Europa minus Ukraine?

Die Formel „Russland minus Ukraine“, nach welcher der russische Konzern Gasprom seinen Lieferstop gegenüber der Ukraine betreibt, klingt nach Eskalation: Gasprom beschuldigt die Ukraine, trotz Lieferstop illegal Gas zu entnehmen, die Ukraine bestreitet das. Die westlichen Nachbarn der Ukraine dagegen melden verringerte Gasvolumen. Entsprechend hätte man scharfe Reaktionen seitens der EU erwartet, ähnlich wie seinerzeit zum Fall Chodorkowski; die blieben jedoch aus. Selbst die USA warnten nur vage, es bestehe die Gefahr, dass Energierohstoffe zum politischen Druckmittel würden.
Für die Zurückhaltung besteht guter Grund, wenn die Konflikte nicht aus dem Ruder laufen sollen: Auseinandersetzungen um russische Gaslieferungen an die Ukraine sind nicht neu. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte und in der Hoffnung auf eine Wiederannäherung im Rahmen einer „eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ bestehend aus Kasachstan, Russland, Weißrussland und der Ukraine, lieferte Russland der Ukraine dennoch seit nunmehr fast 15 Jahren Gas zu Sonderkonditionen ohne Gegenleistung. Seit der erklärten Abwendung der Ukraine von der Perspektive einer Union mit Russland, seiner demonstrativen Hinwendung zur EU und zur NATO in und nach der sog. „Orangenen Revolution“ vor einem Jahr ist die Basis für eine Vorzugsbehandlung der Ukraine, die Russland jedes Jahr drei Milliarden Euro kostete, jedoch nicht mehr gegeben. Weißrussland, das die Union mit Russland weiter anstrebt, behält seinen subventionierten Preis.
In der Ukraine stehen zudem neue Wahlen ins Haus. In ihnen sind Aktualisierungen der Auseinandersetzungen um die politische Orientierung des Landes zu erwarten, die zum Sieg der „Orangenen Revolution“ geführt haben. Die Ukraine ist weit davon entfernt, sich demokratisch stabilisiert zu haben: Die Popularitätswerte Juschtschenkos sinken gegen 30%, das Anti-KorruptionsBündnis Jutschtschenko/Timoschenko ist an Korruptionsaffären der neuen Regierung geplatzt. Die Anbindung der Ukraine an die EU ist ein Traum geblieben; bis heute ist die Ukraine für die EU nicht mehr als ein Transitland, über das 80% des aus Russland bezogenen Gases nach Europa kommen. Mit der Ostsee-Pipeline versucht man sich seitens der EU aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Dessen ungeachtet stehen die in- und ausländischen Akteure bereit, die seinerzeit zur Radikalisierung der „Orangenen Revolution“ beitrugen, ihre Interventionen für eine „demokratische“ Ukraine zu wiederholen.
Schließlich sind die Umgruppierungen auf dem russisch-eurasischen Öl- und Gasmarkt, die sich aus dem Verlauf der YUKOS-Chodorkowski Affäre ergeben, keineswegs abgeschlossen, sondern treiben neuen Konflikten zu. Der amerikanische Versuch sich über Yukos-Beteiligungen Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen Russlands zu verschaffen, wurde von Russland mit der Zerschlagung von Yukos vorerst abgeschmettert. Gewinner dieser Runde ist der Konzern Gasprom, der seither auf dem Gas- und auf dem Ölmarkt expandiert. Noch wenige Tage vor dem Lieferstop schloß Gasprom mit Turkmenistan einen Vertrag, der eine Erhöhung der turkmenischen Gaslieferungen von bisher sieben auf dreißig Milliarden Kubikmeter vorsieht – nur einen Tag bevor die Ukraine ihrerseits einen Vertrag mit Turkmenistan über die Lieferung von 40 Milliarden Kubikmetern bekannt gab. Gasprom praktiziert jetzt, was russischen Managern von IWF, Weltbank, WTO usw. seit Jahren als zivilisierter Weg gepredigt wird: knallharte Marktwirtschaft, Einflussnahme über wirtschaftlichen Druck statt Subventionen, Diversifizierung des Energiehandels. Das wirft noch ein weiteres Licht auf die geplante Ostsee-Pipeline: Mit ihr will auch Gasprom sich unabhängig von den Transitländern Polen und Ukraine machen. Bleibt schließlich noch daran zu erinnern, dass Russland nach Abschluß des Yukos-Prozesses Ende letzten Jahres erklärte, seine Devisenreserven zukünftig nicht mehr allein in Dollar, sondern zu gleichen Teilen in Euro anlegen zu wollen. Dies alles mag die vorsichtigen Töne im aktuellen Konflikt erklären. Hinter den Kulissen jedoch rumort es heftig.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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