Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen

Rußlands Krise fordert Lösungen. Seit dem Bankenkrach vom August 1998 reden alle davon, daß Reformen in Rußland an den gewachsenen Strukturen ansetzen müssen. Auch auf westlicher Seite ist man zu neuen Einsichten gelangt. So erklärte Horst Köhler, Präsident der Ost-Europa-Bank, der Westen könne Marktwirtschaft und Demokratie nur dann auf Dauer in Rußland verwirklichen, wenn er sie in der Kultur, der Geschichte und in  den Traditionen des Landes verankere. Was sind diese traditionellen Strukturen? Wie wäre anzusetzen? Von den Auseinandersetzungen um diese Fragen soll in den folgenden dreißig Minuten die Rede sein.

A: O-Ton 1: Tusch, Straßenmusik            1,00
Regie: O-Ton bis zum Beginn des Wortbeitrags frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Sprecher:
Stadtfest im sibirischen Irkutsk. Die Stadt erinnert sich ihrer Geschichte, die mit der Erschließung des Landes durch unabhängige Kaufleute im 16. Jahrhundert begann. Mit der Kolonisierung durch kosakische Abenteurer, durch besonders wagemutige Bauern, durch Verbannte, Jäger, kurz, durch besonders aktive, oft eigenwillige Menschen setzte sie sich fort. Man ist stolz auf diese Tradition. Sogar im Unterhaltungsrogramm der Freilichtbühne weist der Moderator auf diese Pionierrolle des Landes hin. Sibirien bleibe ein Zentrum des wirtschaftlichen Aufbaus für Rußland, verkündet er. Begeistert fällt sein Auditorium ein.

Regie: hochziehen, abblenden

Sprecher:
Am Rande des Volksfestes treffen sich Soziologen, Politologen und mittlere Geschäftsleute mit Vertretern der regionalen Bürokratie zu einer Beratung über die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des nach ihr benannten Verwaltungsbezirks:

B: O-Ton 2: Versammlung in Irkutsk            0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Na uriwinje antimoskowskowo…
„Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die hier verhandelt wird. Oleg Woronin, ehemals für die Perestroika engagiert, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und erfolgreicher Geschäftsmann, spricht zum Thema: „Kompromiß als Weg“.  Ohne Mikrofon, heftig und mit einer sich oft überschlagenden Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Konkurrenz, in der die Moskauer Finanzclans zueinander stehen, für eigene Interessen, konkret, für die Sanierung der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab will man zusammenstellen, welcher der regionalen Bürokratie bei der Entwicklung der örtlichen Wirtschaft zur Hand gehen soll.
Wie in Irkutsk gibt es heute überall im Lande Diskussionen und Projekte, wie die überstürzte, totale Privatisierung wieder in soziale Bahnen gelenkt werden kann. Dabei spielt die Bildung von Räten, russisch: Sowjets, die sich aus örtlichen Vertretern der Konzerne, aus mittelgroßen Unternehmen, aus Wissenschaftlern und aus Vertretern der örtlichen Bürokratie zusammensetzen, eine wichtige Rolle. Was in Irkutsk zutage tritt, hat sich schon länger im Lande vorbereitet. In der Landwirtschaft geriet die Privatisierung bereits nach einem Jahr ins Stocken. Für Ende 1992 hatte die Regierung die Gründung von 400.000 privaten Höfen in Aussicht gestellt; es wurden 180.000; bereits 1993 stagnierte ihre Zahl dann bei 270.000. Die angekündigte Umwandlung der Kolchosen in Aktiengesellschaften war zwar Ende 1993 nahezu vollzogen; die landwirtschaftliche Produktion aber sank Jahr für Jahr. 1994 arbeitete bereits die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe mit Verlust; die Zahl der privaten Höfe war rückläufig. Selbst früher gesunde Betriebe gerieten in die roten Zahlen. So etwa die ehemalige Mustersowchose Tulinskaja im sibirischen Gebiet Nowosibirsk, die schon 1991 privatisiert wurde. Wassili Horn, ihr Direktor, beschreibt die Gründe für den Verfall:

B: O-Ton 6: Direktor Horn            1,13
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Übersetzer:
„Nu, bil sowchos, stal…
„Nun, wir waren eine Sowchose, jetzt sind wir eine Aktiengesellschaft. Kern der Aktiengesellschaft ist das gemeinschaftliche Wirtschaften wie vorher auch, nur daß das Eigentum formal in die Hände der Aktionäre übergegangen ist. Das heißt, die Sowchose ist kein staatliches Unternehmen mehr, sondern ein privates, jeder hat seinen Anteil vom Vermögen bekommen, vom Land. Es ist alles normal: Gewählt wurde eine Verwaltung, gewählt wurde ein Sowjet, also ein Rat. Das Problem ist nur, daß die Leute sich nicht als Eigentümer fühlen. Und was ist das Ergebnis? Unzuverlässigkeit, Veruntreuung, Diebstahl! Und dann gibt es die, die man überhaupt vergessen kann, die einfach nur auf Kosten der anderen leben wollen, saufen, klauen, sich vergnügen. Wohin mit ihnen? Früher hatten wir Regeln, wir hatten unsere Arbeitsmoral. Heut gilt: Jeder für sich! Wir haben keine gesetzliche Befugnis mehr. Ich bin Chef, dann gibt es noch den Administrator. Wir sollen entscheiden, sollen alles am Laufen halten, aber wie, wenn es keine Basis, keine Gemeinschaft mehr gibt?“

Sprecher:
Früher war der Arbeitseinsatz durch die unaufkündbare Zugehörigkeit der Sowchosmitglieder zur Gemeinschaft geregelt; heute können sie die Sowchose über den Verkauf ihres Anteils verlassen, wenn ihnen die Anordnungen des Direktors nicht passen – nach dem Gesetz; in Wirklichkeit ist ihr Anteil außerhalb der Sowchose nichts wert. Statt Selbstbestimmung und Verantwortung des einzelnen Sowchosmitgliedes zu stärken, wie von den Ideologen der Privatisierung vorhergesagt, zerstörte die Privatisierung den gewachsenen Lebenszusammenhang. Im Lauf weniger Jahre nahm die soziale  Destabilisierung kriminelle Ausmaße an; aus der Mustersowchose wurde ein Pleitebetrieb.

A: O-Ton 9: Ankunft in der Molkerei                 0,48
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Erzähler:
Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…
In der Molkerei. Früher war sie eine wichtige Einnahmequelle der Sowchose; jetzt reicht es gerade noch für den Eigenbedarf. Der Unmut ist unüberhörbar:

O-Ton 10: Molkerei, Forts.                           1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler hochziehen

Erzähler::
„Nelsja bila, swjo…
„Es war nicht richtig“, meint diese Frau, „das Alte so mit Gewalt umzustürzen.“

Übersetzerin:
„Man hätte das Neue auf der Grundlage des Bestehenden einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch private Bauern bei uns geben oder andere private Arbeiten, aber das müßte parallel laufen. Hier dagegen haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler:
Auch von Demokratie, die mit der Privatisierung Einzug halten sollte, keine Spur. Von einer neuen Selbstverwaltung, mit der die Regierung die aufgelösten Rätestrukturen ersetzen möchte, will man nichts wissen: Wie das denn aussehen solle, fragt eine Frau. Früher habe es die Familie gegeben, wirft eine andere ein; früher habe man sich dem Ältesten untergeordnet; früher habe man einander geholfen. Aber jetzt? Freiheit selbst zu entscheiden sei gut, aber ein Betrieb brauche nun einmal ein gutes Kollektiv und eine starke Hand. Darin sind sich alle einig. Sonst versinke alles im Chaos und Rußland zerfalle.

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Auf dem Lande war damit bereits 1994 klar, daß die Überführung der kollektiven landwirtschaftichen Strukturen in privatwirtschaftliche Unternehmen nicht ohne Weiteres möglich sein würde. Im industriellen Bereich ist es nicht viel anders. Auch hier scheiterte die Privatisierung an den bestehenden betrieblichen Verhältnissen. Das Programm, mit dem Boris Jelzin 1991 antrat, zielte zwar auf die Auflösung der Betriebskollektive, das heißt, auf die Auflösung der Einheit von Betriebsleitung und Belegschaft. In der Vetternwirtschaft der Kollektive sahen Jelzin und seine Reformer die Hauptursache für die wirtschaftliche Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft. Die Kollektive, also Leitung und Belegschaft gemeinsam, sollten bei der Umwandlung der Betriebe in Aktiengesellschaften deshalb unter keinen Umständen in den Besitz von Mehrheitspaketen kommen. Nur durch das Hereinholen von betriebsfremdem Kapital glaubte man den sowjetischen, den kollektivistischen Schlendrian brechen zu können. Aber nur für Spitzenbetriebe war dies durchsetzbar, wo sich genügend außerbetriebliche und auch ausländische Interessenten fanden; die Masse der nicht so profitablen, erst recht der bankrotten Betriebe aber blieb auch als Aktiengesellschaft in der Hand der Betriebskollektive, die versuchten, irgendwie durchzukommen. Die meisten dümpeln bis heute so vor sich hin; einige sind aber ganz erfolgreich. Zu ihnen gehört die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk, die wegen des seit Jahren anhaltenden Baubooms außerordentlich günstige Vorausssetzungen hat. Sie wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wie alle Betriebe; dennoch tritt die Belegschaft heute als stolzes Kollektiv auf:

A: O-Ton 11: Kollektiv der Eisenbetonfabrik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden         0,17

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin des Mannes erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 12: Eisenbetonfabrik, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden          1,39

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitätserzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur etwas versprechen und es dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Unser Produkt muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deshalb ist die Stimmung bei uns im Allgemeinen sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über zwölf Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
A: O-Ton 13: Kollektiv, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden        1,38

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb in unserer Region, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Hier wird rechtzeitig der Lohn gezahlt, hier wird Krankengeld gezahlt, Essen usw. Bei uns gibt es kostenlos Milch, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus in unserem Land gab – und die gab es –  die haben wir jetzt noch besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. Ist also im Grunde alles beim Alten geblieben? Aber nein, keineswegs, antwortet die Arbeiterin. Da gebe es einen entscheidenden Unterschied:

B: O-Ton 14: Kollektiv, Forts.         2,11
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Rat der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.“

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten jeweils  Anteile zwischen ein bis drei Prozent.  Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt den Rat der Aktionäre, den Sowjet: Er hat neun Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Rates und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt an den Sitzungen des Rates teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Er hat nur eine Stimme wie alle anderen. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet, aber niemand macht zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des durchschnittlichen Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
Die Eisenbetonfabrik Nr. 4 ist als Musterbetrieb, der die Öffnung für die Marktwirtschaft, effektive Modernisierung und rigides Arbeitsklima mit dem Bemühen um soziale Betriebspolitik verbindet, seit 1991 mehrfach ausgezeichnet worden. Sie soll ein Vorbild für andere Betriebe sein.
Umfragen zeigen allerdings: Die akzeptieren zwar das Modell, sehen sich aber außerstande, es aus eigenen Kräften zu verwirklichen. So etwa erklärt Viktor Schmid, Direktor der Krasnojarsker Waldmaschinenfabrik, nachdem er die Arbeit Eisenfabrik in höchsten Tönen gelobt hat:

A: O-Ton 15: Direktor Schmidt             0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“ My etawa nje djelajem…
„Wir machen es hier nicht so, weil die allgemeine Lage es nicht zuläßt. Die können es dort so machen, aber das ist nur eine Fabrik, die gut lebt. So geht es natürlich nicht überall! Wir müßten entlassen, um solch ein Niveau zu halten.  Es ist klar, daß es nur geht, wenn dieses Modell allgemeine Linie wäre, wenn es durch ein staatliches Programm gestützt würde. Wir Direktoren sind ja keine Dummköpfe, wir wissen natürlich, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie profitabel arbeiten. Aber wohin mit den anderen? Wenn wir sie entlassen, werden sie vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben; sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…widemo gossudarstwo

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Für die Mehrheit der russischen Betriebe weist die Produktivitätskurve immer noch abwärts. Die Zahl der Arbeitslosen hat die Zehn-Prozent-Marke längst überschritten. Genaue Angaben verlieren sich im Dunkel der arbeitslos Beschäftigten, das heißt, jener Millionen von Belegschaftsmitgliedern, die von Betrieben wie der Waldmaschinenfabrik in Krasnojarsk auch ohne Arbeit, in vielen Fällen auch ohne Lohn gehalten werden, allein um soziale Unruhen zu vermeiden, die entstehen würden, wenn die Menschen mit der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem des Betriebs auch das letzte Minimum an sozialer Sicherheit verlieren würden. Aller Augen richten sich daher heute auf den Staat, von dem erwartet wird, daß er durch Regulierung des Marktes Impulse für die Entwicklung der Volkswirtschaft setzt, welche die Entwicklung der privaten Unternehmensstruktur fördern, zugleich aber eine soziale Explosion vermeiden.
Selbst im Bereich der sogenannten kleinen Privatisierung, nämlich in dem der Kooperativen und Kleinunternehmen sind vergleichbare Phänomene der Orientierung auf den Staat zu beobachten, nachdem es dort ganz anders begonnen hatte. Schon Ende der Achtziger, vermehrt nach dem Einsetzen der Schockprivatisierung 1991 machten sich Kooperativen auf, um den zusammenbrechenden staatlichen Dienstleistungsbereich durch private Initiative zu ersetzen. Ein Beispiel unter Tausenden ist die „Klinik 2000“ in Nowosibirsk. Drei Frauen waren die Initiatorinnen; sehr bald schon hatte sich eine Kooperative von über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefunden, die ein privates psychotherapeutisches Ambulatorium gründeten:

B: O-Ton 16: Klinik 2000            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Methoden der Laser-Akupunktur sind Mitarbeiter der Klinik unterwegs, um Trinker, Fettleibige und Raucher in öffentlichen Zusammenkünften mit anschließender Einzelbehandlung von ihrer Sucht zu heilen. Heut arbeitet man im Kulturhaus von Borodino in der Region Krasnojarsk; morgen ist es Tomsk, Omsk, Wladiwostok oder Perm. Was früher von staatlicher Gesundheitspolitik abgedeckt wurde ist für ein paar Jahre Domäne privaten Engagements. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber schon seit Mitte der 90er werden die Grenzen sichtbar. Steigende Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne führen zu sinkenden Teilnehmerzahlen bei den Sitzungen. Die Steuern steigen; jede Region, jeder Ort verlangt darüberhinaus eigene Lizenzen, kassiert eigene Gebühren, eigene Steuern. Die Preise für Bahn, Bus und Flugzeug, ohne welche die Einsätze über Land nicht möglich sind, steigen unaufhörlich. Im Sommer 1996, zurück aus Belowo, einer der Kohlestädte des Kusbass, in der die Kooperative seit 1991 kontinuierlich tätig war, muß Irina, eine der Ärztinnen, ihre Kolleginnen und Kollegen mit schlechten Nachrichten konfrontieren:

O-Ton 17: Klinik 2000, Forts.        0,38
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Dwa iswestije…
„Zwei Neuigkeiten gibt es. Erstens: Von den fünf Schächten der Stadt sollen drei demnächst geschlossen werden. Das bedeutet: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, viele Leute wollen zu uns, weil wohl zuerst die Trinker entlassen werden. Die andere Nachricht ist: Seit mehr als drei Monaten haben die Bergleute keinen Lohn mehr bekommen und man hat ihnen gesagt, daß auch für die kommenden Monate keiner in Aussicht steht. Das heißt, sie haben kein Geld und werden darum nicht zu uns kommen können.“

Erzähler:
Das ist das Aus für die ambulante Überlandpraxis. Es bleibt zunächst die städtische Klientel, die sogannte Mittelschicht, die sich im Privatisierungsboom seit 1991 gebildet hat. Mit dem Bankenkrach vom August 1998 bricht auch diese Schicht weg. Die Kooperative ist nun auf die Nachsicht der Bürokratie. Zum Beispiel in Steuerangelegenheiten, und auf Zusammenarbeit mit dem staatlichen Gesundheitsbereich angewiesen, um zu überleben.
Ähnlich geht es dem ganzen Bereich: Dienstleistungsbetriebe wie die „Klinik 2000“, private Initiativen jeglicher Art, selbst junge Geschäftsleute sehen sich gezwungen, wieder unter ein staatliches oder quasistaatliches Dach zu flüchten. In Nowosibirsk zum Beispiel firmiert es inzwischen unter der Bezeichnung „Verwaltungsabteilung zur Herstellung von Verbindungen zu Organisationen des Dritten Sektors.“ Dritter Sektor heißt in Rußland heute jener Bereich, der sich zwischen Staat und „Bisness“ organisiert hat und den staatliche Stellen im Interesse sozialer Stabilisierung unter Kontrolle zu nehmen versuchen. Der Leiter dieser Abteilung, Georgi Tschulinin, ist weit entfernt davon, in der aktuellen Entwicklung etwas Negatives zu sehen:

B: O-Ton 18:  Abteilung für 3. Sektor in Nowosibirsk         0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Ja dumaju, schto..
„Ich glaube, daß der Dritte Sektor, von dem einige meinen, er habe mit Politik nichts zu tun, ganz im Gegenteil höchste Politik ist. Da geht es nämlich um den schrittweisen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft; da geht es nicht nur um die Ergreifung der Macht, nicht nur um privates `Bisness´, da geht es um Interessen der ganzen Gemeinschaft. “

Erzähler:
Über eintausend Organisationen – politische, kulturelle und wirtschaftliche – seien schon erfaßt, schwärmt Herr Tschulinin. Frau Natalja Dimitriewa, die sich als Verbindungsglied zwischen Verwaltung und aktiven Frauen des dritten Sektors begreift – dabei sehr auf ihre Basisbezogenheit pocht – spricht sogar von einer Wiedergeburt traditioneller kollektiver Strukturen im neuen Gewande:

A: O-Ton  19: Frau Dimitriewa             1,20
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„Ja, tolka magu schto skasats…
„Ich möchte es einmal so sagen: die Formen des Gemeinschaftslebens, die wir in der sowjetischen Zeit hatten, haben uns natürlich das kollektive Arbeiten gelehrt, positiv wie negativ, aber vor allem das Gefühl vermittelt, daß es noch einen Nachbarn gibt. Das ist natürlich etwas sehr Gutes. Als dann das Fenster zum Westen aufgemacht wurde, zerfiel das alles. Aber es verschwand natürlich nicht einfach. Was gut daran war, das Gefühl eben, ein Zuhause zu haben, zusammenzugehören, das wollen wir natürlich bewahren; das wollen wir natürlich an unsere Kinder weitergeben. Dieser Wunsch nach etwas Verbindendem zwischen Politik und Geschäft, der spiegelt sich jetzt in diesem Dritten Sektor wieder.“

Erzähler:
All diese Vorgänge zeigen: Nach gut zehn Jahren anarchischer Privatisierung deutet sich ein Wiedererstarken staatlicher Strukturen an, aber nicht in der Form, wie es in der Sowjetunion üblich war. Etwas Neues entsteht, das sich mit vorsowjetischen Traditionen zu einer ungewöhnlichen Mischung verbindet – die man eine kollektive Privatisierung nennen könnte: Die Bauern öffnen sich für den Markt, aber produzieren und leben weiter in ihren dörflichen Gemeinschaften, ja, schließen sich nach vorübergehenden Experimenten als Privatbauern den Gemeinschaften wieder an. Industriebetriebe wurden privatisiert, die Einheit von Arbeit und außerbetrieblichem Leben aufgelöst. Die Mehrheit der Betriebskollektive, also Direktoren und Belegschaft gemeinsam, versteht sich heute aber als Notgemeinschaft, die zusammen mit örtlichen und regionalen Bürokratien nicht nur für die Produktion, sondern für das Überleben der von ihr abhängigen Bevölkerung zu sorgen hat. Ein Boom privater Organisationen entwickelte sich in der Versorgungs- und Freizeitlücke, die der Zusammenbruch der staatlichen Pyramide hinterließ, aber nicht Unabhängigkeit, sondern Kooperation mit den Behörden bestimmt ihre Entwicklung. Einen „nicht standardisierten Weg zum Kapitalismus“ nennt der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitski, ein Freund des Irkutsker Soziologen Oleg Woronin aus alten Perestroikatagen, diese Entwicklung und beschreibt sie mit den Worten:

B: O-Ton 22: Kagarlitzki             2.08
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Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geschieht? Alles wurde inzwischen privatisiert, nicht wahr? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe als Gemeinschaftsbesitz erneut zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Òbschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, entsteht aufs Neue, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in veränderter Form, in spontaner Weise, von der Not der Verhältnisse hervorgebracht. Die Betriebe befinden sich nun einmal in einer desolaten Situation – also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie erneut zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer und noch diese Initiative und jene Organisation und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen neuen, aber von unten legitimierten Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Das ist Selbstorganisation, allerdings nicht etwa der Massen, sondern der mittleren Bürokratie zusammen mit der örtlichen Intelligentia. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt von regionalen Bedingungen und von der politischen Entwicklung ab.“

Erzähler:
Entgegen den Erwartungen ihrer Befürworter führte die Privatisierung keineswegs zum sofortigen Zusammenbruch des sowjetischen Kollektivismus. Die Schwierigkeiten der Privatisierung ließen vielmehr ein Element der russischen Sozialverfassung wieder hervortreten, das weit hinter die Sowjetunion in die russische Geschichte zurückreicht, die Òbschtschina. Kagarlitzki erklärt, was darunter zu verstehen ist:

O-Ton 23: Kagarlitzki, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden         1,30

Übersetzer:
„I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was war ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das war im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst war so organisiert. Für den Staat war das bequem. Was da entstand, war kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie – das gibt es sowieso nicht. Das war die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion, dies um so mehr als man darum herum auch wohnte: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. So war es und so ähnlich geht es heute bei uns weiter. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerlichen Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: Die Administration schaut auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“

Erzähler:
Rußland ist also dort wieder angekommen, von wo es bei Beginn der schnellen Privatisierung 1991, also beim Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin ausgegangen war – bei dem Versuch der schrittweisen Transformation seiner traditionellen Gemeinschaftsstrukturen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse Die Zerrüttung der Wirtschaft nach zehn Jahren anarchischer Beschleunigung der Umverteilung läßt heute keine andere Wahl mehr als diesen vorsichtigen Kurs. Kritiker der Schockprivatisierung forderten eine solche Rücksicht auf die gewachsenen Verhältnisse schon vor Jahren. So etwa der sibirische Ökologe Gennadij Schadrin, der bereits nach dem Scheitern der Landreform formulierte:

B- O-Ton 24: Schadrin            1,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„We nasche….
„In unserer neuen Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Das sollte auch nicht geändert werden. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:
Inzwischen sind solche Töne auch von denen zu hören, die bisher taub für die Rücksicht auf traditionelle Strukturen Rußlands waren. Nur ist in den neueren soziologischen Studien Rußlands, etwa solchen, die im Auftrag der russischen Zentralbank durchgeführt werden, nicht von „traditionellen Strukturen“ die Rede. Solche Formulierungen erfreuen sich unter Rußlands Modernisierern keiner besonderen Beliebtheit. Sie sprechen, ganz im Tenor westlicher Soziologie, von der notwendigen Berücksichtigung des „Humankapitals“. Wenn es aber darum geht zu erklären, worin dieses Kapital besteht, dann lautet das Stichwort dafür: Korporative Ethik. Korporative Ethik, erklärt Jussiv Diskin, der solche Studien für die Zentralbank durchführt, sei gegenwärtig das Schlüsselproblem für den Aufbau einer Marktwirtschaft in Rußland; ohne Beachtung der korporativen Ethik werde sich in Rußland nichts entwickeln. Gemeint ist auch bei ihm wieder die Verbindung von Staat und gewachsenen Gemeinschaftstrukturen, die in der Tradition der Òbschtschina stehen. In den bevorstehenden Wahlen wird darüber entschieden, ob und wie diese Verbindung zustandekommt. Es ist auch eine Entscheidung darüber, ob die weitere Kapitalisierung Rußlands schrittweise oder in der Form südamerikanischer Entwicklungsdiktaturen stattfinden wird.

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