„Happy China“ als „chinesische Prinzip“? Einladung zum Treffen des „Forums integrierte Gesellschaft“

Unsere zweite Reise nach China brachte ebenso eine Überraschung wie unsere erste vor einem Monat – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Geplant hatten wir ausdrücklich, positive Eindrücke, Fakten, Vorstellungen zu China zusammenzutragen, um dem Bild eines autoritären Monsters, das uns letztes Mal bedrängt hatte, die Frage entgegenzustellen, ob in China nicht auch Entwicklungen stattfänden, die dem von Jeremy Rifkin benutzen Begriff einer kommenden „empatischen Zivilisation“ entsprechen könnten und wenn, dann welche. Das Ergebnis war verblüffend – mit dem für dieses Mal gewählten Ansatz landeten wir genau auf der anderen Seite des Themas wie letztes Mal, nämlich bei dem Bild einer Bevölkerung, die trotz Effektivitätsstresses staatlich geplanter Modernisierung und ungeachtet des im Westen verbreiteten Eindrucks, dort herrsche eine Diktatur, ihren Alltag in einem für westliche Begriffe nur schwer verstehbaren lockeren Gleichmut lebt.

Unsere Diskussion entwickelte sich dieses Mal entlang eines Fotovortrag, mit dem einer der Teilnehmer der Runde seine Eindrücke von mehrfachen Reisen nach China vorstellte. Schwerpunkte seines Vortrags waren der Bauboom am Beispiel Shanghais, der gleichwohl Raum lasse für „gemütlichen“ Altbestand. Des weiteren zeigte er Bilder, aus denen ersichtlich wurde, wie wenig, fast gar nicht Militärisches im öffentlichen Alltag präsent ist und schließlich Beobachtungen aus dem öffentlichen Raum, die eine verblüffende Diversität, Buntheit und Gelassenheit des alltäglichen Lebens ausstrahlen.

Andere Mitglieder unserer Runde, die sich in China aufgehalten haben – u.a. ich bei meiner Reise entlang der russisch-chinesisch-mongolischen Grenze 2002 – konnten diesen Eindrücken einer emsigen, praktisch orientierten und zugleich lässig sich um seine Alltagsbelange kümmernden Bevölkerung weitgehend zustimmen: Ja, diese Bilder einer geschäftigen, zielstrebigen und zugleich lockeren Vielfalt sind typisch für das China von  heute, gleich ob in Schanghai oder an anderen Orten des Landes – wenn man sich nicht gerade in Konfliktzonen bewegt wie in den  Uigurischen oder tibetischen Provinzen. Auf der Straße ist keine Diktatur erkennbar. In den öffentlichen Szenen dokumentiert sich so etwas wie ein „Chinesisches Prinzip“, das schon bei Laotse und Kungfutse nachzulesen ist, nämlich, dass weise Staatskunst darin bestehe, dem Volk den Bauch zu füllen, feste Rituale zu geben, den Kopf aber leer zu halten von überflüssigem Wissen. Dieses Prinzip hat die kommunistische Partei nicht erfunden; das ist uralte chinesische Staatskunst und allgemeiner kultureller Bestand.

Widerspruch rief jedoch ein Foto hervor, das zwei Männer zeigt, offensichtlich arbeitslose Wanderarbeiter, die mitten in der Stadt auf einer der ausladenden Eingangsballustraden eines hoch offiziellen Gebäudes kampieren. (siehe dazu das Bild im Anhang) Locker hocken sie mit nacktem Oberkörper auf ihren ausgebreiteten Decken, offensichtlich im angeregten Gespräch miteinander beschäftigt – und dies nicht  nur ein paar Stunden oder einen Tag, sondern offenbar für längere Zeit, mindestens eine Woche, ohne dass irgendjemand daran Anstoß genommen habe oder die Ordnungskräfte sie dort vertrieben hätte. Von Diktatur öffentlich nichts zu sehen, so unser Fotograf, so etwas solle man sich einmal versuchen für Deutschland vorzustellen.

Hier entzündete sich eine Kontroverse, in der die Sichtweisen und Meinungen heftig aufeinander prallten. Als Kern schälte sich die unterschiedliche Bewertung der  Situation der Wanderarbeiter  sowie der Rolle heraus, die sie für den gegenwärtigen Aufbruch Chinas spielen: Sind sie Opfer einer fehlgeleiteten Modernisierung, welche die Grundlage bäuerlichern Existenzen zerstört und die Menschen verarmt und entwurzelt in die Zentren treibt oder ziehen junge Leute freiwillig in die industriellen Zentren, weil sie dort bessere Entwicklungschancen für sich sehen? Wie sehen sie ihre eigene Situation? Sind sie Gestrandete oder sind sie Aufbrechende? Sind sie gleichmütig, für westliches Verständnis  vielleicht unverständlich gleichmütig, oder wächst hier ein Protestpotential heran, das die chinesische Gesellschaft mit unabsehbaren Folgen für China und für die Welt sprengen könnte? Ist die gegenwärtig stattfindende Industrialisierung und Urbanisierung Chinas ein unaufhaltsamer, sich frei nach Marx hinter dem Rücken möglicher Planbarkeit vollziehender Prozess oder hat der Mensch, auch der Mensch in China – sei es von der Partei, sei es vom Einzelnen her gedacht – Möglichkeiten in die Entwicklung steuernd einzugreifen, wenn beispielsweise deutlich würde, dass die bäuerliche und landwirtschaftliche Basis des Landes zerstört zu werden droht? Läge darin überhaupt ein Problem? Hat Landwirtschaft heute noch die gleiche grundlegende Bedeutung für die Existenz der Gesellschaft wie früher? Beruht Modernisierung heute nicht auf anderen als landwirtschaftlichen Grundlagen?

Also, wie schnell zu erkennen: Fragen über Fragen, zu denen es vermutlich kein Entweder-oder gibt, sondern eher ein Sowohl-als-auch. Dementsprechend gingen die Meinungen zu diesen Fragen in der Runde deutlich auseinander. Einigkeit fanden wir darin, dass diese Fragen in Bezug auf China nur dann weiter geklärt werden können, wenn man sich konkret anschaut, was bei 1,25 Milliarden Menschen 250 bis 300 Millionen Wanderarbeiter bedeuten. Darüber hinaus ist die Frage nach den Millionen der chinesischen Wanderarbeiter natürlich in die Tatsache einzugliedern, dass durch den Prozess der Industrialisierung generell immer weniger Menschen physisch für die Produktion unserer Grundversorgung wie auch für die übrige Warenproduktion gebraucht werden, während die Weltbevölkerung gleichzeitig weiter wächst. Das gilt nicht nur für China, es gilt global und ist mit Sicherheit auch als Hintergrund für die aktuellen Unruhen in den arabischen Ländern zu sehen. Aber China steht, schon wegen seiner Größenordnung, exemplarisch für diesen Prozess.

Wir haben deshalb beschlossen, unser Gespräch an dieser Frage fortzusetzen, die nächstes Mal Thema sein soll, nämlich:

Wie ist die Lage chinesischen Wanderarbeiter und welche Rolle spielen sie im Modernisierungsprozess Chinas für China selbst und über China hinaus?

 

 

 

Das nächste Treffen ist für Samstag, 26.02.2011 angesetzt, selber Ort, selbe Zeit. 16,00 Uhr, Rummelsburgerstr. 78

Im Anhang findet Ihr einen Text von mir: „Die demographische Falle und die Kraft der Überflüssigen“, der allgemeine Anregungen zum Thema der in der Produktion von heute und morgen nicht mehr Gebrauchten liefert. Zum konkreten Stand der chinesischen Wanderarbeiter bitte ich alle Interessierten, selbst nach Euren Möglichkeiten zu recherchieren.

Aus gegebenem Anlass sei noch einmal gesagt: Wir verstehen das Forum integrierte Gesellschaft als Begegnungsrunde, in der das Gespräch im Mittelpunkt steht. Bringt also Fragen mit, wenn´s geht gute Laune, Zeit, eine Kleinigkeit zu knabbern und Eure Freunde oder Freundinnen. Aber bitte meldet Euch vorher an und wenn ihr Tipps und Links zum Thema habt, lasst es mich vorher wissen, damit sie herumgehen können.

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