„Ich will Banker werden“ Kinder im heutigen Russland

Vorspann: Zehn Jahre Perestroika. Die Kinder der Ära Gorbatschow haben inzwischen selbst Kinder. Wie wächst die neue Generation heran? Was hat sie für Ansichten und Probleme? Einen Streifzug in dieses weite Feld unternimmt Kai Ehlers.

A-Ton 1: Kinderparade in Tscharypowo                   (1,50)
(…Stimmen, Gesang)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen,
stehen lassen, anblenden, unterlegen.

Erzähler: Sibirien. Kohlestadt Tscharypowo. Ehemaliges  Jahrhundertprojekt. Hier sollte das größte Energiezentrum Euro-Asiens entstehen. Jetzt liegt alles auf Eis. Aber heut ist ein strahlender Tag. Hunderte von Kindern haben sich versammelt. Die Mädchen tragen bunte Schleifchen im Haar, viele Jungs stecken in Anzügen. „Komm zu uns, komm zu uns, wir sind alle eine Familie“, singen sie. Eine Gruppe von Mädchen nähert sich. Sie trägen ein Transparent: „Frieden; Freundschaft; eine saubere, grüne Welt“, wünschen sie sich. (…Liedende)

B-Ton 1: Mädchen im Kinderumzug                   (0,35)     (… „Parad“ … bis „prischli“

Regie: Verblenden, hochziehen bei „Parad“, abblenden, unterlegen. Beim Stichwort „prischli“ wieder hochziehen.

Erzähler:  Amerikaner haben das Fest organisiert, erzählen die Mädchen. So etwas habe es noch nie gegeben. Klar, mache es ihnen Spaß: „Sehen Sie doch: Alle haben sich hier versammelt.“ Und natürlich sei alles freiwillig. Niemand wurde gezwungen. Alle wollten es. Und sind gekommen. („…prischli“)

Regie: nach „prischli“ abblenden, unterlegen

Erzähler:  Jetzt kommt ein Trupp Jungs. Sie sind nicht  minder begeistert. Doch, einmal habe es so etwas gegeben, erinnern sie sich, zum „Tag der Stadt“. Auch bei den Pionieren früher. „Aber das war nicht so gut“, finden sie.
Worin der Unterschied bestehe?

A-Ton 2: Jungs im Kinderumzug:

(0,18)             (… Schritte, „a tom bili tolka russki                …bis „sewodnja Amerikanzi, Indianzi sdjes“)
Regie: Verblenden, hochziehen bei „a tom“, stehen lassen bis „sdjes“, abblenden, unterlegen

Übersetzer:    „Ah, da waren es nur Russen. Heute sind                 Amerikaner und Inder hier.“

Erzähler: Bei den „Amerikanern“ haben sie in den letzten     Monaten Gedichte, Lieder und alles Mögliche gelernt. Haben vom Glauben an Bachai gehört. Bereitwillig erklären sie, was das heißt:

B-Ton 2: Jungs im Kinderumzug   (0,35)  (… „schto ta dobra budit        … bis „normalno“)

Regie: Hochziehen zum Stichwort „schto ta..“, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „normalno“ wieder hochkommen, dann abblenden, unterlegt halte

Erzähler: „Dass alles gut wird.“ „Wir beten mit ihnen  zusammen“. Ob sie das gut fänden. „Aber ja!“ Die Begeisterung ist nicht zu überhören. Und die Eltern? Die fänden das normal. …“normalno“

Regie: Ab Stichwort „normalno“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  Auch viele Frauen nehmen an dem Zug Teil. Väter sind kaum zu sehen. Worum es hier gehe, frage ich eine kräftige Babuschka. Freundlich strahlt sie mich an:

A-Ton3: Babuschka im Kinderzug  0,30)          (… „nje snaju …bis „radost“)

Regie: Verblenden, hochziehen zum Stichwort „ne snaju“, kurz stehen lassen, abblenden, dem Erzähler unterlegen, bei „radost“ wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht, ich Dummchen. Ich nehme nur teil. Bin ja nur Gast. Mein Neffe ist dabei.“

Erzähler: Ob es so etwas früher gegeben habe? Sie erinnert sich nicht. Zu ihrer Zeit sei Krieg gewesen. Aber schön findet sie es: „So eine Freude!“ …“radost“)

Regie: zum Stichwort „radost“ hochziehen, dann wieder abblenden, unterlegt lassen.

Erzähler: Da kommt eine junge Frau, Kindergärtnerin. Toll, findet sie es, wie die jungen Leute das gemacht haben! „Prachtkerle“! Alle ihre Kinder seien mit dabei.

B-Ton3:Kindergärtnerin im Kinderzug     (0,20)     (… „Djetim otschen rawitsja“              … bis „wjesseleje, krasitschneje“)

Regie: Verblenden, zum Stichwort „Djetim“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, am Ende des Erzählers zum Stichwort „etot parad“ wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Den Kindern gefällt das alles sehr. Sie ziehen daraus Gutes. Kinder kann man ja nicht betrügen. Kinder sehen, wo Gutes und wo Schlechtes ist: Sie hängen an den jungen Leuten aus Amerika.“

Erzähler: Klar habe es auch schon früher Paraden gegeben.  Bei den Pionieren. Aber diese sei heller, beseelter, lacht die junge Frau.

Regie Beim Stichwort „krassitschneje“ abblenden, unterlegt lassen

Erzähler: Passanten, die am Rande zuschauen, sind verunsichert. Sie wissen nicht, was vorgeht.
A-Ton 4:Passanten beim Kinderzug     (0,40)       (… „eto otschen interesna…       …bis „mnoga charoschowa“

Erzähler: „Sehr interessant“, meint der junge Mann, eine  gute Veranstaltung. Aber wer dafür verantwortlich sei, will er wissen. Die junge Frau fragt nach dem Ziel. Am Ende sind die beiden uneins: Bei den Pionieren waren die Paraden besser organisiert, meint sie. Aber irgendwie seien sie gezwungener gewesen, wehrt er ab. Nicht alles sei früher schlecht gewesen, lachen sie schließlich. (…charoschowa“)

Regie: Allmählich kommen lassen, bei „oni bili lutsche organisowanni“ stehen lassen bis „choroschewa“, abblenden, unterlegen, allmählich ausblenden

A-Ton 5: Beifall im Saal                     (1,40)     (… Lied, Beifall, Ansage         …bis  Lied „felloship“

Regie: Ton langsam kommen lassen, Applaus und erste Kinderansagen stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Kulturhaus. Der Saal ist überfüllt. Hier tragen die Kinder vor, was sie in vier Monaten bei den Bachai gelernt haben. Den Anfang machen die ganz Kleinen:

Regie: Mit dem Stichwort „Tschistata“ hochziehen, drei oder vier Begriffe abwarten, dann abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: (Abgesetzt lesen) „Sauberkeit.“ „Wie man zusammen arbeitet.“ „Einheitliche Menschheit.“ „Gutes Benehmen.“ „Freizügigkeit.“ „Den Eltern gehorchen.“ „Die Alten achten.“ „Vertrauen. Solidarität.“
Regie Nach Übersetzungen zum Stichwort „soduschestwo“ hochziehen, stehen lassen, bis „felloship“ erklingt, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Mit Tänzen, Gedichten, Akrobatik, mit Klavier und Guitarre geht es weiter. Auch Rock und Pop fehlen nicht. Ebenso wenig eine Erklärung der Organisatoren, dass dies alles nur für die Kinder geschehe, wenn auch letztlich zu Ehren des einzig existierenden Gottes, den Bachai neu für dieses Jahrhundert verkündet habe.
Mit dem Lob auf „fellowship, fellowship“, die große Gemeinschaft, findet das Fest seinen Ausklang.

B-Ton 4 Auf der Straße      (1,15)     (… Straßenlärm, Frage          …bis „Tscharypowo sabyrotsja“)

Regie:  Kreuzblende, nur halb kommen lassen, unterlegt halten

Erzähler: Andre`, im Ort geboren, aber zurzeit aus Nowosibirsk angereist, um hier mit anderen Ärzten zusammen eine öffentliche Sitzung gegen Alkoholismus durchzuführen, ist nicht so zurückhaltend:

Regie: Zum Stichwort „schto ja dumaju?“ hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, unterlegen. Beim Stichwort „powes nowi Gitler“ ganz hochziehen, stehen lassen, nach Stichwort „sabyrajutsja“ abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: „Was ich denke? Diese Parade ist die einzige Abwechslung, die es hier gibt. Die Leute kommen nicht deswegen. Hier gibt es einen Klub, da wo wir eben waren. Es gibt ein Kino. Andere Möglichkeiten, sich mit Kultur zu beschäftigen, haben die Kinder nicht. So ist also jede beliebige Aktion interessant, seien es die Bachai, seien es die Buddhisten, seien es bloß Hippies: Sie versammeln um sich gleichviel Volks – Und sei es auch ein neuer Hitler oder Wladimir Rolwowitsch persönlich! Da werden es sogar noch mehr. Da wird sich ganz Tscharypowo versammeln.“
Regie: Nach dem Stichwort „sabyrotsja“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler: Wladimir Rodolfowitsch – das ist Wladmir Schirinowski. Eine Art Vakuum sei entstanden, meint Andre`. Wie überall in der ehemaligen Union. Hier werde das besonders sichtbar, weil die Stadt mit ihren Kohlevorkommen vorher als „Jahrhundertprojekt“ gegolten habe. Noch schärfer urteilt Ira, seine Kollegin:
A-Ton 6:Irina auf der Straße                     (0,13)                     (… „dla etix detei“ …bis „norma“
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, bei Stichwort (Frauenstimme) „dlja etich detei“  hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, am Ende wieder hochziehen, nach Stichwort „norma“ (Lachen)abblenden, unterlegen

Übersetzerin:  „Für diese Kinder ist das alles ganz fremd. Bei der Hälfte der Kinder säuft der Vater. Das ist für sie die Norm.“

B-Ton5: Andree auf der Straße                         (0,28)    (…“djeti nje ponimaet“  …bis „sasnanije“

Regie: Verblenden, bei „djeti“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:  „Die Kinder verstehen kein Englisch. Wieso also  Bachais? Wieso englische Sprache? Sie sind russisch! Sie leben hier! Das ist alles irgendwie künstlich, ausgedacht, entspricht nicht ihrem Bewusstsein.“ (…sasnanije)

Regie: Nach „sasnanije“ allmählich ausblenden

Erzähler:  Amerikanische Käppchen und Fähnchen findet auch Olga, die junge Bibliothekarin befremdlich. Sie arbeitet in der Kinderbücherei der Stadt. Noch merkwürdiger findet sie, warum diese Gruppe junger Amerikaner ausgerechnet an diesen sterbenden Ort kommt. „Die könnten doch zu haus viel besser leben“, findet sie. Aber gegen eine Teilnahme ihres Kindes an der Parade hat sie nichts:

B-Ton 6: Bibliothekarin Olga                           (0,27)     (…“Nu, ja nje snaju“           …bis „pust ani werjat (Lachen)“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht, das Wichtigste ist doch, da mein Kind nicht krank wird. Dass es gesund ist, also, glücklich. Darum geht es. Aber ob es das da nun glaubt oder nicht glaubt: Hauptsache, es wird ein Mensch. Stimmt doch, oder? Schließlich müssen Kinder ja irgendwas glauben. Aber was können sie heute glauben? Also, las sie nur überhaupt etwas glauben!“ (pust ani werjat“
Erzähler:  Die Leerstelle, die heute von Gruppen wie den Bachai gefüllt wird, entstand, als nach der dem Sturz der Kommunistischen Partei 1991 auch deren Jugendorganisationen, die „Pioniere“ und die „Komsomolzen“ aufgelöst wurden. Beim Besuch eines  ehemaligen Pionierlagers an der mittleren Wolga, das heute „Feriencamp für Kinder“ heißt, erklärte mir Wladmir, ein junger Fernsehtechniker schon 1992, ein Jahr danach, worin er den Verlust sieht: Sein junger Freund Igor, noch keine siebzehn, arbeitslos, nickte dazu:

B-Ton 7: Im Pionierlager Rossinka                (1,40)   (…“Nu, ja (Genuschel)           … bis „tschelowjet obschinii“

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach dem Übersetzer wieder  hochziehen

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird.  `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen.
Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen. Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Viele junge Leute suchen ihr Heil in Banden. Statt des Halstuches tragen sie jetzt die Kutte. Früher war das alles nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache. Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“
(…tschelowjek obschtschinii“
A-Ton 7: Jungs vor der Post in Sawjala          (1,20)                 (… Auto, schwaches Gespräch … bis Lastwagen/Hahngeschrei)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, bei Stichwort „Kak wot, pioniri“ (nach Frage) kurz hochziehen

Erzähler:  Ein Jahr später. Sawjala, Bezirkszentrum nahe der kasachischen Grenze. Hier ist nichts mehr künstlich. Landalltag. Ein paar früh erwachsene Jungs lungern vor der Post herum. Sie langweilen sich. Als es die Pioniere noch gab, war mehr los, meint ein Zwölfjähriger. „Mehr Freundschaft“, ergänzt ein Knirps. Der älteste, er ist 15, bessert mit dem Austragen von Telegrammen den Lohn der Mutter auf, der sonst nicht zum Leben reicht. „Früher wurdest Du angemacht, wenn Du ohne Halstuch kamst“, meint er. „Heute ist es umgekehrt.“ Wie er das finde? „Nicht gut“, meint er. „Schlecht“, finden die andern.

Regie: Nach Stichwort „Nu, kak vot, Pioniri“ kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Die Pioniere organisierten alles. Sie sorgten  auch für den Schutz der Natur. Jetzt kümmert sich praktisch niemand. Eigentlich ist unser Sawjala doch schön, schöner Wald, Seen. Aber jetzt liegt überall Dreck rum, alles verkommt, Früher sind die Pioniere in die Wälder gegangen, haben sie gesäubert. Jetzt hat niemand das nötig. Man schmeißt alles einfach so weg. Jeder kümmert sich nur um sich selbst. (Lastwagen/Hahn)

Regie: Ton mit Lastwagengeräusch hochziehen, mit Hahnenschrei langsam abblenden.

B-Ton 8: Platz in Borodino                             (030)     (…Karre, Motorrad)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen

Erzähler: Borodino. Auch eine Kohlestadt. Noch ein Jahr später. Inzwischen sprach man im Lande von moralischer Wende. Der Platz vor dem gigantischen Kulturpalast ist menschenleer. Nur ein paar Jungs hocken auf einer Bank. Die Aussticht auf ein Gespräch mit einem Ausländer veranlasst sie, ernste Gesichter zu machen. Zuerst reden sie wie die Alten: Schlechte Zeiten! Die Preise! Man müsse sehen, wie man durchkomme. Von den „Pionieren“ sprechen sie nur noch in der Vergangenheit. Aber offenbar gibt es sie doch noch. Im Sommerlager gäbe es kostenlos Eis und Konfekt, schwärmt der Kleinste. Erst als ich sie nach ihren Berufswünschen befrage, blitzt die neue Zeit unverhüllt auf:

A-Ton 8: Jungs auf dem Paradeplatz, Forts.    (0,37)       (… „Komersantami, (Lachen)“          …bis „Reketeur, (Lachen)

Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen

Erzähler: „Händler“, „Geschäftsmann“, „Millionär“. Das bedarf wieder einmal keiner Übersetzung. Es entspricht im Übrigen dem, was die russischen Statistiker schon längst als Bild der neuen Generation ermittelt haben. Die Antwort des vierten Jungen, erst im örtlichen Kauderwelsch, dann in der amerikanisierten Übersetzung lautet: „örtlicher Racketeur“, also Schutzgelderpresser. Unbewegt erzählen sie von der örtlichen Mafia: Zwanzig- bis Einundzwanzigjährige gehen in die Häuser und fordern Geld. Einfach so. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Kürzlich haben sie jemanden umgebracht und einen Polizisten erschossen. Ob sie das alles richtig finden? Darüber sind die Jungs nicht so ganz einig:

Regie: Kurz hochziehen, dass das Lachen erkennbar wird, dann wieder abblenden.

B-Ton 9: Jungs in Borodino, Forts.               (0,40)  (…“Nawerna plocha“ … bis nach „plocha“

Regie: Verblenden, kommen lassen, abblenden, unterlegen.

Erzähler:  „Wohl schlecht“, meint der eine. „Gut, denke ich“, sagt der zweite. Für dich selbst gut, für andere schlecht, setzt der Erste noch einmal nach.

Regie: Beim zweiten „dlja tebja charascho“ hochziehen, stehenlassen bis „plocha“, dann abblenden, unterlegen

Erzähler: So ganz richtig findet der Forsche es aber auch nicht. Doch um das zu ändern, müssten die Preise überall gleich sein, meint er. In Moskau sei alles billiger, hier alles teuer. Kaufen und Verkaufen, darin sieht er den einzigen Weg, um zu überleben. Die Eltern der Jungs machen es auch so. Ein anderes Leben könnten sie sich schon vorstellen. So wie früher! Als man noch richtig arbeiten konnte! Als man sich etwas für morgen aufbauen konnte!

A-Ton9: Jungs in Borodino, Schluss                (0,15) (… Kichern …bis  lutsche schili“

Regie: Verblenden, langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hinterm Stichwort „schili“ abblenden-

Erzähler:  Da gehen alte und neue Klischees bei den Jungs offenbar sehr durcheinander. „Viele Grüße“ und „Für ein besseres Leben!“ rufen sie schließlich unseren Kindern über meinen Recorder noch zu. („lutsche schili“)

B-Ton 10: Im Dorf Nowobiobejewo              (068)          (… Motorrad, Lachen, Antworten               …bis Rambo odin, Rambo dwa“)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „Stallone“ hochziehen, wieder abblenden

Erzähler:  Nowobibejewo, Waldarbeitersiedlung ca. 1000 Einwohnern, Zwei Sägewerke, ein privates Videogerät. Zwei Junges auf der staubigen Dorfstraße. Sie können sich nicht erinnern, ob es bei ihnen „Pioniere“ gab. Boxen, „football“, „volleyball“ ist ihr Alltag, im Frühjahr mit dem Trainer, im Winter auf der Straße. Die Stadt finden sie langweilig. „Im Dorf ist es besser“, finden sie. „Da ist der Fluss. Da kann man baden.“ In der Stadt sind nur die Videos für sie interessant. „Videomanics“, lacht mein russischer Begleiter. „So sind sie alle. Ohne das können sie schon nicht mehr leben.“ Als ich nach ihren Lieblingsschauspielern frage, springt mich wieder die neue Zeit an: Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone.

Regie: Abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler kurz stehen lassen, nach „Rambo“ abblenden

Erzähler: Ihre Lieblingsfilme entsprechen dem: Rambo I und Rambo II.

A-Ton10:Kinderhaus Tscherepanowo  (059)    (…538: „etowo ribonka“, Kinderschreien   …Kinderschreien, „etot indalid“  …bis Schreibmaschine

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Erzähler: Einen noch tieferen Blick in die Wirklichkeit vermittelt der Besuch im „Heim für psychisch behinderte Waisen“ in Tscherepanowo, Sibirien. Eine Gruppe russischer Ärzte ist eingetroffen, um Kinder zur Adoption bei amerikanischen Eltern abzuholen. Das örtliche TV ist anwesend. Woher kommen die Kinder in diesem Haus, fragt der Redakteur des örtlichen TV die Leiterin, eine mächtige ältere Frau: (…Schreibmaschine)

B-Ton 11: Leiterin des Kinderhauses           (050)     (… „Tschas ja wam skaschu          …bis Kinderschreien

Regie: O-Ton verblenden mit vorherigem, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Übersetzerin: „Das werde ich Ihnen sagen. Kinder bis zu drei Jahren werden aus Krankenhäusern und Geburtskliniken gebracht. Es sind Kinder von Müttern, die ihre Kinder bei der Geburt oder gleich danach abgegeben haben. Manche Kinder findet man auch auf dem Bahnhof. In den Krankenhäusern hat man sie medizinisch versorgt, behandelt und ihnen Dokumente ausgestellt. Wenn sie dann niemand adoptiert, kommen sie zu uns.“

A-Ton 11: Kinderstimmen und andere  Forts.               (0,36)          (…Kinderstimmen, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz hochkommen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  Einmal für krank befunden, haben die Kleinen praktisch keine Chance. Nur wenige schaffen eine normale Entwicklung. In den Kinderheimen wird nicht geheilt, dort wird ruhig gestellt. Mehr wäre nach Ausbildung und Ausrüstung dieser Heime nicht zu schaffen, selbst wenn das Bewusstsein ein anderes wäre: Vier ausgebildete Kräfte, die Leiterin, eine Krankenschwester, eine Logopädin und eine Erzieherin, sind hier für mehr als sechzig Kinder zuständig. Heute kommt der allgemeine Verfall noch hinzu, der sich auf das Kinderhaus katastrophal auswirkt. Beschwert stöhnt die Krankenschwester, eine an sich eher zähe Vertreterin ihres Standes:

B-Ton12: Krankenschwester                        (050)          (… „I na schot pitanje“              … bis „wot takie dela“

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, wieder abblenden

Übersetzerin:  „Was die Verpflegung betrifft, muss ich noch einmal sagen – und mich Krankenschwester beleidigt das einfach: Die Kinder bekommen bei uns zurzeit nicht ausreichend zu essen. Nach den Marktpreisen sind wir einfach nicht in der Lage, die nötigen Dinge zu bezahlen. So schaffen wir Kohl, Mohrrüben, Zwiebeln, Blumenkohl ran, also das, was in unseren Gärten wächst, was wir zu Hause haben. So sieht das aus.“

A-Ton 12: Kinderstimmen, Forts.                    (055)      (…Kinderstimmen, Stimmen…)

Regie: Verblenden, kurz hochkommen lassen, unterlegen

Erzähler: Unter diesen Bedingungen starben auch früher schon viele Kinder in den ersten Jahren. Bei ihnen verfestigte sich, was anfänglich nur Zurückgebliebenheit war, zu dauernden Behinderungen. Mit fünf oder sechs Jahren verschwand die Mehrzahl in den allgemeinen Behindertenanstalten. Heute sind die Überlebenschancen dieser Kinder noch weiter gesunken. Trotz steigender Zahl der Ehescheidungen, Abtreibungen und der ausgesetzten Neugeborenen geht die Belegung der Betten zurück. Die Stimmung ist schlecht. Die Frauen haben Angst, dass man das Haus ganz schließt. Das würde für sie den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten und einer – trotz allem – besseren Versorgung, als die Nachbarn sie haben. Die Ärzte aus Nowosibirsk sind für sie eine ernste Bedrohung. Sie beschimpfen sie versteckt als Spekulanten, die nur Geld mit den Kindern verdienen wollten. Die Leiterin steigert sich zu einem kräftigen Crescendo:

B-Ton 13: Leiterin des Kinderhauses           ((0,36)                  (… „Mi kagda rabotajim…                …bix „bes sexa“, Lachen und Stimmen

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegt halten, beim Stichwort „raschdajetsja“ kochziehen
Übersetzerin:  „Als wir jung waren, haben wir über Arbeit gesprochen. In der neuen Generation geht es vor allem um Lohn, Sex, Spekulation! Wie im Westen! Aber sind bei uns früher nicht auch gute, gesunde Menschen geboren worden? Ohne Sex?“

Regie: Nach dem Stichwort „raschdajetsja“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  „Eiserne Babuschkas“ werden Frauen mit dem Auftreten dieser Leiterin im Land genannt. Durch das Lachen angestachelt, steigert sie sich zu Warnungen darüber, dass die schlechte Moral den genetischen Fond verderbe. Darin bringt sie problemlos auch Tschernobyl noch mit unter. Das Volk werde immer schlechter. Das könne sie ja an den Kindern sehen, die in ihr Haus kämen. Die um eine Generation jüngere Logopädin wehrt immerhin ab: Ohne Sex gäbe es wohl keine neue Generation! Aber dann fällt sie doch selbst in den Tenor ein:

B-Ton 14: Logopädin im Kinderhaus             (052)          (… „I ponimaetje, pri“               … bis „eto situatia“)

Regie: Schnell hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzerin:  „Verstehen Sie! Unter den Bedingungen, die heute für Frauen in Russland gelten, werde ich kein zweites Mal gebären. Auch wenn man mir sagt, dass die Geburtenzahl sinkt. Aber nicht, weil ich es vielleicht nicht wollte, sondern erstens, weil ich allein stehe, und zweitens weil ich gar nicht wüsste, wie ich dem Kind eine Ausbildung geben sollte. So ist das! Ich will nicht! Und ich bin eine normale, gesunde Frau! Andere haben zwei, drei, vier Kinder – reihenweise Nachwuchs. Aber, bitte sehr, das sind Familien von Alkoholikern, wo er säuft, wo sie säuft. Sie rechnen so: Für das Kind bezahlt man uns Unterstützung; für eins kriege ich was, für zwei, bei dreien kann ich schon trinken. Aber die drei Kinder überlässt man sich selbst. Klar, dass die nicht gesund sind. Das ist blanke Degeneration! So geht die Nation zugrunde. Die Gebärhäuser bleiben leer. Das ist unsere Situation.“ (…situatia)

Erzähler: Olga, Leiterin des örtlichen Geburtshauses in Kurageno, einem ähnlichen Bezirkszentrum wie Tscherepanowo, aber eine Tagesreise weiter im Krasnojarsker Gebiet, ca. 25 000 Einwohner, erzählt, wie sich solche Ansichten in konkreten Zahlen niederschlagen:

B-Ton 15: Olga in Kurageno, Hebamme                (056)     (… „Nu, a wot rabotaju“ … bis „mjesto“)

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, am Ende wieder hochziehen, nach Stichwort „mjestno“ abblenden

Übersetzerin:  „Nun, ich arbeite hier jetzt seit sechzehn  Jahren. Als ich hier ankam, hatten wir im Bezirk 1200, 1300, 900 Geburten. Aber dann gab es einen ständigen Rückgang. Im letzten Jahr hatten wir 335. Im Jahr davor waren es noch 600. Also, es geht abwärts. In diesem Jahr fühlen sich die Leute bei uns offenbar besser. Jetzt haben wir im halben Jahr so viele Schwangerschaften, wie letztes Jahr im ganzen Jahr Geburten. Also, scheint es wieder aufwärts zu gehen.  Aber für die Städte gilt das nicht, nur hier im Dorf.“ (…mjesto“)

Erzähler: Es ist ein Rückgang um ein Viertel. Olgas hoffnungsvolle neue Zahlen können das kaum relativieren. Sie zeigen nur, dass in letzter Zeit zunehmend Menschen aufs Land flüchten, wenn sie Familie gründen wollen. Alexander Solschenyzin sprach im letzten Jahr gar von einem Rückgang der Geburten auf 8% der früheren Raten. Patriotische Blätter warnen bereits seit Längerem vor einem Aussterben des russischen Volkes. Irina Poltawskaja, St. Petersburg, in den letzten Jahren mehrmals als Organisatorin von wissenschaftlichen Kongressen zur Aufarbeitung der Vergangenheit der orthodoxen Kirche hervorgetreten, fügt dem Bild noch einen weiteren Aspekt hinzu:

B-Ton 16: Irina Poltawskaja                             (040)          (223: „Posmotritje, na to“                …bis „wot eta“

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, nach Stichwort „wot eto“ abblenden

Übersetzerin:   „Sehen Sie sich die jungen Leute an, die heute Kinder bekommen, wie sie heute ihre Kinder erziehen. Völlige Wildbahn in der Erziehung! Motto: Was wachst das wächst, wenn`s daneben geht, geht`s eben daneben. So lernen die Kinder nichts. Sie orientieren sich entweder auf der Straße, was nicht immer das Beste ist oder sie richten sich nach ihren Eltern, die in Sachen Erziehung ebenfalls stumpf sind. Das heißt, ein ganz anderes Niveau von Menschsein entsteht da.“ (…wot eto.)

Erzähler: Die Degradierung, dieser Verlust historischen und sozialen Bewusstseins, wie Irina Poltawskaja es nennt, betreffe im Übrigen alle Schichten. Das betreffe auch die geistliche Sphäre, die Kirche. Auch die Verkündigung bleibe auf einem derart primitiven Niveau, das den Leuten nicht helfe.

B-Ton 17: Irina Poltawskaja                            (059)          (… „Ja mago tolka…“               …bis prosche, lechsche“

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzung wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich kann nur sagen, um all das in den Griff zu kriegen, braucht es Zeit. Und vor allem Menschen! Denn alles hängt in dieser Frage von den Menschen ab. Wird es solche Menschen geben? Welches Potential werden wir in zehn Jahren haben? Nun, dann sind das diejenigen, die, sagen wir, zur Zeit Chruschtschows geboren wurden. Ich weiß einfach nicht, was in deren Köpfen heute los ist. Ich weiß von meinen Verwandten, dass es in der Schule zurzeit äußerst schwierig ist – sowohl für die Lehrer mit den Schülern als auch für die Schüler mit den Lehrern: Das Niveau ist nicht, wie es sein sollte oder die Kinder sind einfach schlecht erzogen und ohne jede Achtung. Was daraus wird, was jedes Kind daraus macht, das hängt natürlich auch von jedem einzelnen Kind ab. Das eine wird vielleicht etwas schaffen. Aber viele werden den einfachen, den leichten Weg gehen.“

(Regie: Hier kann evtl. eine neutrale, orchestrale Musik eingefügt werden)

Erzähler:      In den ersten pädagogischen Konzepten von 1985/6 sucht man solche Gedanken vergebens. Dort war vor allem von Umstrukturierung die Rede. Gorbatschow gab das Schlagwort von der „Computerisierung“ der Bildung aus. So sollte der Anschluss an das internationale Niveau geschafft werden. Versteckt unter Projekten mit dieser Zielsetzung bildeten sich Ende der Achtziger erste experimentelle Schulen. Im Schutz der offiziellen Losung verfolgten sie das Konzept einer repressionsfreien Schule. Nina Poliwanowa ist eine von denen, die diesen Weg gingen. Im Sommer 1990 erläuterte sie mir ihr Konzept, die Kinder nicht durch Druck, sondern durch eigenes Tun die Lösung finden zu lassen:

B-Ton 18: Nina Poliwanowa                     (042)          (… „It is important“ … bis „it is really“)

Regie: Zügig kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzerin wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Das ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist das der Weg, um die Bereitschaft zur Verantwortung zu stärken. Zweitens wissen wir, dass wir in unserem Land überhaupt keine gut ausgebildeten Lehrer haben. Die einzige Hoffnung kann daher nur auf den Schülern liegen, nicht auf den Lehrern. Die Hoffnung, das Bewusstsein der Erwachsenen ändern zu können, ist unrealistisch. Bei Kindern ist es möglich.“ (…“really“)

Erzähler:  Frau Poliwanowa hatte große Hoffnung.

B-Ton 19: Nina Poliwanowa, Forts.                       (033) (… „I think you can…               …bis „you understand?“

Regie: Zügig hochziehen, kurz stehen lassen, (spätestens bei „Communikation“) abblenden, unterlegen, nach Übersetzung wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich denke, wir können die guten Ergebnis sehen. Erstens: Diese Kinder sind frei in der Kommunikation mit den Lehrer und den Klassenkameraden. Und vor allem: Sie wollen unbedingt arbeiten! Sie wollen Fragen stellen! Und sie sind sehr gut bei Kompositionen. In unserem traditionellen System haben wir ja keine Komposition. Da gibt es nur Kopien, Sie verstehen?“ (…“you understand?“)

Erzähler: Hauptproblem war für Frau Poliwanowa damals, ob dies ein Modell für das ganze Land werden könne. Immerhin wurden bei ihrem Experiment dreißig Experten für hundert Schüler und Schülerinnen eingesetzt. Ein Schulplatz kostete, in damaliger Währung gerechnet, 250 Rubel – die Computerausrüstung nicht mit berücksichtigt. Für einen üblichen Schulplatz wurden nur anderthalb aufgebracht.
B-Ton 20: Nina Poliwanowa, Forts.                       (1,25) (… „So the problem itself“              … bis „it is real bad“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen.

Übersetzerin: „So wird das Problem sein, dass erst einmal eine Menge Neureicher diese Schule nutzen wollen. Und sicher muss die Schule sich an ihren Wünschen ausrichten. Das wird für alle privaten Schulen gelten. Für den Anfang ist das unvermeidlich. Das ist selbstverständlich erst mal nicht so gut. Aber später wird die natürliche Konkurrenz dafür sorgen, dass sich das ändert. Ich kenne viele Eltern, die so eine Schule wie meine wollen. Sie bilden die wirkliche Struktur unserer Gesellschaft. Die Schule wird notwendig mehr oder weniger dieser Struktur entsprechen. Es ist also nicht so schlimm. Wirklich schlimm ist, gar nichts zu versuchen.“ (…“it ist realy bad“)

A-Ton 13: Kinderhaus Materwelinskaja         (0,54)          (… Stöckelschuhe, Schritte, Stimmen…)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, zügig mit Erzähler darüber gehen, unterlegt halten. (Falls Ton nicht ausreicht, dann in der Mitte ein Stück ganz ausblenden oder das Stöckeln einfach verlängern)

Erzähler: Vier Jahre danach: Besuch im Kinderhaus „Materwelinskaja“, einem vor- und außerschulisches Kulturhaus für 1500 Kinder in einem Vorort von Perm. Auf dem Weg ins Büro des Direktors. Inzwischen hat sich die soziale Differenzierung als das Hauptproblem herausgestellt. Viele Schulen haben geschlossen. Lehrer und Lehrerinnen, als sog. „budgednikis“, gehören zu den am schlechtesten bezahlten Menschen des Landes. Viele haben monatelang überhaupt keinen Lohn mehr gesehen. Sie müssen sich ihren Lebensunterhalt mit Nebenarbeiten verdienen. Da bleibt für die Kinder nicht mehr viel Zeit. Neue Schulen, die heute nicht nur in Moskau, sondern auch an anderen Orten entstanden sind, kosten das drei- oder vierfache dessen, was die Gewerkschaft als Existenzminimum ausrechnet. Aber auch diese Schulen werden von Lehrerinnen oder Lehrern betrieben, die im alten System gelernt haben. Die Mafia beginnt sich darauf zu spezialisieren, Kinder abzufangen, die auf solche Schulen gehen, um Lösegeld zu erpressen. Unter all diesen Umständen werden Einrichtungen wie „Materwelinskaja“ zu Inseln im tobenden Meer. Aber in der Antwort des Direktors auf die Frage, was sich in den letzten fünf Jahren verändert habe, wird deutlich, dass es auch dort heute in erster Linie um die Finanzen geht:
(… Stimmen)

B-Ton 21: Direktor des Kinderhauses           (101)                                  (… Perwie  bis … twortschikom)

Regie: O-Ton verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, am Ende hochziehen.

Übersetzer:    „Vor allem änderte sich die Frage der Finanzierung. Früher war dies ein gewerkschaftseigenes Haus. Den Unterhalt trug das Lenin-Werk. Alles Übrige, Kultur, Arbeitskreise, Künstler, alle möglichen Zuarbeiter, Regisseure, Verwaltung – das zahlte alles die Gewerkschaft. Jetzt müssen wir alles selbst aufbringen. Auch von der Stadt kommt nichts. Es gibt nur Absprachen von Mal zu Mal. Wenn der Bezirk ein Fest machen will, machen wir einen Vertrag – mit dem Bezirk, mit der Stadt, mit der Region, mit der Fabrik, mit dem Gewerkschaftskomitee. Wenn sie dann zahlen, führen wir das durch. Das geschieht alles auf rein kommerzieller Grundlage. Das heißt, heute bin ich einerseits in schöpferischer Hinsicht vollkommen frei. Als Künstler, als Betreiber eines solchen Hauses, als schöpferischer Arbeiter habe ich heute vollkommene Freiheit für die Entwicklung meiner Fähigkeiten. Niemand schränkt mich ein. Aber auf der anderen Seite hatte ich ein festes Einkommen. Der Staat garantierte es mir – jetzt nicht. Jetzt muss ich es für mich und für meine Mitarbeiter ranschaffen. Und sollen die Kinder auch noch kostenlos verpflegen. Das löscht mich als schöpferischen Arbeiter aus.“

Erzähler: Aber natürlich werde er nicht aufgeben. Schließlich sei er selbst in dem Haus aufgewachsen und inzwischen seit siebenundzwanzig Jahren dort tätig. Man werde schon Wege finden. Nach dieser Selbstermutigung spricht Wassili Alexandrow über die moralische Wende der letzten Jahre. Nicht nur die Gesellschaft allgemein, auch die Kinder haben sich verändert, meint er:

B-Ton 22: Direktor, Forts.                              (114) (… „Djeti stali…“              … bis „o tschom pogowori“

Regie: Ton zügig kommen lassen, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Die Kinder wurden, nun sagen wir, sie haben heute eine große Auswahl. Alle Kulturhäuser und Schulen, Klubs und Aufenthaltsore bieten eine breite Palette von Freizeitbeschäftigung für sie. Früher hat es das nicht gegeben. Jetzt hat das Kind die Möglichkeit auszuprobieren, selbst zu bewerten. Wenn es ihm gefällt, bleibt es, wenn nicht, dann nicht. Früher haben wir ja auch Angebote gemacht. Aber das blieb doch alles im engen Rahmen. Jedes Haus musste praktisch einen Satz vergleichbarer Komplexe anbieten. Jetzt ist das anders. Jetzt hat jedes Haus sein eigenes Gesicht, wofür es steht, worin es sich von anderen unterscheidet. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Kinder rationaler werden. Ja, rationaler! Sie wählen das, was ihnen nützt! Und da nun tagtäglich die Rede davon ist, dass jeder lernen sollte, Geld zu verdienen, ist es natürlich das, was die Kinder am meisten beschäftigt. Früher war das nicht so. Das ist zugleich gut und schlecht. Da gibt es einiges, worüber man reden muss.“ (..“o tschom pogowori“)

Erzähler: Auf der einen Seite, fasst der Direktor zusammen,  ergebe sich durch die neue Vielfalt eine große Möglichkeit für die Kinder, spielerisch zu lernen, ohne Zwang ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Er selbst befürworte das sehr. Zum Beweis führte er gleich seine Anzüge vor, die er trägt, wenn er, wie er es oft und wie man ihm ansieht, gern tut, den „Skomoroch“, den russischen Hans-Wurst spielt. Er sehe aber auch die Gefahr, dass die sozialen Fähigkeiten, die Fähigkeit zur Gemeinschaft, zu „obschtschina“, verschüttet würden, die die russischen Menschen immer besonders ausgezeichnet hätten, dass jeder nur noch an sich selbst denke.

B-Ton 22: Direktor, Forts.                 (Band 94/40/a)          (… 607: „W etom odnoschennije…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: „In dieser Beziehung gibt es einiges zu überdenken. Wir sagen doch immer: sei offen, sei hilfsbereit! Die Religion propagiert die Liebe, die Unterstützung für den Nächsten: Nimm auf Deine Schultern die Last des anderen Menschen, hilft ihm, lindere sein Leiden! Wie haben wir immer gesprochen? Wichtig ist, dass ich den Mensch nicht nur danach beurteile, was er mir gegeben hat, sondern dass Du mich verstehst. Wichtig ist das Mitleiden mit den anderen. Es ist manchmal alles so schwer, aber dann redest du mit anderen; du siehst einfach, dass die, mit denen du redest, dich verstehen – dann ist alles einfacher, leichter.“ …(prosche, lechsche“

A-Ton 14: Lehrerinnen im Kinderhaus                     (0.25)          (…Halle,Gemurmel, Stimmen…)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Erzähler: In den Gängen des Hauses treffe ich auf eine Gruppe von Lehrerinnen. Aus der Beratung mit ihnen hatte ich den Direktor vorher geholt. Rückhaltlos beklagen sie die desolate Lage an den Schulen, den allgemeinen Zynismus, ihre eigene Überforderung. In drei Schichten werde bei ihnen unterrichtet, erzählt eine junge Frau. Bei den anderen ist es nicht viel besser. Umso höher schlägt das Lob für den Direktor des Freizeithauses. Begreift man sich als Arbeitskollektiv, das gemeinsam plant?

B-Ton 23: Erste Lehrerin                   (018)          (… „Nicolai Wassiljewitsch?…      …tolko)

Regie:  Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Übersetzerin: „Wie sonst! Und nur mit ihm! Ohne ihn sind wir  wie ohne Arme und ohne Beine. Bei uns in der „Schule 48″ läuft nichts mehr außer Routine. Wir leben praktisch von diesem Haus hier. Alle anderen Möglichkeiten sind hin. Für unsere Schule sage ich: So, und nur so! Ohne dies hier sind wir hilflos.“ (… „bes nix mi ni kuda)

Erzähler: Die umstehenden Frauen stimmen zu. Eine von ihnen, die in einer erst vor zwei Jahren fertig gestellten Muster-Schule arbeitet, in der es sogar eine Sauna gibt, ergänzt:

A-Ton 15: Zweite Lehrerin                          (0,21)                           (…“U menja swjo est                   …bis Lachen, Stimmen)

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochkommen, mit Lachen abblenden

Übersetzerin:  „Wir haben alles, aber trotzdem ist es so, dass wir die Dinge, die hier gemacht werden, einfach nicht schaffen. Uns fehlt das Kulturprogramm. Das finden wir hier. Wassili Alexandrow ist eben ein befähigter Mann. Deshalb kommen wir alle gern hierher, um uns mit ihm zu beraten. “ (…Lachen)

B-Ton 24: Lieblingslied der Kinder von Tscharypowo (Band 94/32/B)      (…133: Lied „Prichadi kwam…“          bis Ende

Regie: O-Ton weiter hochziehen, aber noch unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen, dann ausblenden.

Erzähler: Der Sonntag von Tscharypowo und der Alltag von Perm liegen zwar mehr als zweitausend Kilometer voneinander entfernt. Und wenig scheinen die Welt der Bachai und die Besinnung auf die Tugenden der russischen „obschtschina“ miteinander zu tun zu haben. Aber es scheint, dass sie für viele doch näher beieinander liegen, als meine russischen Freunde in Tscharypowo dachten. Was beides verbindet, ist die Hoffnung auf Personen wie Wassili Alexandrow, der sich in einer aussichtslosen Situation mit ganzer Person engagiert und die Sehnsucht nach dem Erhalt der Gemeinschaft. Den Kindern ist zu wünschen, dass sie von beidem das Beste erhalten.

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