Eine Nibelungensage aus hunnischer Sicht? Besprechung von „Attil und Krimkilte“ in „Der Berner“

Zugleich zu Dietrich von Bern in der ungarischen Sage

von Werner Keinhorst

in „Der Berner.

Mitteilungen des Dietrich von Bern-Forums Verein für Heldensage und Geschichte

vormals Thidrekssaga-Forum e.v.)

Die vorliegende Untersuchung stellt ein Experiment dar, denn es wird versucht, brauchbare Argumente zu finden, um das Alter des Sageninhalts einer 1956 aufgezeichneten traditionellen Dichtung der 1920er Jahre zu ermitteln. Insbesondere geht es um die Frage, ob es Gründe für die Annahme gibt, die Sage gehe in ununterbrochener mündlicher Überlieferung auf das 5. Jahrhundert, also die Völkerwanderungszeit, zurück.

 

Einführung

 

Im vorigen Jahr, 2011, erschien auf Deutsch und damit erstmalig in einer westlichen Sprache, das Epos „Attilpa Krimkilte“[1] (Attila und Kriemhild), das man sicher zu recht zum Kreis der Nibelungendichtungen zählen kann. Im vorletzten BERNER hat Hanswilhelm Haefs das Buch vorgestellt. Das Epos beruht auf einer traditionellen Sage der Tschuwaschen, des Titular-volkes der russischen Teilrepublik Tschuwaschien an der Wolga. Da diese sich über die im 13. Jh von den Mongolen vernichteten Wolgabulgaren – wohl mit einigem Recht – auf die Hunnen zurückführen, ist damit zugleich der Anspruch verbunden, hier die Nibelungensage aus hunnischer Sicht lesen zu können.

 

Es ist sicher von großem Interesse zu wissen, was von diesem Anspruch zu halten ist. Das Epos, das in seiner jetzigen Form wohl in den 1920er Jahren von dem Tschuwaschen Pitraw Lissizyn in traditioneller Form gedichtet wur-de, konnte erst 1956 aus der Mündlichkeit aufgezeichnet werden. Von 1936 bis zu seinem Tod 1953 hatte Stalin die Kultur der nichtrussischen Völker wegen „Nationalismus“ verfolgt.

 

Fragt man nach Alter und Authentizität des Epos, in dem Attil in der Hoch-zeitsnacht mit Krimkilte ermordet wird, aber offen bleibt, von wem, fragt man sich unwillkürlich, ob vielleicht die Epenteile, die besonders auf die Nibelungen verweisen, erst im 19. Jh aus Deutschland oder von den Wolga-deutschen in eine schon bestehende Sage hineingenommen worden sein könnten. Dem steht aber entgegen, dass in der entscheidenden Geschichts-quelle, der Gotengeschichte des Jordanes (6. Jh) , Attila nicht ermordet wird und niemand vom dort überlieferten Frauennamen Ildico auf Krimkilte käme. Der Name Kriemhild deutet auf das Nibelungenlied, in dem Etzel aber seine Frau überlebt. Nur im Norden wird Atli von seiner Frau ermordet, die dort aber Gudrun heißt. Der Zusammenhang muss also deutlich vielschichtiger sein. Dennoch bleibt natürlich die Frage, ob das gleich bedeuten muss, dass die Tschuwaschensage auf die Hunnen zurückgeht,  natürlich nicht der Form, sondern nur dem Inhalt nach. Eine Lösung dieses Problems kann nur sinnvoll versucht werden, wenn die Dichtung Attilpa Krimkilte in den Zusammenhang aller bekannten Fassungen von Attila gestellt wird. Die waren den um 1900 überwiegend noch analphabetischen Tschuwaschen sicher alle unbekannt.

 

Der hier unternommene Weg stützt sich wesentlich auf die im 13. Jh aufgezeichnete Fassung der ungarischen Sage von Attila und Dietrich von Bern. Diese ist den Tschuwaschen nicht nur räumlich am nächsten, sondern auch die Ungarn waren davon überzeugt, Nachkommen der Hunnen zu sein, was in ihrer Überlieferung auch zum Ausdruck kommt. Die selten behandelte ungarische Fassung ist auch deshalb von Interesse, weil sie Einzelheiten bewahrt, die sich noch in Skandinavien finden, in Deutschland aber, wie zB die ganze Thidrekssaga (Ths), verloren sind. Der Sohn Etzels und Kriemhilds heißt im Nibelungenlied (NL) Ortlieb, in der Ths Aldrian und bei den Ungarn Aladarius, was wahrscheinlich derselbe Name ist. Sein Bruder Chaba soll sein Gegenstück haben in Geva, einem Helden des Högnatattur (Hagenlied) der Färöerinseln und die Feindschaft von Attilas Frauen Kriemhild (= Gudrun) und Helche (= Herkja in der Edda, Herkke bei den Tschuwaschen) findet sich bei den Ungarn und im 3. Gudrunlied der Edda.

 

Der Gang der Argumentation soll hier schon skizziert werden:

Zwischen der ungarischen Überlieferung des 13. und der tschuwaschischen des frühen 20. Jahrhunderts bestehen große Ähnlichkeiten, aber die sind erst erkennbar, wenn der ungarische Text aus seiner Verklammerung mit bibli-schen, antiken und anderen Überlieferungen gelöst wird. Da eine solche Arbeit erstmals hier geleistet wird, waren diese Ähnlichkeiten für einen tschuwaschischen Dichter des 19. oder 20. Jhs nicht erkennbar, wenn ihm die ungarische Überlieferung überhaupt bekannt geworden sein sollte.

Das bedeutet (wenn man für diese Ähnlichkeiten Zufall ausschließt, was unten näher untersucht wird), es käme eine Entlehnung im 13. Jh in Frage, weil beide Völker damals durch die Mongolen Kontakt hatten. Zugleich besagte das, dass der Inhalt der tschuwaschischen Sage schon im 13. Jh etwa so ausgesehen haben müsste, wie er uns aus dem frühen 20. Jh überliefert ist!

Es wäre aber auch denkbar, dass die festgestellten Ähnlichkeiten in eine noch frühere Zeit zurückgehen. Dann müsste man annehmen, dass die tschuwa-schische Sage auf die Hunnen zurückgeht, während die Ungarn in ihrer neuen Heimat wohl über die Slawen eine ostgermanische Sage kennengelernt hätten. Die finno-ugrischen Ungarn sind nämlich – entgegen ihrer (späten) Überlieferung – keine Nachkommen der Hunnen und können deshalb keine alte eigene Sage über Attila besessen haben.

 

Eine Untersuchung der verschiedenen Sagenfassungen läuft darauf hinaus, dass ihr Kern Attilas Tod an der Seite Hildicos war. Allgemein ging man davon aus, dass sie ihn aus Verwandtenrache ermordet hatte. Die Spaltung der Sagenfassungen beginnt bei der Frage, wer ihre Verwandten waren. (a) Die fränkische Sage hielt sie für die Schwester des Burgunderkönigs Gundahari. (b) Diese Sage wurde bald verknüpft mit einer germanischen Fassung, die Hildico gleichsetzte mit Hilde, der Tochter des Rugierkönigs Hagena (= Hagen/ Högni). (c) Die hunnische Sage hielt Hildico für die Tochter des ostburgundischen Königs Hilperich und (d) eine ostgermanische, wohl gepidische verband Hildico mit dem Gepidenkönig Ardarich und erschloss daraus einen älteren Ardarich, den seine Tochter Hildico rächte.

 

Auf diese letzte Fassung geht die ungarische Sage zurück. Sie muss sich also gleich zu Anfang von den 3 anderen Fassungen abgespalten haben und wurde dann in dem späteren Land Ungarn an die Slawen und von diesen nach ihrer Einwanderung an das Volk der Ungarn weitergegeben. Das lässt nur den Schluss zu, dass die Ähnlichkeiten der ungarischen und der tschuwa-schischen Sage nicht auf einer Entlehnung des 13. Jhs beruhen können. Es besagt zugleich, dass kaum eine andere Erklärung möglich ist, als dass die tschuwaschische Sage tatsächlich bis in die Völkerwanderung zurückgeht. Dieses sicher kühne Ergebnis muss natürlich diskutiert werden und dazu sollen hier die ersten Argumente vorgestellt werden.

 

 

TEIL 1: Aufbau und Inhalt der überlieferten Texte bei Tschuwaschen und Ungarn

 

a) Das Epos der Tschuwaschen

Das Epos gliedert sich in 12 „Gesänge“ und ist mit rund 430 Strophen kürzer als das Nibelungenlied (rund 2500), aber länger als das längste Eddalied („Atlamal“ 102 Strophen). Die Handlung wird getragen von 6 benannten Personen, die sich nach verbreiteter Übung in mündlicher Überlieferung in Dreiergruppen gliedern, jeweils mit 1 Hauptperson, einem Freund und einem Gegner (DER BERNER 45, S. 24ff). Hier sind es 2 „Triaden“. Mittelpunkt der einen ist Attil, „Zar“ (= Khan) der Tschuwaschen in ihrer alten Heimat im Westen. Neben ihm steht sein treuer Feldherr Markka und der (später) ungetreue Ajtaman. Mittelpunkt der anderen Dreiergruppe ist Krimkilte, die Tochter Tschupajreks, des Zaren der Tschuchen, der feindlichen Nachbarn der Tschuwaschen. Zu ihrem Vater hat Krimkilte ein gutes Verhältnis, ihre Gegnerin ist ihre Rivalin Herkke, die Frau Attils.

 

Die Handlung ist gegliedert durch 3 Schlachten und 3 Folgezeiten, also die Zeiten nach jeder dieser Schlachten:

1. Schlacht: Attil, unter besonderer Mithilfe seines Feldherrn Ajtaman, besiegt die Tschuchen und nimmt deren verwundeten Zaren Tschupajrek und dessen Tochter Krimkilte gefangen.

1. Folgezeit: Der mit Herkke verheiratete Attil (sie haben 3 Söhne, die aber nie auftreten) verliebt sich unsterblich in Krimkilte. Weil sie ihn zurückweist, verfällt er in Stumpfsinn und vernachlässigt seine Regierungsgeschäfte. Als ihm sein Feldherr Markka Verwürfte macht, verbannt er ihn aus seinem Reich.

2. Schlacht: Der genesene Tschupajrek, von Attil wegen seiner Tochter freigelassen, sammelt ein Heer aus seinen Tschuchen und 5 weiteren Stämmen, weil er gehört hat, dass Markka nicht für Attil kämpfen kann und greift an. Attil hat auch nicht die Hilfe seines anderen Feldherrn Ajtaman, weil dieser krank ist. Die Schlacht bleibt unentschieden.

2. Folgezeit: Krimkilte erklärt sich nun bereit, Attil zu heiraten. Die Vorwürfe Herkkes weist sie zurück. Zum großen Fest werden alle eingeladen, auch die Tschuchen. In der Hochzeitsnacht stirbt Attil (anscheinend durch Gift), wobei aber der Täter unbekannt ist. Sein Feldherr Ajtaman, auch ganz verzückt von Krimkiltes Schönheit, flieht mit ihr zu den Tschuchen.

3. Schlacht: An der Spitze des tschuchischen Heeres überfällt Ajtaman seinen eigenen Stamm. Die führerlosen Tschuwaschen stehen vor der Vernichtung, als Markka zurückkommt. Unter seiner Führung siegen sie. Atjaman und Krimkilte werden gefangengenommen.

3. Folgezeit: Markka verzichtet auf ihre Hinrichtung, jagt sie aber entehrt in die Wildnis, was wohl auch ihren Tod bedeutet. Weil die Tschuwaschen in ihrer alten Heimat nicht mehr sicher sind, wandern sie unter Markkas Führung in die neue Heimat an der Wolga, wo sie bis heute leben.

 

Eine eingehende Untersuchung (18 Seiten) dieses Epos‘ habe ich für diese Ausgabe des BERNER geschrieben unter dem Titel „Ein hunnisches Nibelungenepos – hat es sich erhalten bis 1956 ?“. Ich habe mich dann gegen einen Abdruck entschieden, weil die Untersuchung sehr speziell auf die Einzelheiten eingeht und für Leser, die den Text des Epos‘ nicht kennen, vielleicht nicht verständlich genug ist. Ich kann ihn aber gerne Jedem kostenlos per E-Mail übersenden, den er interessiert. Für die vorliegende Untersuchung dürfte die obige Inhaltsangabe ausreichen.

 

b) Die ungarische Sage von Attila und Dietrich von Bern

 

Zu Beginn ist erforderlich, die ungarische Überlieferung daraufhin zu analysieren, was der eigentliche Inhalt ihrer Sagenfassung ist. Sie ist nämlich bewahrt in einer lateinischen Chronik, dem etwa 1282/85 geschriebenen Werk Gesta Hungarorum des Simon von Keza[2]. Er war Kleriker am Hof des ungarischen Königs Ladislas IV. Für Simon sind Hunnen und Ungarn Ange-hörige desselben Volkes, das aufgrund der inneren Kämpfe nach Attilas Tod in den Osten zurückkehren mußte, aber 10 Jahre später als „Ungarn“ zurück-kehrte. Die Sage ist bei ihm eingebettet in Berichte der Bibel, römischer Geschichtsschreiber, ungarischer Sagen und eigener Reiseerlebnisse.

 

Simon von Keza erzählt (nach einer bis zur Bibel zurückgehenden Vorge-schichte): Von den in Skythien (Osteuropa) wohnenden Hunnen wanderte ein Teil unter 7 Anführern mit ihren Frauen nach Westen, während die anderen zum Schutz der Heimat zurückblieben. Sie beendeten ihre Wanderung, als sie bis zur Theiß (Nebenfluß der Donau in Ungarn) im Land Pannonien gekom-men waren, machten aber regelmäßige Raubzüge ins benachbarte römische Gebiet.

 

Statthalter dort war der Langobarde Macrinus. Der wandte sich um Hilfe an seinen Oberherrn, den frei gewählten römischen König Dietrich von Bern (Ditricus Veronensis) aus dem Volk der Alemannen [Auch in der Thidreks-saga herrscht Dietrich über Rom!]. Beide vereinigten ihre Heere und zogen zur Donau. Nachts überquerten die Hunnen bei der Stadt Sicambria den Fluss und brachten dem Römerheer eine Schlappe bei. In der Schlacht am folgen-den Tag siegten aber die Römer. Erst im 3. Kampf kam es zu einem entschei-denden Sieg der Hunnen. Macrinus und die hunnischen Anführer fielen bis auf Ethela und seinen Bruder Buda. Dietrich wurde fast tödlich verwundet.

 

Ethela ließ sich zum König erheben und Buda zu seinem Vertreter. Ihr Reich ging von der Theiß bis zum Etul (= Don). Auf einem Hoftag nahe Gran unter-warfen sich Dietrich und die germanischen Fürsten (Ditricus de Verona cum principibus Germaniae). Dietrich riet Ethela zu einem großen Feldzug nach Westen. Bei Basel traf Ethela auf König Sigismund, den er aber trotz dessen riesigem Heer besiegte und zur Unterwerfung zwang. Er eroberte Straßburg und 6 burgundische Städte. Ein Drittel seiner Armee befreite Spanien von den Mauren, verblieb aber dort. Bei Beauvoir siegte Ethela in einer gewaltigen Schlacht gegen den römischen Patricius Ecius und 10 namenlose Könige. Dort fiel der Gotenkönig Aldaricus. Nach weiteren Taten (zB tötete er in Köln die heilige Ursula mit 11000 Jungfrauen) und der Unterwerfung Nord-europas, kehrte er heim. Dort tötete er Buda, der anmaßend die Stadt Sicam-bria nach sich in Buda umbenannt hatte. Ethela gab ihr nun nach sich den Namen Etzelburg (Echulburc). Nach 5-jährigem Frieden machte er einen großen Kriegszug nach Italien (ausführlich geschildert nach antiken Quellen, christlichen Legenden und persönlichen Reiseeindrücken Simons, aber ohne sagenmäßigen Inhalt). Danach packte ihn der Größenwahn und er plante, die Ägypter, Assyrer und Afrika zu unterwerfen.

 

Zur Liebe (also nicht als Gattin) brachte man ihm damals Micolt, Tochter des Königs der Bractaner, die von übermenschlicher Schönheit war. Ethela war so besessen von ihr, dass er nichts anderes mehr wollte. In der 1. Nacht ver-ausgabte er sich so, dass er starb. Sie schrie auf und rief die Diener.

 

Das folgende ist wohl auch für andere Forschungen so interessant, dass ich es in wörtlicher Übersetzung bringe. Sie wurde auf meine Bitte von unserem Mitglied Frau Ingrid Herz (Markt Schwaben) angefertigt: „Nachdem sich die Nachricht von seinem Tod verbreitet hatte, erstarrte der Erdkreis wie betäubt, und seine Feinde waren unentschlossen, ob sie seinen Tod beklagen oder sich darüber freuen sollten; sie fürchteten <nämlich> die große Zahl seiner Söhne, die, gleichsam ein Volk, kaum gezählt werden konnten. Sie glaubten ja auch, dass einer seiner Söhne nach ihm herrschen würde.

Aber durch die Verschlagenheit des Dietrich von Bern und der deutschen Fürsten, denen König Ethela durch seine Herrschaft im Nacken saß, wurde die Gemeinschaft der Hunnen in verschiedene Parteien geteilt, und zwar so, dass einige sich eifrig bemühten, Chaba, den Sohn Ethelas, den er mit der griechischen Kaisertochter, der Tochter des Honorius gezeugt hatte, nach Ethela zum König zu erheben, andere Aladarius, den ihm die germanische Prinzessin/ Fürstin Kriemhild geboren hatte. Weil aber der vernünftigere Teil Chaba unterstützte, das ausländische Volk aber Aladarius, deshalb begannen beide zu herrschen. Alsdann erregte die List Dietrichs, der Aladarius begün-stigte, einen Kampf zwischen beiden. In der ersten Schlacht wurde Aladarius überwunden, in der zweiten aber, die in Sicambria 15 Tage hindurch ununter-brochen geschlagen wurde, wurde das Heer Chabas so völlig besiegt und niedergeworfen, dass sehr wenige Söhne Ethelas und sehr wenige Hunnen am Leben blieben. Dies ist nämlich die Schlacht, die die Hunnen Kriemhild-Schlacht (praelium Crumhelt) nannten und bis heute so nennen.“

Chaba floh mit 15000 Hunnen zu Honorius nach Griechenland und dann in die alte Heimat in Skythien, wo er das Volk zur Rache an den Germanen auf-rief. Nach 10 Jahren, nach dem Fluß Ung nun „Ungarn“ genannt, kehrten sie unter 7 neuen Anführern zurück und eroberten wieder Pannonien, um dann für immer zu bleiben.

 

Bewertung des ungarischen Textes

Simons Text muß jetzt besprochen werden, denn wie man sieht, hat der lateinische Gelehrte hier Nachrichten unterschiedlichster Herkunft vermischt, sodass die Sage erst aus diesen Zusammenhängen befreit werden muss. Seine Darstellung gliedert sich in 3 Teile: a) Wanderung nach Pannonien und Be-hauptung des neuen Landes in 3 Schlachten (Macrinus fällt, Dietrich unter-wirft sich), b) Kriegszüge nach Westen (Sigismund unterwirft sich, Aldarich fällt), nach Norden (anschließend Tötung Budas) und Süden, c) Ethelas Tod, Dietrichs Intrigen und deshalb Nachfolgekämpfe (Chaba vertrieben). Auf diesem Teil liegt das Schwergewicht des ganzen.

 

Teil a) Dass mit dem Fluß Etul der Don gemeint ist und nicht wie sonst die Wolga, wird ausdrücklich gesagt (Don … qui ab Hungaris Etul nominatur, Kap. 6). – Macrinus wird wohl als Langobarde gesehen, weil Simon in Norditalien die Lombardei kennt. Er ist sonst nicht bekannt. Mögliche Ursprünge dieser Gestalt s.u. bei der Behandlung der Sagengeschichte.  Dietrich als Alemanne meint sicher die Deutschen, weil damals die Staufer (Herzöge von Schwaben = Alemannien) herrschten, was dann in vielen Sprachen der Name für uns Deutsche blieb.

 

Teil b)  Ethelas Nord- und Südfeldzug haben nichts sagenmäßiges an sich. Der Nordzug (bis Norwegen!) ist reine Erfindung, der nach Italien aus römi-schen Quellen und Simons Reiseerinnerungen zusammengebastelt. Beim Westfeldzug  ist die Vertreibung der Mauren aus Spanien ebenfalls erfunden, der Kampf gegen Aetius stammt aus römischen Quellen (Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451).

 

Sigismund und Aldarich sind germanische Namen, aber  die Form Sigismund (statt Siegmund) zeigt, dass der Name aus der Heiligenlegende kommt. Sankt Sigismund war 516 – 523 Burgunderkönig. „Gotenkönig“ Aldarich erinnert an den geschichtlichen Westgotenkönig Theoderich, der 451 fiel,  aber ein Gotenkönig Aldarich (mit Alarich hat er nichts zu tun) ist unbekannt. Er wurde Gote  wohl nur, weil er von Simon an Theoderichs Stelle gesetzt wor-den war. Aldarichs Tod ist für die Handlung ebenso folgenlos wie  Sigis-munds Unterwerfung. Beide könnten nur zur  Ausschmückung eingefügt sein, um Ethelas Erfolge zu  veranschaulichen, aber auch Überbleibsel einer älteren Sagenfassung sein.

 

Der Name Buda (statt Bleda) stammt aus der germanischen Sage, denn er hängt sicher zusammen mit Botelung, dem Vater Etzels in der süddeutschen Sage und den Budlungar, Atlis Geschlecht sowie Budli, dessen Vater, im Norden. Allerdings ist seine Ermordung durch seinen Bruder dort nicht bekannt. Im Nibelungenlied fällt sein Gegenstück Blödel gegen die Bur-gunder, im Eddalied Atlamal schlägt ihm Gudrun (=Kriemhild) einen Fuß ab.

 

Teil c)  ist zweigeteilt, in die Geschichte von Ethelas Tod und die Nach-folgekämpfe. Sein Tod: der Name Micolt stammt aus römischer Quelle, denn er ist eine schriftliche Entstellung der Form Ildico (Hildico) bei Jordanes. Den hat Simon wohl nur mittelbar über andere Quellen benutzt. Da Hildico (= Hildchen) nur eine Koseform von Kriemhild, ungarisch Crumhelt (latei-nisch Cremilda) ist, sind  Micolt und Crumhelt identisch, auch wenn Simon das nicht erkannte. Damit wird Ethelas Tod in der 1. Nacht allerdings ein Problem, denn Crumhelt hat von Ethela ja den erwachsenen Sohn Aladarius.

Eine Lösung wird bei der Behandlung der Sagengeschichte versucht.

 

Die Nachfolgekämpfe: In der Geschichte kämpften nicht Attilas Söhne gegeneinander, sondern die Unterworfenen machten einen Aufstand. Die vielen Söhne, „gleichsam ein Volk“, sind eine Formulierung von Jordanes. Sie setzen viele Frauen voraus. Hier ist aber nur von zweien die Rede. Die namenlose Kaisertochter ist wohl als die eigentliche Gemahlin gedacht und Crumhelt nur als Nebenfrau, denn ihr Vater soll wohl einer der germanischen Fürsten sein, die sich mit Dietrich unterwarfen. Man darf nicht vergessen, dass Simon die Sage nicht vollständig erzählt, sondern nur in Kurzform in seine Chronik eingebaut hat. Immerhin ist Crumhelts Sohn  erbberechtigt.

 

Zur namenlosen Tochter des griechischen (= oströmischen) Kaisers Honorius ist festzuhalten: Honorius war weströmischer Kaiser und starb 423 kinderlos, während Attila erst 432/434 König wurde. Honorius hatte aber eine Nichte Honoria, die Attila die Ehe anbot, wozu es aber nie kam. Folgende Entwick-lung ist anzunehmen: In der Sage hieß Ethelas 1. Frau gemäß der Geschichte Kreka (in der Sage Herkja, Erka, Herche, Helche, Herkke). Der Chronist ersetzte sie, in einer Art „Verschlimmbesserung“ durch Honoria, indem er sie aus der Verlobten zur Gattin machte.

Historisch ist schließlich, dass ein Sohn Attilas die Hunnen in den Osten zurückführte. Er hieß Irnik bzw Ernak. Manche Forscher setzen ihn gleich mit Atlis Sohn Erp im Norden und Etzels Sohn Erphe in Süddeutschland.

Zusammenfassend ergibt sich, dass die große Masse von Simons Chronik-bericht mit Sicherheit als der Sage fremd ausgeschlossen werden kann. Dazu gehören Nord- und Südfeldzug und  beim Westfeldzug  der Spanienzug und der nur erwähnte Aetius mit seinen 10 namenlosen Königen. Ob Macrinus, Sigismund und Aldarich in die Sage gehörten, ist fraglich. In der von Simon gebotenen Fassung sind sie nur dazu da, sich folgenlos zu unterwerfen oder getötet zu werden. Bei der Besprechung der Sagengeschichte ist ihrer Herkunft und möglichen früheren Rolle nachzugehen. Da sie in der Simon vorliegenden Sagenfassung bestenfalls aus früheren Stufen übrig gebliebene Namen sind, müssen sie bei dem nun folgenden Vergleich mit dem Tschuwaschenepos  ausgeschlossen bleiben.

 

c) Vergleich beider Sagen

 

Der Vergleich sieht nun wie folgt aus: [Ung = ungarische Sage (Simon von Keza), Tschu = tschuwaschisches Epos (Pitraws Fassung)]

 

Struktur der Sage

 

1)Ung: Ethela (und Buda) kämpfen gegen Nachbarkönig Dietrich

Tschu: Attil (und Ajtaman) kämpfen gegen Nachbarkönig Tschupajrek

2) Ung. Ethela siegt, Dietrich wird verwundet und kommt unterworfen ins Lager des Siegers

Tschu: Attil siegt, Tschupajrek kommt verwundet als Unterworfener ins Lager des Siegers

 

3) Ung: Ethela hat 2 Frauen: bei Crumhelt wird der Name des Vaters nicht genannt, aber sie ist eine germanische Prinzessin und die germanischen Fürsten hatten sich mit Dietrich unterworfen (zu der Frage, ob die Sage, die Simon als Quelle nahm, ihren Vater nannte, s.u. bei der Sagengeschichte);

die andere Frau ist die namenlose Tochter des griechischen Nachbarkönigs Honorius (vorher vmtl Honoria, ursprünglich wohl Kreka/ Erka/ Herkja/ Helche)

Tschu:  Krimkilte ist die gefangene Tochter des Nachbarkönigs Tschupajrek;

die andere ist Herkke, deren Vater nicht genannt wird

 

4) Ung: Ethela stirbt in der 1. Nacht mit der unglaublich schönen Micolt (Schreibfehler für Hildico = Kriemhild): aber offenbar aus römischer Quelle. (In der Sage wie im Norden: Ethela im Bett von seiner Frau aus Verwandtenrache ermordet?)

Tschu: Attil stirbt (an Gift? Das Epos lässt die Frage offen) in der Hochzeitsnacht mit der unglaublich schönen Krimkilte

 

5) Ung: Dietrich (einst guter Ratgeber Ethelas) bewirkt durch Hinterlist eine Teilung der Hunnen in Parteien und dann deren Kampf gegen einander; die Hunnen gehen fast alle unter;

auf seiner Seite stehen Crumhelt und ihr Sohn Aladarius

Tschu: Ajtaman (einst treuer Feldherr Attils) greift mit anderen Stämmen, die kürzlich noch Gäste der Tschuwaschen waren, diese an; den Tschuwaschen droht der Untergang,

auf seiner Seite stehen Krimkilte und ihr Vater Tschupajrek (gleich, ob er persönlich das Schwert schwingt, seine Tchuchen kämpfen hier)

 

6) Ung: Chaba (Ethelas Sohn) wird besiegt und führt die Hunnen ostwärts zum Fluß Etul (Don)

Tschu: Markka (Attils Feldherr) siegt, aber führt trotzdem die Tschuwaschen ostwärts zum Fluß Ätil (Wolga)

 

Personen der Sage

 

Ethela/ Attil: König der Hunnen bzw ihrer Nachkommen, der Tschuwaschen

Tochter des Honorius/ Herkke: Mutter seines Sohnes Chaba bzw dreier ungenannter Söhne

Crumhelt/ Krimkilte: Frau feindlicher Herkunft, an ihrer Seite (durch sie?) stirbt der König, danach ist sie mit anderen an der Vernichtung des Reiches beteiligt

Dietrich/ Tschupajrek: feindlicher Nachbarkönig, muss sich verwundet unterwerfen, ist dann vorübergehend treu, wirkt nach dem Tod Ethelas/ Attils mit an der Vernichtung des Reiches

Aladarius/ Ajtaman: negativer Held der letzten Schlacht, erst besiegt, dann siegreich (ung) bzw besiegt (tschu)

Chaba/ Markka: positiver Held der letzten Schlacht, Führer bei der Auswan-derung nach Osten, obwohl mal Sieger (tschu), mal Besiegter (ung).

 

Namen der Sage

 

Bei den Namen Ethela – Attil und Crumhelt – Krimkilte ist der Zusammen-hang eindeutig.

Bei Herkke und der Honoriustochter wird es so gewesen sein, dass Simon in der Sage  den Namen Helche (oder ähnlich, jedenfalls auf Kreka zurück-gehend) vorfand, in einer schriftlichen Quelle Honoria und dann in Anleh-nung an Honorius daraus machte: „Honoria, Tochter des Honorius“ oder „Helche, Tochter des Honorius“. Der Name der Frau, ob nun Helche oder Honoria fiel später weg und deshalb können wir nicht mehr sagen, was zutrifft. So oder so kam man davon ausgehen, dass der Name Honoria erst auf schriftlicher Stufe eingeführt wurde. Vorher kann nach allem was wir sagen können, dort nur Helche (oder ähnlich) gestanden haben, weil sich insofern alle Sagenfassungen einig sind. Täuscht man sich hier nicht völlig, ist also auch bei diesen beiden Personen auf der Stufe der Sage noch eine Namenübereinstimmung vorhanden gewesen.

 

Bei Dietrich und Tschupajrek  könnte zwar der 2. Teil (-rich/ -rek) gleich sein, aber sicher nicht der ganze Name. Sträßner[3] hat Tschupajrek zu Chilperich gestellt, einem Namen, der in der Sage als Helferich (älter: Helpferich) in Süddeutschland und Hjalprek im Norden dazugehört. Auf den uns erhaltenen Stufen ist eine Übereinstimmung nicht herzustellen.

 

Markka und Chaba  sind von ihren Namen her ebenfalls unvereinbar. Ob Markka mit Macrinus zu tun haben könnte und Chaba mit dem schon er-wähnten Geva, ist ein Problem älterer Sagenstufen.

 

Ajtaman und Aladarius sind ebenfalls verschiedene Namen. Ajtaman geht wohl auf „Ataman“ (= die russische Form) zurück, einen Anführertitel der Kosaken. Er wird als turko-tatarischen Ursprungs (tatar. odaman) angesehen mit der Bedeutung „oberster Hirte“ oder „kriegerischer Führer einer tatari-schen Gemeinschaft“[4]. – Aladarius oder ohne lateinische Endung Aladar ist im Ungarischen ein Titel der Bedeutung „Fahnen- oder Regimentsinhaber, Besitzer einer Truppe“ und geht wohl über das Türkische auf das Persische zurück. Er könnte aber auch aus dem Ossetischen stammen (wie das Persische eine iranische Sprache) mit der Bedeutung „Vorsteher, Befehlshaber“[5]. Die beiden Helden hätten damit statt eines Namens einen gleichbedeutenden Titel. Da für beide ein Zusammenhang mit dem Gepiden-könig Ardarich erwogen wird, der den Aufstand gegen Attilas Söhne führte, muss auch hier die Entscheidung auf die Sagengeschichte vertagt werden.

 

Von den 6 Personennamen stimmen also 2 überein, 2 nicht, während die Fälle

Herkke/ Honoriustochter und Aladarius/ Ajtaman zweifelhaft sind.

Die Flussnamen Ätil bzw Etul meinen jetzt verschiedene Flüsse (Don bzw Wolga), was kaum ursprünglich ist. Es ist auch schon überlegt worden, ob zum Herrschernamen Attil/ Ethela eine Beziehung besteht, weil Flussnamen gelegentlich mit Götternamen und diese mit Herrschernamen in Beziehung stehen. Aber dem soll hier nicht nachgegangen werden.

 

Bewertung des Vergleichs

 

Die grundsätzliche Übereinstimmung des Aufbaus beider Sagen ist wohl nicht zu übersehen. Mit keiner germanischen Sagenfassung gibt es eine sol-che Übereinstimmung.

 

Crumhelt/ Krimkilte: beide werden negativ gesehen. Von Crumhelts Handeln erfährt man zwar nichts, aber ihre germanischen Verwandten sind an Diet-richs Hinterlist beteiligt und dass die Schlacht als Crumhelt-Schlacht bekannt wurde, sagt wohl eindeutig, was man von ihr hielt.

Die jeweilige 1. Frau  wird nur kurz erwähnt, aber weil bei den Tschuwa-schen ihr geschichtlicher Name (Kreka – Herkke) bewahrt wurde, muss sie bzw ihre Söhne (die erwähnt werden, aber namenlos und ohne Handlung bleiben) einmal eine wichtige Rolle gespielt haben.

 

Dietrichs Rolle entspricht meist der von Tschupajrek als unterworfener Nach-barkönig, teilweise aber auch der von Ajtaman, als erst guter Ratgeber bzw Feldherr, nach dem Tod des Königs als Verräter. Dietrichs Funktion (im Unterschied zur Rolle) entspricht zT aber auch Krimkilte, denn sie übt ebenfalls Verrat und sie kam als Unterworfene der 1. Schlacht zu Attil ebenso wie Dietrich. Das heißt also, dass Attil/ Ethela durch seinen ersten Sieg den Keim für den Untergang seines Reiches nach seinem Tod mittelbar selbst be-wirkte, indem er den/die späteren Verräter/in als Ergebnis seines Sieges zu sich holte.

 

Im Schlussteil wird der letzte Kampf, eine Art Bürgerkrieg, bei Simon zwischen 2 Söhnen Ethelas ausgefochten, bei den Tschuwaschen haben die beiden Gegner die Stellung von Feldherren Attils. Mit diesem Kampf ist in beiden Fällen die Wanderung nach Osten (zum Fluss Etul/ Ätil) verbunden, die für die Hunnen geschichtlich ist. Anführer war Attilas Sohn Ernak. Es ist also geschichtstreuer, wenn Chaba als Sohn Ethelas bezeichnet wird gegen-über Markka, der nur Feldherr ist. Ebenso ist die Auswanderung nach einer Niederlage plausibler, wie für Ernak und Chaba berichtet wird.

 

 

Problem des Vergleichs von Sagenstrukturen

 

Das bis hier erzielte Ergebnis des Vergleichs der Struktur und der Personen-rollen beider Sagen macht wahrscheinlich einen durchaus überzeugenden Eindruck. Dessen Bedeutung darf allerdings nicht überbewertet werden, denn es gibt – wenn auch selten – auch andere Sagen bzw sagenhafte Erzählungen mit  so einem  Aufbau. Wenn jetzt ein Beispiel aus China genommen wird, dann weil man dabei sicher sein kann, dass die Übereinstimmung nicht durch Entlehnung oder eine andere Art des Kontakts zu erklären ist, sondern nur auf international gültigen Gesetzmäßigkeiten mündlicher Überlieferung beruht. Wäre das die einzige Erklärung der Übereinstimmung bei Tschuwaschen und Ungarn, wäre sie gewissermaßen Zufall und würde weiter nichts bedeuten.

 

1) Fêng-shên-yên-i

 

Der Titel dieses chinesischen Romans aus der Zeit der Ming-Dynystie (1368-1644) wird übersetzt: „Erzählungen von der Belehnung mit der Götterwürde“[6] bzw „Die Heiligsprechung der Götter“[7]. Man vermutet, dass dieser Roman aus dem einzigen Epos hervorgegangen ist, für dessen Existenz es in der chinesischen Kultur noch Anhaltspunkte gibt[8].

 

Sein Inhalt betrifft ein für die chinesische Geschichte grundlegendes Ereig-nis, nämlich den Sturz der Shang-Dynastie durch die Chou. Das dafür errech-nete Jahr 1046 vor Chr. gilt als das erste gesicherte Datum der chinesischen Geschichte. Obwohl dieser Roman aus später Zeit stammt, ist sein Haupt-inhalt, auf den es hier ankommt, schon in den sog. Bambusannalen aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert erwähnt.

 

Der Inhalt ist kurz folgender: Kaiser Chou-wang erfuhr von der „himm-lischen Schönheit“ der Ta-ki (bzw Su Dan), der Tochter des Fürsten Hu von Su. Er forderte ihre Herausgabe, um sie zur Konkubine zu machen. Als ihr Vater das verweigerte, ließ er Su mit einem Heer angreifen und der besiegte Vater musste sich unterwerfen. Als Ta-ki zum Kaiser reiste, „flossen ihre Tränen wie Regenströme“. Sollte sie nicht so schön sein, wie versprochen, wollte der Kaiser sie mit ihrem Vater öffentlich hinrichten.

Aber als der Kaiser sie das erste Mal erblickte, führte das dazu, „dass des Chou-wang Geist himmelwärts entrückt wurde, dass seine Seele in die neun himmlischen Regionen entwich, (…) so dass er nicht wusste, was er tun sollte. (…) Hastig erteilte er seinem Hofmarschall den Befehl, dass er Su Hu [Ta-kis Vater] und dessen ganzes Haus begnadige.“ – „Der Kaiser feierte mit Ta-ki im [Palast] Shou-sein-kung festliche Gelage, und nachts gab er sich dem Liebesgenuss hin. (…) Die Regierungsgeschäfte blieben unerledigt (…) die Monate des Jahres strömten dahin.“ – „Vor aller Augen geriet das Reich in grösste Verwirrung.“ [Aus der Zusammenfassung des Herausgebers:] „der Minister Shang Yung, der dem Kaiser Vorstellungen machte, wurde seines Amtes entkleidet;“

 

Ta-ki sorgte durch eine Intrige dafür, dass Kiang-shih, die Kaiserin, umge-bracht wurde. Schließlich wurde der Kaiser vom „Fürsten des Westens“ aus der  neuen Dynastie angegriffen und in einer Entscheidungsschlacht besiegt. Ta-ki wurde getötet, der Kaiser gefangen oder gab sich selbst den Tod, seine Dynastie wurde gestürzt. Soweit der Kerninhalt des Romans.

 

Im 3. Gesang des Tschuwaschen-Epos heißt es: „So sorgen sich die Tschu-waschen; Sie sprechen untereinander: Weiberlachen beherrscht uns alle. Das ist zuviel ! Ein Zar blieb uns nicht; Attil ist jetzt nur Weiberzar noch. Not des Landes ist jetzt unser Schicksal, Krimkilte sieht er nur noch.“ – Bei Simon heißt es über Micolt: „Dieses Mädchen war übermenschlich schön und sie sagen, dass der König so tief verliebt war, dass er sie über allem anderen zu besitzen wünschte.“ Er übertrieb es dann mit der Liebe so, dass er starb, was auch eine (unfreiwillige) Art ist, seine Regierungsgeschäfte zu vernachlässigen. Die Absetzung des Ministers Shang Yung entspricht der des Feldherrn Markka durch Attil, die beide ihrem Herrn Vorwürfe machten. Die Ermordung der Kaiserin durch Ta-Ki hat ihr Gegenstück in der Feindschaft von Krimkilte und Herkke.

 

Der Hauptunterschied des chinesischen Romans zu den beiden anderen ist natürlich, dass der Kaiser nicht im Bett seiner Geliebten stirbt. Dadurch führt er in der Endschlacht die eine Seite persönlich und es gibt auch keine Wan-derung. In der Hauptsache passt also nur die erste Hälfte zu den beiden ande-ren Sagen. Gewisse punktuelle Übereinstimmungen finden sich aber noch danach:  Als Attil gestorben ist, flieht Krimkilte zu ihrem Volk, das dann die Tschuwaschen angreift. Ajtaman, der die Verteidigung leiten sollte, hat sich in Krimkilte verliebt und ist zu ihr übergelaufen. – Als Ta-ki gefangen ist, heißt es: „Lei-chên-tzĕ, der den Auftrag hatte, Ta-ki zu töten, fühlte plötzlich Liebe für sie und war unfähig, seinen Auftrag auszuführen, wenn er sich dessen auch sehr schämte.“ So wie Krimkilte nicht von Menschenhand stirbt, sondern ohne Hilfsmittel in die Steppe gejagt wird, was wohl ihren Tod bedeuten soll, holen die Chinesen einen zauberischen Kürbis: „ein weisser Glanz kam daraus hervor, stieg, dreimal sich um sich drehend, dreissig Fuss in die Höhe und tötete Ta-ki.“

 

2) Hintergründe der Sagenstrukturen

 

Diese Überlegungen zum chinesischen Roman könnten auch an anderen Beispielen angestellt werden (in meinem Aufsatz „Ein hunnisches Nibe-lungenepos – hat es sich erhalten bis 1956 ?“ hatte ich zum Vergleich die langobardische Sage von Alboin und Rosamunde genommen). Es ist aber not-wendig, ein solches „abseitiges“ Beispiel, wie das chinesische, mit heran-zuziehen, um bei dem Vergleich der ungarischen und der tschuwaschischen Sage nicht einer Selbsttäuschung zu erliegen.

 

Die Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Sagen sind also nicht einzigartig. Andererseits zeigt der Vergleich mit dem chinesischen Roman, der sicher auch auf sagenhafter Grundlage, dem vermuteten Epos, beruht, dass – bei gleichem Grundriss in der Hauptsache – die näheren Überein-stimmungen von Fall zu Fall verschieden sind. Manche Übereinstimmungen sind geradezu verblüffend, in anderen Fällen haben wir nur Entsprechungen, wenn etwa Krimkilte und Ta-ki zwar nicht von Menschenhand sterben, die Todesart im einzelnen aber ganz verschieden ist. Die Frage ist nun, beweisen die Gemeinsamkeiten von Pitraw und Simon denn noch irgendetwas ?

 

Zur Beantwortung dieser Frage ist auf das Problem der Struktur von Sagen einzugehen, was hier allerdings nur kurz geschehen soll. In der Parallel-untersuchung zur vorliegenden („Wie aus Geschichte Sage wurde: die älteste Fassung der Nibelungensage“, DER BERNER 47) hatte ich in dem Abschnitt „Geschichtlichkeit trotz Sagenschablonen ?“ (a.a.O., S. 23ff) das Problem schon behandelt. Im Wesentlichen geht es darum, dass Sagen aus traditio-nellen narrativen Mustern und Erzählschablonen zusammengesetzt sind, die sich zu Motivketten verbinden können, die dann das Grundgerüst der Sage in ihrer Gesamtheit ausmachen. Nur auf diesem Weg können Sagen trotz Münd-lichkeit einigermaßen unverändert durch die Jahrhunderte überliefert werden. Solche Erzählschablonen sind zunächst einmal der Grund dafür, dass sich Übereinstimmungen ergeben, wie sie oben aufgezeigt wurden.

In der neuesten Gesamtdarstellung der germanischen Heldensage[9], die das Problem ausführlich behandelt, heißt es zur Sage um den Gotenkönig Ermen-rich: „Offenbar haben wir es mit einem im Frühmittelalter verbreiteten Sagenmuster [kursiv durch W.K.] zu tun, das den Niedergang eines Reichs durch eine vom König ausgeübte Vergewaltigung erklärt, die dazu führt, dass der betroffene Ratgeber treulos wird und das Reich soweit schwächt, dass es zugrunde geht. Das Modell erscheint schon im Bericht über den Tod Kaiser Valentinians II., den der byzantinische Historiograph Prokopios von Kaisareia in der Chronik der >Vandalenkriege< (Mitte des 6. Jh.s)  einfügt.  (…) Die Anwendung des Musters auf Valentinian II. zeigt aber, dass diese Erzählmodelle, mit denen die Heldensagen konstruiert werden, nicht nur bei einem bestimmten Volk bekannt waren, sondern überregional Verbreitung fanden und für die Schaffung neuer Geschichten verwendet werden konnten.“

 

Das von Millet behandelte Muster unterscheidet sich von den hier ange-führten Fällen, obwohl es auch da um (bedingte) Reichsuntergänge geht. Bei Millet vergewaltigt der Herrscher eine Frau und dann trifft ihn die Rache. In unseren Beispielen verfällt der Herrscher einer gefangenen Frau so, dass er selbst sein Reich missachtet. Es gab also mehrere, unter sich zum Teil abweichende Muster. Die Frage lautet daher: wie groß müssen die Übereinstimmungen von Sagen sein, um einen gemeinsamen Ursprung annehmen zu können ?  

 

Der klassische Fall der Sagenforschung ist die Nibelungensage in ihrer süd-deutschen Gestalt (Nibelungenlied = NL) gegenüber der nordischen (Edda, Völsungasaga). Im NL kommt die verräterische Einladung an Gunther und seinen Gefolgsmann Hagen von Gunthers Schwester Kriemhild,  die Sigfrids Tod an Hagen rächen will, im Norden dagegen von Atli, der die Brüder seiner Frau Gudrun,  Gunnar und Högni, einlädt, um deren Schatz zu erpressen. Sigurd war hier von dem nicht eingeladenen Bruder Guthorm ermordet worden.

 

Verräterische Einladungen gibt es in vielen Sagen. Die Überzeugung der For- schung vom gemeinsamen Ursprung in diesen beiden Fällen beruht auf den Namen in Verbindung mit der Beziehung zwischen ihren Trägern und ihrer Rolle in der Handlung. Die Abweichungen lassen sich offenbar durch die Sagenentwicklung überzeugend erklären. Ursprünglich hatte die Sigfridsage mit der von Gunthers Ende nichts zu tun. Gudrun war wohl die ursprüngliche Schwester Gunthers und Frau Sigfrids, während Kriemhild Etzels Frau war (Hildico = Hildchen). Als beide gleichgesetzt wurden, setzte sich im Süden Kriemhild durch, im Norden Gudrun (Grimhild wurde zur Mutter). Hagen aus der Gunthersage verdrängte den Mörder Guthorm, der wohl der histori-sche Burgunderkönig Gundomar ist. Auch im Norden wurden zwar beide Frauen gleichgesetzt, aber noch keine Folgen aus der Ermordung Sigfrids gezogen, d.h. seine Witwe rächte ihn nicht. Das geschah aber in der süddeut-schen Fassung. – Weiter soll das Beispiel hier nicht vertieft werden.

 

Es genügt zu sehen, dass es auf die Namen, ihre Verbindungen und Rollen sowie die Sagengeschichte ankommt. Wie oben schon erwähnt, stimmen von den 6 Personnamenpaaren nur 2 sicher überein. Bei 2 weiteren scheinen die Verschiedenheiten erst jungen Datums zu sein. Aber auch bei den klar unter-schiedlichen Dietrich/ Tschupajrek und Markka/Chaba wird die Sagen-geschichte eine Erklärung dieser Unterschiede liefern. Wenn auch noch mit Unsicherheiten behaftet, wird man dieses vorläufige Fazit ziehen können:

 

Zwischenergebnis

 

Der Vergleich des  in den 1920er Jahren von Pitraw Lissizyn verfassten Epos, mit der ungarischen Sage, die Simon von Keza 1282/85 in seine Gesta Hungarorum einbaute, ergab Übereinstimmungen der Namen, Personen und der Struktur, die in allen Fällen beachtlich waren, wenn auch mit Einschrän-kungen. Wichtig ist vor allem die Übereinstimmung bei dem im Zentrum stehenden Heldenpaar Attil/Ethela  – Krimkilte/Crumhelt. Das Hunnenreich von König Attila gehört zum Bestand der internationalen Geschichtserinne-rung und nichts spricht dagegen, dass er mit Ethela bzw Attil gemeint ist.

 

Diese Ähnlichkeiten ergeben sich aber erst, wenn der ungarische Chronik-bericht aus seinen biblischen, antiken und sonstigen Bezügen gelöst ist. Die ausführliche Arbeit von Bleyer von 1907 (hier S. 35, Fußnote 5) enthält einen umfassenden Forschungsbericht, aus dem sich ergibt, dass eine solche Arbeit im 19. Jh nicht geleistet wurde. Die ungarisch-tschuwaschischen Ähnlich-keiten können deshalb weder (Wolga-) Deutschen noch Tschuwaschen bekannt gewesen sein.

 

Denkbar wäre allerdings, dass die ungarische Sage den Tschuwaschen außer-halb von Simons Werk aus der Mündlichkeit bekannt wurde. 1236 wurde das Wolgabulgarische Reich von den Mongolen zerschlagen, was zur Entste-hung eines eigenen tschuwaschischen Volkes führte. 1241 eroberten die Mon-golen Ungarn. Weil am 11. 12. 1241 Dschingis Khans Sohn Ügedai starb, zogen sie sich zurück. Sie schleppten gefangene Bulgaren nach Ungarn mit und gefangene Ungarn wieder nach Osten. Damit riss der Kontakt zwischen beiden Völkern wieder völlig ab und die Tschwuwaschen lebten so zurückgezogen, dass Teile von ihnen noch im 20. Jh Heiden waren. Ferner scheint die Sage auch bei den Ungarn wenig verwurzelt gewesen zu sein. Der ungarische Forscher Bleyer meinte 1907, die Ungarn hätten von ihren slawi-schen Vorbewohnern in Pannonien eine ostgermanische Sage übernommen, die sich von der westgermanischen (deutschen) unterschied, aber der nord-germanischen entsprach.  Alle Chronisten vor Simon übergehen sie jedenfalls schweigend, die nach ihm stützen sich auf ihn. Die einzige Ergänzung, die für ein Fortbestehen der Sage in Ungarn sprechen könnte, ist die Angabe  in der Chronica Hungarorum des  Johannes von Thurocz von 1487, Detricus de Verona hätte sich durch das Überleben eines Pfeilschusses in die Stirn den Ruf der Unsterblichkeit erworben. Hätte es im 15. Jh noch eine lebendige Sage gegeben, hätte der Chronist aber sicher deutlich mehr vorgefunden.

 

So sprechen die Ähnlichkeiten beider Sagen dafür, dass die Tschuwaschen-sage schon im 13. Jh etwa denselben Inhalt wie im frühen 20. hatte, falls die Gemeinsamkeiten nicht noch viel älter sind, was nun untersucht werden soll.

 

TEIL 2: Sagengeschichte

 

Hier geht es um die Frage, ob die uns vorliegenden Fassungen Hinweise auf ältere Stufen geben.

 

A)Das tschuwaschische Epos: Diese Dichtung ist so gut und glatt aufgebaut, dass es fast keine Hinweise auf ältere Stufen zu geben scheint. Der einzige Fall ist offenbar der Name Herkke, bei dem seine Bewahrung aus der Ge-schichte verwundert, weil sie als Rivalin Krimkiltes nur eine Nebenrolle hat. Deshalb ist zu vermuten, dass ihre Söhne früher eine wichtigere Rolle hatten und auch sie als Mutter. Mehr lässt sich an dieser Stelle nicht sagen.

 

B) Die ungarische Sage: Aus der Umgebung, in die sie bei Simon eingebettet ist, haben wir sie gelöst. Aber auch in ihre Sagenhandlung sind fremde Teile eingebaut worden. Das Hauptproblem ist deshalb die Frage, wie die Sage ausgesehen hat, wenn man die aus antiken Schriftquellen stammenden Teile entfernt. Die Streichung des in den ersten Kämpfen fallenden Macrinus macht ebensowenig Probleme wie die des Ecius und seiner 10 Könige aus dem Westfeldzug, weil beides die Handlung nicht veränderte. Anders sieht es aus mit dem Tod der Brüder Ethela und Buda, also der Ermordung Budas durch seinen Bruder nach dem Westfeldzug und dem Tod Ethelas in der 1. Nacht mit Micolt. Weil beide Brüder danach nicht mehr erscheinen, müssen sie auch in der Sage an diesen Stellen der Handlung gestorben sein.

Budas Gegenstück Blödel fällt im Nibelungenlied gegen die Burgunder. Im Westfeldzug kommt der Burgunderkönig Sigismund vor. So könnte Buda gegen ihn gefallen sein. Hier ist daran zu erinnern, dass Sigismund als Name aus der Heiligenlegende kommt, die Sage aber nur die Burgunderkönige Gundahari (und seine 2 Brüder) und Hilperich kennt. Nach Gundaharis Tod erhielt Aetius die Oberherrschaft über die Westburgunder mit König Gund-ioch und Attila über die Ostburgunder mit dessen Bruder Hilperich. Zur Begründung verweise ich auf meinen Aufsatz „Gundaharis Königreich“[10]. In der süddeutschen Sage erscheint Helferich (Ths: Hjalprek) an Etzels Hof als vergeblicher Hüter von dessen Söhnen in der Rabenschlacht (Ths: Gransport-schlacht). Da Sigismund sich unterwirft, ist er offenbar in die Rolle Helfe-richs und nicht die des getöteten Gunther eingesetzt worden.

 

Da Ethela einen erwachsenen Sohn Aladarius hinterlässt, kann er nicht in der ersten Nacht mit dessen Mutter Crumhelt, die für Micolt einzusetzen ist, gestorben sein. Andererseits ist er sicher in deren Bett gestorben. Geschah das nach längerer Ehe, spricht alles für die Ansicht der Sage, dass sie ihn ermordete. Sie muss dann einen Verwandten gerächt haben. In Simons Text fällt in der Schlacht, in der sich „Sigismund“ unterwirft, der „Goten“-König Aldarich. Könnte sie ihn gerächt haben ? Simon sagt nichts über ihn. Gotenkönig ist er wohl nur, weil er an der Stelle eingeordnet ist, an der in der Geschichte der Westgotenkönig Theoderich I. fiel.

 

Einen Hinweis könnte die Thidrekssaga geben. Auf die Ähnlichkeit der Namen Aladarius und Aldrian war schon hingewiesen worden. Dort hat Grimhild mit Attala einen Sohn Aldrian und so heißt auch ihr Vater. Bei Simon hat Crumhelt einen Sohn Aladarius und als zu rächender Verwandter steht im Text nur Aldarich zur Verfügung. Auch diese beiden Namen scheinen identisch, einmal in der germanischen Form, einmal mit lateinischer Endung.

 

Die Lösung, also der Inhalt der ungarischen Sage, dürfte wohl so aussehen: so wie Ethelas Nord- und Südfeldzug Simons Erfindung sind bzw aus Schriftquellen stammen, gilt das auch für den Westfeldzug.

Es gab nur die eine Schlacht am Anfang. Hier besiegte Ethela mit seinem Bruder Buda, der in der Schlacht fiel, Dietrich von Bern mit seinen germani-schen Verbündeten. Der Burgunderkönig (wohl Helferich statt Sigismund) unterwarf sich, während König Aldarich fiel. [An dessen Stelle setzte Simon den gefallenen Macrinus und verschob Aldarichs Tod in den von ihm einge-führten Westfeldzug]. Aldarichs Verwandte (Tochter ?) Crumhelt wurde als Gefangene seine Zweitfrau neben der „Honoriustochter“ (sicher Helche), die ihm den Chaba gebahr oder alternativ: Crumhelt wurde seine einzige Frau, wenn diese Heirat erst nach dem Tod der ersten geschlossen wurde. Von Crumhelt hatte er den Sohn Aladarius. Als der erwachsen war, rächte sie Aldarich durch Ermordung Ethelas. Der Fortgang ist klar: durch Dietrichs Hilfe werden beide Söhne König, aber in einem von Dietrich verursachten  Bruderkrieg kann sich Aladarius allein durchsetzen und Chaba vertreiben.

 

Weitere Erkenntnisse sind aus den Sagenfassungen alleine nicht zu gewin-nen. Ob die 2 Sagen bis in die Völkerwanderung zurückgehen, kann nur durch Vergleich mit der Geschichte geklärt werden.

 

TEIL 3: Geschichtliche Grundlagen der Sagen um Attila

 

Hier soll nicht in Kurzform wiederholt werden, was überall nachzulesen ist, sondern nur, was für die Sage wichtig wurde. Attila herrschte über viele Könige, von denen aber anscheinend nur 3 in die Sage eingingen: der Gepidenkönig Ardarich, der Ostburgunderkönig Hilperich und Theodemer, der mit 2 Brüdern, die aber nicht in die Sage eingingen,  über die Ostgoten herrschte. Er gab seine Rolle in der Sage an seinen Sohn Theoderich d.Gr. ab, blieb aber als dessen Vater Dietmar/ Thetmar/ Thjodmar ( sonst ohne alte Rolle) in der Überlieferung erhalten.

 

Als Attila 453 in der Hochzeitsnacht mit Hildiko starb, machte Ardarich 454 mit anderen Stämmen einen Aufstand gegen Attilas Söhne unter der Führung Ellaks. Die  Ostgoten standen nach neuerer Forschung[11] (entgegen den Ver-suchen des Jordanes, das zu vertuschen) in der Entscheidungsschlacht am Nedao auf ihrer Seite. Von den Ostburgundern, die am Main wohnten, kann  man nur vermuten, dass Hilperich auf Ellaks Befehl mit einem Heer zu dessen  Beistand kam. Nach der Niederlage eilte er sicher schnell zurück und führte seinen Stammesteil über den Rhein zu den Westburgundern und deren König, seinem Bruder Gundioch. 456 kämpften beide schon zusammen gegen die Sweben in Portugal.

 

Ellak fiel, das Hunnenreich wurde zerstört und die alleinige Vormacht hatte nun der oströmische Kaiser Marcian (450-457). Er gewährte den Besiegten, u.a. Attilas Sohn Ernak, ein eigenes Siedlungs- und Herrschaftsgebiet unter seiner Oberhoheit und rettete sie so wohl vor der Zerstreuung und Vernichtung. Etwa 15 Jahre später zog sich Ernak mit seinen Hunnen wieder in die Weiten Osteuropas zurück.

 

Erste Sagenbildungen

 

Es ist nun ziemlich leicht, die Personen der Tschuwaschensage in der Geschichte wiederzufinden und auch ihre Rollen zu vergleichen. Um die Vorgänge wirklich aufzuklären, ist es aber erforderlich, diese Sagenbildung im Zusammenhang mit den anderen aufzuklären. Attilas Tod regte offenbar zu vielfältiger Sagenbildung an. Immer ging man von seiner Ermordung in der Hochzeitsnacht durch Hildico zur Verwandtenrache aus. Aber wer waren ihre Verwandten?  Zu ihrer Herkunft haben  wir den zeitgenössischen Bericht des Priskos leider nur in der kurzen Inhaltsangabe des Jordanes.

 

Beckmann[12] schätzt 2010 unsere Erkenntnismöglichkeiten aufgrund dieser Quelle so ein: „Trotz der erwähnten Polygamie [Attilas] deuten das Wort matrimonium [= rechtmäßige Ehe im Gegensatz zum Konkubinat, W.K.], die bloße Tatsache, dass der Name der Braut mitteilenswert ist, und vor allem deren (zumindest auch soziologische, nicht rein äußerliche) Kennzeichnung als valde decora  darauf, dass es sich um ein germanisches Mädchen aus hohem Stand, vermutlich eine Fürstentochter, handelt.“ [kursiv von B.,  decora heißt in dichterischer Sprache zwar auch „schön“, in einem diplo-matischen Bericht wie dem des Priskos eher „passend“ oder „angemessen“, was angesichts von Attilas Stellung als Großkönig tatsächlich auf eine Fürsten- oder angesichts der Verstärkung (valde = sehr) sogar auf eine Königstochter hindeuten könnte.]

 

Man könnte noch folgenden Gesichtspunkt hinzufügen: wenn Attila sich übermäßig betrinken oder, salopp gesagt, vollfressen wollte, brauchte er sicher keinen offiziellen Anlass. So etwas passt aber nicht zu seinem maß-vollen Verhalten, wie es Priskos bei seinem Besuch bei Attila feststellen konnte. Andererseits wird er kein großes Fest veranstaltet haben, nur weil er wieder seinen Harem durch eine neue Konkubine vergrößerte. Feste dienen in Stammesgesellschaften dazu, den Rang von Personen und Familien öffentlich deutlich zu machen. Bei der Heirat mit einer Prinzessin stieg deren Verwandtschaft in ihrer Bedeutung erheblich an. Wenn der König dies nicht in angemessener Feier deutlich machte, wäre es als Distanzierung und Herab-würdigung dieser Familie gedeutet worden. Lag das nicht in Attilas Absicht, konnte er eine Feier nicht vermeiden, die, je angesehener die Familie der Braut war, umso pompöser ausfallen musste.

 

Man müsste daraus schließen, dass Hildicos Familie allgemein bekannt war. Wenn wir nun aber die Feststellung machen, dass ihr in den verschiedenen Sagenfassungen jeweils verschiedene Verwandte gegeben wurden, können wir daraus Rückschlüsse auf die Entstehung der jeweiligen Sagenfassung ziehen.

Bei den Franken sah  man Attila durch die Brille des Burgundenuntergangs von 437. Sie wurde deshalb zur Schwester der 3 königlichen Brüder Gunda-hari, Gislahari und Gundomar. Sonst machte man sie gewöhnlich zur Rächerin ihres Vaters, zum Beispiel bei den Sachsen: Schon kurz vor dem Jahr 900 erwähnt der „Poeta Saxo“:   „…man erzählt (…) daß die Königin in grauenvollem Wagemut den König [Attila,W.K.] tötete. So rächte sie den rechtsverletzenden Mord am eigenen Vater.“[13] Von der Hochzeitsnacht ist hier keine Rede. Um 1009, in den ebenfalls sächsischen Quedlinburger Annalen, ist das erweitert: „Attila, der König der Hunnen und Schrecken des ganzen Europa, wurde von einem Mädchen, das er dem dabei ermordeten Vater raubte, mit dem Dolche durchbohrt und starb.“ (Haubrichs, aaO). Weil sie Mädchen (puella) genannt wird, ist von einer Hochzeit keine Rede, aber es dürfte die erste gemeinsame Nacht gemeint sein.

 

Bei einem unbekannten Stamm setzte man Hildico mit Hilde gleich, der Heldin der Hildesage. Ihr Vater war der Rugierkönig Hagena (gemäß Widsith, der wohl ältesten germanischen Quelle aus dem 7./ 8. Jh). Das passte gut, weil die Rugier tatsächlich unter Attilas Herrschaft standen und sich an Ardarichs Aufstand beteiligten. Weil Hagena nach der Sage von den Helden Wate und Wilmund getötet worden war, wurden diese zu Attilas Gefolgsleuten. Im Norden wurde später Wate vergessen, im Süden Wilmund, dessen Taten noch die spätnordische Vorzeitsaga von Vilmund Vidutan verherrlicht. Das Eddalied „Oddruns Klage“ ,Strophe 8, nennt ihn noch Högnis Töter. Der ist hier schon als Gunnars Bruder gesehen.

 

Die Entwicklung ging wohl so, dass bei den Franken die Sage bekannt wurde, dass Attila nicht nur Gunther und seine Brüder getötet hatte, sondern auch Hildicos Vater Hagen. Beide Taten wurden verbunden, womit Hagen zuerst Gunthers Unterkönig wurde, später sein erster Gefolgsmann. Es erhöhte aber Gunthers Ruhm in besonderer Weise, diesen kriegerischen König in seinen Reihen zu haben. Da man wusste, dass Hildico dieselbe wie Kriemhild war und diese schon Schwester Gunthers, und damit Tochter von dessen Vater Gibich geworden war, konnte Hagen nur allgemein als älterer Verwandter („mâc“) eingegliedert werden.

Hagen hatte Hildes Verlobten Hedin getötet, den man nun mit Kriemhilds (ursprünglich von Gunthers Schwester Gudrun) Ehemann Sigfrid gleich-setzte. So wurde Hagen zum Töter Sigfrids, dessen ursprünglicher Töter Guthorm (wohl der historische Gundomar) gestrichen wurde. Die Gleich-setzung mit Sigfrid wurde erleichtert, weil man Hedin als „der Verhüllte“ und damit Beinamen Sigfrids deuten konnte. Daher kommt Sigfrid als gehüllt in die Hornhaut aus Drachenblut und die Tarnkappe (keine Kappe, sondern ein Kaputzenmantel, der den ganzen Körper umhüllte).

Im Norden konnte sich diese neue Sage nur bedingt durchsetzen. Sigfrid ist dort kein „Verhüllter“, Guthorm blieb Sigfrids Mörder. Dessen Frau blieb Gudrun und damit für den Namen  Kriemhild (Grimhild) nur die Mutterrolle. Weil im Norden Giselher weggefallen war, reihte man Hagen (Högni) als neuen 3. Bruder ein. Soweit in Kurzform diese Sagenentwicklung, die natürlich eine ausführlichere Darstellung verdiente. Hier ging es nur darum, ein weiteres Beispiel für die Sagenbildung aufgrund von Hildicos angeblicher Verwandtenrache aufzuzeigen.

 

2010 hat Gustav Adolf Beckmann die These entwickelt (wie S. 45, Fußnote 12, S. 99ff), dass es auch eine Sage gab, die erzählte, wie sich die Mörderin Hildico ihrer Bestrafung entzog. Er setzt Hildico mit Hildegunde gleich. Weil sie nicht ohne Hilfe ins Römerreich (also über den Rhein) fliehen konnte, hatte sie sich rechtzeitig Attilas Feldherrn Walther als Geliebten angelacht, mit dessen Hilfe sie dann entkam. Es würde hier zu weit führen zu prüfen, ob die Walthersage tatsächlich diesen Ursprung hat, aber falls doch, hätten wir hier ein weiteres Beispiel einer aus Hildicos Rache entsprungenen Sage.

 

Entstehung der vor-ungarischen Sage

 

Die Sagenfassung, die später die Ungarn übernahmen, könnte bei den Gepiden entstanden sein (s.u.), jedenfalls dürften es  Ostgermanen gewesen sein, sonst hätte man zB nicht die Ostwanderung der Hunnen aufgenommen. Ethela und seine Frauen „Honoriustochter“ (in der Sage sicher immer Helche) und Crumhelt entsprechen  Attila und seinen Frauen Kreka und Hildico (Kriemhild). Als unterworfene Könige gab es Helferich („Sigis-mund“), Ardarich (= Aldarich, die Laute l und r wechseln oft) und Dietrich/ Theoderich, der später für seinen Vater Dietmar/ Theodemer eingetreten ist.

 

Ardarich: Die Sagenentwicklung ging sicher so, dass auch hier nach einem Vater gesucht wurde, den Hildico rächte. Man entschied  sich für Ardarich, den Feind der Söhne, als passenden Vater der Attila-Mörderin. Um für sie einen Rachegrund zu haben, musste er aber von Attila getötet worden sein, obwohl er doch die Schlacht gegen die Söhne siegreich überlebte. Man kam auf eine sehr merkwürdige Lösung. Dem siegreichen Ardarich/ Aladarius wurde ein gleichnamiger Großvater Aldarich beigegeben, den Attila getötet hatte. Der war damit Kriemhilds Vater.

 

Am Anfang war sie anscheinend die Tante des siegreichen Ardarich bis sie später seine Mutter wurde. Weil sie Attilas Frau war, wurde Ardarich dessen Sohn und damit Feind seines Bruders (Chaba, der als einziger noch vorkam). In der Thidrekssaga ist Grimhild Tochter eines Aldrian (I). Der hat einen Enkel Aldrian (II), Sohn ihres Bruders Högni. [Auch im Nibelungenlied heißt Hagens Vater Aldrian]. Sie ist also dessen Tante. Aber auch sie hat einen Sohn Aldrian (III). Hier kann man wohl die Entwicklung noch fassen, wie sie aus der Tante eines Aldrian (II) zur Mutter eines Aldrian (III) wurde.

 

Unter dem Einfluss der Nibelungensage entfernte sich später die Handlung von dem für sie entworfenen Stammbaum. Grimhild brauchte nicht mehr ihren Vater Aldrian (I) zu rächen, ihr Neffe Aldrian (II) kämpfte nicht mehr gegen den Attilasohn, der als Grimhildsohn nun Aldrian (III) hieß, sondern tötete Attila aus Rache für seinen Vater Högni, den Töter Aldrians (III).

 

Diese verwickelten Zustände geben einen guten Überblick, wie sich Sagenhandlung verändern kann. Das findet sich nicht nur hier. Im Jüngeren Atlilied der Edda wird Atli von seiner Frau Gudrun (= Kriemhild) aus Rache ermordet und dabei hilft ihr ihr Neffe, der Sohn ihres Bruders Högni. Den kennt auch das Ältere Atlilied, wo er allerdings nur genannt wird, ohne in die Handlung einzugreifen. Er hat offenbar seine Funktion in der Handlung verloren, weil in der stark gerafften Handlung dieses Liedes Gudrun nicht nur Atli tötet, sondern auch dessen Söhne. Ursprünglich waren das die Söhne seiner anderen Frau, aber auch die war der Straffung zum Opfer gefallen, sodass Gudrun nun auch Töterin ihrer eigenen Söhne wurde.

 

Hilperich und Theodemer: So verwickelt die geschilderte Entwicklung auch ist, so lässt sie sich doch anhand der erhaltenen Sagendenkmäler einiger-maßen gut nachvollziehen. Es verbleiben noch die beiden von der Sage aufgenommenen historischen Könige, der Burgunder Helferich (Hilperich) und der Gote Dietmar (Theodemer), ersetzt durch seinen Sohn Dietrich (Theoderich). In der deutschen Sage erscheinen beide als Helfer der Söhne Attilas und Helches. Beide scheitern, denn die Söhne werden getötet.

In der ungarischen Sage sind diese Söhne in der Person Chaba zusammenge-fasst. Helferich („Sigismund“) dürfte auch hier sein Helfer gewesen sein, bis er gestrichen wurde, d.h. er wurde nach seiner Unterwerfung nicht mehr erwähnt. – Anscheinend, um die 2 Könige als Helfer auf die 2 feindlichen Brüder zu verteilen, wurde Dietrich nun zum Helfer Ardarichs (Aladarius/ Aldrian (II)) und übernahm von seinem Schützling die Rolle des Verräters an Attilas Sohn.

 

Chaba als von Ardarich/ Aladarius besiegter Attilasohn und Wanderführer nach Osten entspricht dem historischen Ernak oder Irnik. Chabas Name taucht nur noch einmal, in der Form Geva, im Högnatattur (Hagenlied) der Färöer-Inseln auf. Er wird dort von Högni getötet und von Dietrich (Tidrik Tattnarson) gerächt. Seine Rolle entspricht etwa der, die sonst Iring innehat. Dessen Name könnte zu Irnik gehören: Ir + nik (slawisch) wurde germani-siert (slaw. -nik = germ. -ing), aber dies nur als Möglichkeit.

 

Macrinus trägt einen Namen, bei dem man schon lange an Kaiser Marcian gedacht hat und eine passendere Deutung ist noch niemandem eingefallen. Als Herrscher römischen Gebiets entspricht er sogar der Wirklichkeit. Aller-dings hätte man seine Rolle mit der Theoderichs getauscht. Das entsprach einer Sagenentwicklung, in der v.a. die Traditionskraft zählte, die mit einem Helden verbunden war. Da konnte es niemand mit Dietrich aufnehmen, der ja auch in der Ths Herrscher Roms wurde. Ursprünglich  hütete Theodemer (dann Dietrich) für den Kaiser das Grenzland und Marcian war der Kaiser. Vor Marcians Druck zog Irnik in den Osten, wie Chaba vor Dietrich. Auch hier hätte die Sage noch Erinnerungen an die Wirklichkeit bewahrt, diese aber stark durcheinander gewirbelt.

 

Insgesamt zeigt sich eine Fassung der Sage, die dadurch gekennzeichnet ist, dass hier der Kampf nach Attilas Tod sehr das Schwergewicht innehat. Dazu passt, dass der von Hildico/ Crumhelt gerächte Vater aus dem siegreichen Ardarich als gleichnamiger Großvater entwickelt wurde. Simons Hunnen-freundlichkeit hat Chaba zum positiven Helden zu machen versucht und Ala-darius und Dietrich zu seinen Gegenspielern. Es schimmert aber noch durch, dass Chaba der Besiegte und Aladarius der Held war. So könnte diese Sagen-fassung bei Ardarichs Stamm, den Gepiden entstanden sein.

 

Entstehung der ur-tschuwaschischen Sage

 

Die Sage der Tschuwaschen kann nur die der Hunnen sein, wenn sie auch auf das 5. Jh zurückgeht. Dafür spricht, dass sie so sehr mit den bisher besprochenen – bei allen Unterschieden im einzelnen – zusammengehört, dass entweder alle oder keine im 5. Jh wurzeln. Es geht nun darum, ihre Besonderheiten herauszuarbeiten.

 

Krimkiltes Vater Tschupajrek wird von Sträßner (s.o.  S. 35) mit dem Burgun-derkönig Chilperich gleichgesetzt.  Das ist die fränkische Namensform, bur-gundisch hieß er Hilperich (genauer: Hilpareiks). Daraus läßt sich Tschu-pajrek vmtl. nicht entwickeln aber es ist nichts besonderes, dass fremde Namen an ähnlich klingende einheimische angeglichen werden, auch wenn es keinen gemeinsamen Ursprung gibt. Ein anderer Name als Helferich,  der eher mit Tschupajrek in Verbindung gebracht werden könnte, ist nicht ersichtlich, aber damit ist diese Lösung noch nicht zwingend.

 

Von der Sache her hat sie aber einiges für sich. Wenn eine Sage entsteht, nimmt sie gewöhnlich nur wenige Namen aus der Geschichte in sich auf, weil in ihrer ältesten Form, dem Heldenlied, im Gegensatz zum Epos, für viele Namen kein Raum ist und sie in ungereimter Sage, also in Prosa, kaum lange im Gedächtnis bleiben können. Die Ausnahme sind Merkverse, aber weil die dort genannten Personen in der Handlung keine Rolle spielen, werden sie – mit Ausnahme der Wissensdichtung – schließlich auch ausgeschieden. Wandelt sich ein Heldenlied in ein Epos, können Merkverse als Stilmittel wieder verwendet werden. Die in deutscher Sage bekannten Fälle scheinen alles Neubildungen zu sein. Das gilt auch für den ältesten Fall, Gunthers Gefolgsleute  im Waltharius.

 

Helferich, der in deutscher wie nordischer Sage vorkommt, gehört  zu dem kleinen Kreis von Heldennamen, die sich ins 5. Jh zurückführen lassen.  Das ist auch gut erklärbar. Für die Hunnen war er nach Gundaharis Untergang 437 wohl 16 Jahre lang König der unterworfenen Ostburgunder. Da ist es verständlich, wenn er für sie den nur einmal genannten Gundahari aus der Erinnerung verdrängte und sich die Ansicht festsetzte, Hilperich sei der 437 besiegte Burgunderkönig, habe aber überlebt. Dass Tschupajrek auf ihn zurückgeht, ist deshalb eine gut begründete Annahme.

 

Wenn nun die Hunnen für Hildico einen Vater suchten, den sie durch Attilas (angenommene) Ermordung rächte, war es eine Möglichkeit, Hilperich hier einzusetzen. Das ist allerdings nicht unproblematisch.

Im Tschuwaschenepos gibt es eine Rivalität zwischen Krimkilte und Herkke, die mit Attil 3 Söhne hat. Von denen ist nicht mehr die Rede, aber dass es sie gibt, ist wohl nur so zu erklären, dass sie im Kampf von Krimkilte und Ajtaman (wohl Ardarich) auf der Gegenseite standen. Tschupajrek steht als ihr Vater auf Krimkiltes Seite, also gegen die Herkkesöhne.

 

Dagegen ist er in der deutschen Sage (zB Rabenschlacht und Ths) der Beschützer der Helchesöhne. Gleiches gilt für Dietrich wie dessen histori-sches Urbild, Theoderichs Vater Theodemer. Allerdings hat schon Jordanes das zu vertuschen gesucht und den Eindruck erweckt (ohne es deutlich zu sagen), dass Theodemer gegen Attilas Söhne kämpfte.

Wie ist das zu erklären ? Wir hatten uns oben dafür ausgesprochen, dass Hildico wirklich eine Königstochter war, mit deren Familie Attila eine große Hochzeitsfeier veranstaltete. Dann müssten die Hunnen ihren Vater gekannt haben. Der hatte zu Attila ein gutes Verhältnis und da Hildico keine Mörderin war, sicher auch zu ihren Söhnen. Als die vielen Söhne sich bald über die Erbteilung zerstritten, nutzte das im nächsten Jahr Ardarich gegen diese zu seinem Aufstand. Es entsprach der Sitte vieler Stammeskulturen, dass der Hauptnachfolger eines Königs seine Stiefmutter heiratete. Das wäre hier Ellak gewesen, der dann gegen Ardarich fiel. Unter diesen Umständen müsste man annehmen, dass Hildicos Vater auf Seite der Attilasöhne kämpfte, die von der Sage vereinfacht alle zu Söhnen Krekas (Helches/ Herkkes) wurden.

 

Erst als Hildico in der Sage zur Attilamörderin wurde, trat sie auf Ardarichs Seite über. Wenn Hilperich ihr historischer Vater war, nahm sie ihn in der Hunnensage mit, in der deutschen (die auf die Ostgoten zurückgehen dürfte) blieb er mit den Attilasöhnen verbunden, also wieder eine Sagenaufspaltung.

 

War Hilperich nun Hildicos historischer Vater ? Dagegen spricht nichts und dass die Franken in ihr ebenfalls eine burgundische Prinzessin sahen, wenn auch Gunthers Schwester, spricht eher dafür. Die  anderen Sagenfassungen stehen nicht entgegen. Der Rugierkönig Hagena ist wohl auch historisch, lebte aber eher im 4. Jh und wurde über die Hildesage zu Hildicos Vater.

 

Dass die Gepidensage Hildico zur Tochter eines älteren Ardarich (Aldarich, Aldrian (I)) machte, ist von deren besonderer Sichtweise verständlich. Verschiedene Quellen sprechen dafür, dass eine Tochter Ardarichs (in der Wirklichkeit gab es ja nur einen Ardarich) mit Attilas Sohn Giësmos einen Sohn Mundo hatte[14]. Vielleicht wurde diese namenlose Tochter mit Hildico gleichgesetzt. Giësmos wurde anscheinend Nachfolger des Hunnenbesiegers Ardarich als Gepidenkönig[15], Mundo dagegen oströmischer General, was zeigt, wie Fronten und Parteistellungen damals wechseln konnten.

Hilperich als Hildicos Vater dürfte die wahrscheinlichste Lösung sein, bleibt aber natürlich unbeweisbar. War ihr Vater aber doch ein anderer Fürst, der vielleicht nicht weiter hervortrat, wäre sie wohl auf einer ziemlich frühen Stufe zu Hilperichs Tochter geworden. Das müsste dann nämlich zu einer Zeit gewesen sein, als Hilperich auch bei den Hunnen noch als König eines besiegten Nachbarvolkes in Erinnerung war.

 

Über die Tschuwaschen-/ Hunnensage lassen sich noch folgende Feststellungen treffen:

In Markka fallen Ernak als Wanderführer und Marcian als (Macht-) Nachfolger Attilas zusammen, der Ernak und seine Leute durch Zufluchtgewährung im Römerreich rettete. Die Sage stellte die Verhältnisse auf den Kopf, indem Markka aus der ausländischen Verbannung zur Rettung zu ihnen kam, während in Wirklichkeit die Hunnen zu Marcian flohen.         In der ersten Phase der Sage kam  Ernak wohl noch mit seinen Brüdern vor und erst später wurde er mit Marcian zu einer Gestalt vereinigt, wobei dessen Name sich ebenso durchsetzte, wie dass er nicht mit Attil verwandt war. Dessen Söhne wurden nur noch namen- und tatenlos erwähnt.

 

Ajtaman als Feldherr, der nach dem Tod seines Königs zum Verräter wird, entspricht der Rolle Ardarichs, nur mit dem Unterschied, dass letzterer erfolgreich war. Die Hunnen konnten wohl nicht ertragen, dass der Verräter straflos blieb.

 

Schlussbetrachtung

 

Insbesondere der letzte Teil dieser Untersuchung hat wohl einen ziemlich ver-wirrenden Eindruck gemacht. Das liegt an den Namen, die in immer wieder abgewandelten Formen auftauchen und teilweise auch noch in mehrere Per-sonen aufgespalten werden. Der Fall Ardarich – Aldarich – Aladarius – Aldrian (I), (II), (III) ist das Extrembeispiel. Bei Kreka – Herkja – Herkke – Herche – Helche – Erka bleibt es wenigstens immer dieselbe Person. Da die Sage in verschiedenen Sprachen und Dialekten lebte, ist das nicht zu vermei-den gewesen. Aber die sich weiter entwickelnde Sage veränderte auch immer ihre Handlung, legte aber Wert darauf, Fühlung zur Überlieferung zu behalten. Das ergibt dann Fassungen, die unterschiedlich, aber ähnlich sind. Wer sie zu ihrer Erforschung nebeneinander stellt, muss ein hohes Maß an Gedächtnisleistung einsetzen, um den Überblick zu behalten.

 

Der wichtigste Punkt bei der Erforschung ist die Frage, nach welchen Regeln die Sagenveränderungen vor sich gehen. Dies zu beantworten, ist Aufgabe der Verbesserung der Methoden der Sagenforschung. Oft hätten hier be-stimmte Entscheidungen oder Vermutungen genauer erläutert werden können, aber dieser Aufsatz soll kein Kurs in Methodenlehre sein, sondern eine Vor-stellung davon vermitteln, welchen Platz das interessante Tschuwaschen-Epos im Rahmen der Attila-Sagen einnehmen könnte. Insofern ist dieser Aufsatz nicht das letzte Wort zu diesem Thema, sondern eher das erste, das Vorschläge zur weiteren Diskussion machen soll.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


[1]   Kai Ehlers (Hrsg), Attil und Krimkilte, Berlin 2011

[2]   Laszlo Veszpremy u.a., Simonis de Keza – Gesta Hungarorum, Budapest 1999

[3]   Wie Fußnote 1, Seite 147f

[4]   Carsten Kumke, Führer und Geführte bei den Zaporoger Kosaken, Berlin 1993, S. 330,

Anm. 43

[5]   Jacob Bleyer, Die germanischen Elemente der ungarischen Hunnensage, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 31, 1907, S. 566

[6]   Wilhelm Grube, Die Metamorphosen der Goetter, Fêng-shên-yên-i, Die Erzählungen von der Belehnung mit der Götterwürde, Hrsg von Herbert Müller, Leiden 1911

[7]   Lu Xun, Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung, Peking 1981, S. 229

[8]   Wolfram Eberhard, Zum Epos in China, in: Walther Heissig, Die mongolischen Epen, Wiesbaden 1979, S. 200

[9]   Victor Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter, Berlin 2008, S. 126f

[10] In: Forschungen zur Thidrekssaga, Band 4, Bonn 2007, S. 121ff

[11] Helmut Castritius, Stichwort „Nedao“ in: Reallexikon der Germanischen Altertums-kunde, Band 21, 2002, S. 49 bis 51

[12] Gustav Adolf Beckmann, Gualter del Hum – Gaiferos – Waltharius, 2010, S. 95

[13] Wolfgang Haubrichs, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit (hrsg Joachim Heinzle), Bd I, Teil 1, Frankfurt/M, 1988, S. 122

[14] Walter Pohl in: Die Völker an der mittleren und unteren Donau im 5. und 6. Jahrhun-dert (Hrsg Herwig Wolfram u. Falko Daim),Wien 1980, S.290

[15] Brian Croke, Mundo the Gepid: from Freebooter to Roman General, in: Chiron 12, 1982, S. 126 (Chronik des Malalas)