasche ist, daß er diesem Volk entstammt. Es ist ja soweit gekommen, daß allein schon das Wort `Tschuwasche‘ zu einem Schimpfwort geworden ist, genau wie das Wort `Tatare‘ in Tatarstan. Das heißt, ein verkehrtes Leben hat sich bei uns entwickelt. Unsere Ziele darf man aber auf keinen Fall mit Gewalt zu erreichen versuchen. Das muß alles auf dem Weg des Dialogs erfolgen. Vor allem muß man lernen, dem Nachbarn zuzuhören. Das ist bei uns zur Zeit absolut nicht so.“

Regie: O-Ton bleibt unterlegt.

Erzähler: Seine Großmutter, von der er viel gelernt hat, habe             noch auf dem Dorf gelebt, erzählt Micha Juchma. Sie habe ihm als Kind eine Grundregel beigebracht: Man solle sich immer so verhalten, daß die Leute, die einem auf der Straße begegnen, danach glücklich weiter ihren Weg gehen könnten.
Micha Juchma ist tschuwaschischer Nationaldichter. Von Kindheit an hat ihn die Großmutter mit den Sagen, Mythen und Erzählungen des tschuwaschischen Volkes und mit der tschuwaschischen Gechichte vertraut gemacht. Was er nicht von ihr lernen konnte, fand er in unaufgearbeiteten – und in der Stalinzeit – geheimgehaltenen Archiven oder trug es aus Gesprächen mit Dorfbewohnern Stück für Stück zusammen. So entstand eine reiche Sammlung von Büchern über die Geschichte der Tschuwaschen als Teil der großen Völkerwanderung turkstämmiger Völker von Mesopotamien nach Zentralasien. Von dort wandten sie sich gen Westen – in dem großen Hunnensturm.
Auch Micha Juchma erzählt mir die Geschichte von dem großen Reich Bulgarstan. Für ihn aber sind dessen Nachkommen nicht die Tataren, sondern die Tschuwaschen, die nach dem Rückzug der Hunnen aus Westeuropa im mittleren Wolgagebiet geblieben und dort den Staat Bulgarstan gründeten. Im zwölften Jahrhundert hätten die Mongolen das Reich überrannt. Die Tataren dagegen, meint Micha Juchma, seien erst mit dem Mongolensturm nach Mittelrußland gekommen. Sie hätten Bulgarstan also nicht nur zerstört, sondern im Kasaner Khanat später auch dessen Kultur überlagert. Zeitweilig hätten sie den Tschuwaschen auch den Islam aufgezwungen, aber dann hätten diese sich dem Christentum zugewandt. Schließlich habe sich das russische Imperium dann beide gleichermaßen einverleibt wie auch die übrigen Völker des Raumes. Eine Wolga-Ural-Republik zusammen mit den Tataren erscheint Micha Juchma denn auch nicht wünschenswert. Das, so meint er, würde deren alte Hegemonieansprüche sofort wieder aufflammen lassen.
Heute gibt das tschuwaschische Kulturzentrum, ähnlich wie das tatarische, Bücher, Schriften, Schallplatten und eine eigene zentrale, sowie mehrere lokale Zeitungen heraus. Sie bemühen sich, die tschuwaschische Geschichte wieder ans Tageslicht zu holen, sozusagen unter unter der Geschichtsschreibung der russischen Sieger wieder hervorzuziehen.
Letztenendes aber, so Juchma, müsse er Professor Xwalikow zustimmen:

take11: Micha Juchma, Fortsetzung (0,24)

Regie: O-Ton vier Sekunden kommen lassen, dann ablenden und unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:   „Die Tschuwaschen wollten sich nie von anderen             Völkern unterscheiden. Seit Ankunft der Tataren-Mongolen, das zeigt die Geschichte, stand das tschuwaschische Volk nicht vor der Frage: Wie sich von irgendwelchen anderen Völkern unterscheiden, sondern wie sich selbst erhalten, wie physisch als Volk überleben.“

take 12: Jeep im Altai (O,42)

Regie: O-Ton drei bis vier Sekunden stehen lassen, dann abblenden, unterlegen:

Erzähler:    2500 Kilometer weiter Östlich. Im Grenzdreieck             zwischen den nördlichsten Ausläufern Chinas, der Mongolei und Kasachstan, in den nördlichen Ausläufern des Pamirgebirges. Wir sind in den Tälern des Altai unterwegs, zu Zeiten der UdSSR autonomer Kreis, seit 1991 selbstständige Republik. Wir nähern uns dem Dorf Besch-el-Tir, dem Dorf der fünf Täler. Ich fühle mich an die tschuwaschischen Dörfer erinnert: umfassende Einfriedung, kleine, akkurate Holzhäuser, bemalte Fassaden.
Regie: Nach dem Stichwort „strastwuitje“ (Guten Tag) O-Ton hochziehen und auslaufen lassen.

Erzähler:   Auch der junge Bürgermeister dieses Ortes erinnert             mich an meine tschuwaschischen Bekannten: zart, freundlich, dunkle Augen, dunkler Schopf. Sehr schnell sind wir auch hier bei der Frage der nationalen Wiedergeburt angekommen:

take 14: Bürgermeister von Besch-el-Tir (0,12)
Regie: O-Ton zwei Sekunden stehen lassen, dann abblenden, unterlegen, mit dem Ende des takes wegnehmen:

Übersetzer: „Natürlich gibt es das. Es gibt eine Bewegung. Ein             republikanischer Fond wurde gebildet. Es gibt eine Vereinigung. Sie nennt sich `Enetil‘. Das heißt Wiedergeburt.“

Erzähler:    Die Bewegung ist eine städtische Angelegenheit,             erläutert der Bürgermeister. Sie wird von Leuten getragen, die das Land verlassen haben, um im nahegelegenen Gorno-Altaisk zu leben. Dort leben zur Hälfte Russsen und zur Hälfte Altaizis. Da geht es natürlich um die Gleichberechtigung der Sprachen. Im Dorf haben sich die alten Gebräuche erhalten: Die Hochschätzung der Alten! Hier braucht man sich dazu nichts Neues auszudenken.

take 15: Fortsetz. Bürgermeister  (0,22)

Regie: O-Ton 4 Sekunden stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit dem Übersetzer beenden:

Übersetzer::  „Tendenzen gibt es natürlich, daß die Jungen sich             mit den Traditonen des Volkes befassen, mit Volkskunst und so. Aber wir beschäftigen uns hier in unserem Dorfe zur Zeit nicht mit solchen Arbeiten. Das hängt alles mit den finanziellen Schwierigkeiten zusammen. Um sowas zu machen, braucht man Geld, muß man einen Fond bilden usw. “

Erzähler:     „Enitel“, erfahre ich, ist der altaizische             Ausdruck für Widergeburt. Ziel der Organisation ist nicht nur die sprachliche Gleichberechtigung, sondern die Wiederherstellung des verlorenen altaizischen Kulturraums. Er ist, wie ich zu meiner Überraschung von meinem Begleiter Vincenti erfahre, mit dem an der mittleren Wolga engstens verbunden.

take16: Vincenti Tengerow (0,45)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, dann als Atmosphäre während des Erzähler-Kommentars auslaufen lassen.

Übersetzer:  „Übereinstimmungen gibt es vor allem mit den             Republiken Tatarstan, Baschkirestan und mit den Tschuwaschen. Dort sind die Sippenverbindungen noch immer stärker. Es ist nicht wie bei den Russen, bei denen neben dem Vater auch der herangewachsene Sohn schon der Alte ist. Nein, da gilt das Prinzip des Ältesten. Und sie arbeiten im ganzen Familienverband. So überleben sie. Wie machen es die Bauern im Bezirk Synakos zum Beispiel? In allen Dörfern sprechen sich die Nachbarn ab: Erst wird für den einen das Heu gemäht, dann für den zweiten, dann für den Dritten. So arbeiten sie dort gemeinschaftlich in der `obschtschina‘, der Dorfgemeinde. Das haben sie schon vor der Revolution so gemacht.“

Erzähler:   Auf der Rückfahrt läßt Vincenti an einem zwischen             den Felsen herabstürzenden Wildbach halten. Bunte Fähnchen schmücken die umstehenden Bäume. In einem Becken am Straßenrand blinken hunderte von Münzen. „Eine heilige Quelle!“ lacht er, selbst eine Münze hineinwerfend. Das gehe auf alte schamanische Traditionen zurück. Schamanismus und Bhuddismus, so sagt er, kehren wieder in die Täler des Altai zurück – Religionen, die die Menschen viele Jahrhunderte geprägt haben. Der friedfertige Charakter der Altaizis, lächelt Vincenti, selbst orthodoxer Christ, habe hier seinen Ursprung. Das Christentum sei viel agressiver.
Im einzigen Buchladen von Gorno-Altaisk kann ich ganze zwei Bücher über den Altai erstehen. Die aber haben es in sich: Das erste illustriert die traditionelle Kleidung der Altaizis, unter anderem die der Schamanen. Das Zweite ist ein neues populär-wissenschaftliches Werk, in dem der Altai als Wiege der Turkvölker beschrieben wird. So hatte ich nicht nur im Dorf, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur Micha Juchmas Spuren der Hunnen wiederentdeckt – einen gewaltigen turksprachigen Raum, der sich heute vom südlichen Sibirien bis nach Nordeuropa erstreckt.
Mehr als ein gutes Jahrhundert stand dieser Raum vollständig unter russischer Herrschaft. Jetzt wird um seine Neuaufteilung gerungen. Bhuddistische, russisch-orthodoxe und islamische Welt stehen sich gegenüber.

take 17: Kongreß in Tscheboksary (2,30)

Regie: kommen lassen, nach Musikbeginn abblenden, unterlegt – auch unter take 18 – laufen lassen:

Erzähler:   Zurück in Tscheboksary. Nach dem all-tatarischen             Kongreß in Kasan Anfang Mai nun der all-tschuwaschische. Gefordert wird wie schon in Kasan: Staatliche Souveränität, wirtschaftliche Selbstbestimmung, sprachliche Gleichberechtigung und Schaffung eines einheitlichen Kulturraumes der turksprachigen Völker. Aus allen Teilen der früheren Union und sogar aus dem Ausland sind Delegierte angereist. Geografisch entspricht die tschuwaschische Diaspora, wie auch dieses Volk seine Situation beschreibt, der der Tataren. Von ca. vier Millionen Tschuwaschen leben etwa zwei Millionen in der Republik. Mit über sechzig Prozent bilden die Tschuwaschen allerdings die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Das ist einmalig in der russischen Föderation:
Die tatarische Republik als Bezugspunkt für die größte nicht-russische Bevölkerungsgruppe, die tschuwaschische als die einzige, in der Russen als eine Minderheit leben. Die beiden wichtigen Bastionen der pantürkischen Wiedergeburt sind so in der russischen Föderation, obwohl unauflösbar in ihrer Diaspora miteinander verknüpft, dennoch zwei entgegengesetzte Pole in der möglichen Entwicklung. Die Tataren sind an einer gemeinsamen Religion orientiert, dem Islam, die christlich geprägten Tschuwaschen streben nur nach einem gemeinsamen Kulturraum, in dem aber unterschiedliche Religionen miteinander koexistieren können.
Wie es weitergehen könnte, schildert Micha Juchma:

take 18: Micha Juchma (1,08)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzertext unterlegen, während des Erzählertextes zusammen mit der Musik aus take 17 auslaufen lassen.

Übersetzer:  „Alles hängt jetzt von der Position des Islam ab,             davon, wie sich der Islam entwickelt. Wenn der Islam sich als taktisch geschickt erweist, das heißt, mit der Methode der Schmeichlei vorgeht, dann kommt er hier durch. Das wiederum hängt aber ganz und gar von den Tschuwaschen ab. Was die Tschuwaschen machen, das machen auch die Marisken, Utmurten und die Mordawier. Warum ist das so? Alle übrigen turkstämmigen Völker sind Mohammedaner. Die chistlichen Tschuwaschen sind zwar auch turkstämmig, trotzdem wächst auch bei ihnen das Interesse am Pantürkismus und sie wenden sich ihm mehr und mehr zu. Auch die anderen, die Russen, begreifen das: Die schwächste Front der russisch-orthodoxen Kirchen des Prawaslawismus an der Wolga sind die Tschuwaschen. Deshalb wird die islamische Welt jetzt die Tschuwaschen attakieren.“

Erzähler:   Der Kampf hat schon begonnen und dies nicht nur             zwischen den drei großen Kulturkreisen, sondern auch noch innerhalb der islamischen Welt. So ist Micha Juchma im „TschoKz“ nicht nur zugleich als zweiter Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“ tätig, die eng mit türkischen Kräften außerhalb der russischen Föderation zusammenarbeitet. Er und seine Freunde werden auch von Gesandten islamischer Fundamentalisten gedrängt, zum Islam überzutreten.
Aus Moskau reiste im Sommer `92 auch Boris Jelzin samt seinem „Kommando“ an, wie seine Regierung hier genannt wird. Man bot den Tschuwaschen an, sie könnten bei der Umwandlung der zentralen Staatsbetriebe 35 Prozent der Aktienanteile übernehmen. Dabei blieben die Betriebe zwar immer noch in Moskauer Hand. In der Hierarchie der Angebote, das die „Moskauer“ in den Provinzen machten, ist dies bisher einmalig. Außerdem versprach Boris Jelzin hohe Subventionen für die vor dem Bankrott stehenden Großbetriebe der Republik. Das macht deutlich: Man will sie als Gegengewicht gegen Tatarstan und seine islamischen Freunde stabilisieren.

Regie: O-Ton auslaufen lassen.

Erzähler:  Weniger taktisch formuliert Alexander Prochanow             von der vaterländischen Rechten, die Boris Jelzin Anfang des Jahres 1993 so sichtbar unter Druck setzen konnte, wie er sich die Lösung dieser Probleme vorstellt:

take19: Alexander Prochanow (0,17)
Regie: O-Ton einen Moment stehen lassen, dann abblenden, unterlegen:

Übersetzer:   „Ich bin traditioneller russischer Imperialist. Das             ideale Rußland, das ist für mich ein euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der Völkervielfalt hervorgeht, — das zentrale Volk jedoch, das regulierende Volk, das sind die Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind kommunikativer und sie leben überall. Die heutige russische Föderation ist ein totes Stück Holz, sinnlos, Nonsens. Es kann kein Rußland geben, wo dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen ihrer Heimat leben.“

Erzähler      Damit sind die Konfrontationslinien für die             nächste Generation abgesteckt.

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