Landreform in Russland

Take 1: Erkennungsmelodie von Nowosti

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, nach den ersten Worten abblenden.

Erzähler: In Russland werden Fakten geschaffen: Nur wenige             Tage nach der Auflösung des obersten Sowjet und noch vor der Neuwahl eines neuen Parlaments nutzt Präsident Boris Jelzin den rechtsfreien Raum für die Herausgabe eines Erlasses, der den Privatbesitz an Grund und Boden garantiert.
Das Recht auf Privateigentum wurde bereits 1990 anerkannt. Nach der bis heute gültigen Verfassung war Land in der russischen Föderation jedoch bis heute Staatsland. Lediglich der Kauf und Verkauf von Datschengelände war seit 1991 erlaubt.

Erzähler: Im Land herrscht Unsicherheit über den Erlass.             Selbst prinzipielle Befürworter sehen den Schritt eher skeptisch, vor allem in den Regionen. So Oleg Woronin, Dozent für Geschichte in Irkutsk, seit neuestem Kandidat auf der Liste „Bewegung für einen demokratischen Konsens“ des Vizepremier Schachrai:

take 2: Telefongespräch mit Oleg Woronin, Irkutsk

Regie: O-Ton (Telefon) kurz stehen lassen, abblenden. Übersetzer:    „Ich weiß bisher nur, dass der freie Verkauf und Kauf von Land ermöglicht wird. Aber das geht nur zwischen Leuten, die es landwirtschaftlich nutzen, sonst ist es verboten. Wenn das Land innerhalb bestimmter Zeit nicht bearbeitet wird, soll eine Sondersteuer erhoben werden. Im Prinzip ist außerdem klar, dass Kolchos-Land nicht enteignet wird: Kolchosenland bleibt zurzeit bei den Kolchosen. Nur wenn jemand raus will, muss man ihm seinen Landanteil geben. Es wird eine Landsteuer geben, bäuerliche Schuldgerichte für Land und Vermögen. Man versucht die Spekulation zu einzugrenzen. Aber solange das Gesetz nicht veröffentlicht ist, ist das alles noch unklar.“

Erzähler: Es gebe keinerlei Durchführungsbestimmungen,             erklärt weniger zurückhaltend Galina Ssesenowa von der Abteilung Unternehmensberatung des Finanzökonomischen Instituts in St. Petersburg.  Die seien frühestens Anfang des Jahres zu erwarten, wenn sie überhaupt kämen. Häufig blieben Erlasse des Präsidenten leider ohne solche Bestimmungen. Im Übrigen habe Jelzin die örtlichen Verwaltungsbehörden zu ausführenden wie auch zugleich kontrollierenden zu Organen seines Erlasses ernannt. Das sei nichts anderes als eine Aufforderung zur Bereicherung an die regionalen und örtlichen Bürokratien, ein Wahlgeschenk, um dort gute Stimmung zu machen, damit sie die gleichzeitige Beschneidung ihrer politischen Rechte hinnähmen.
Zitator:  „Der Erlass ist das wichtigste Ereignis seit der             Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861“, erklärte der Führer der Bauern-Partei, Tschernitschenko, Parteigänger des Präsidenten, im Radio „Echo Moskwy“. „Aber“, schränkt Tschernitschenko zugleich ein, „solange der Erlass nicht von einer allgemeinen Agrarreform getragen wird, kann er von den Kolchos- und Sowchosendirektoren der Regionen leicht in einen Fetzen Papier verwandelt werden.“
Erzähler:     Die Skepsis ist berechtigt. Der Berg, den             Boris Jelzin mit seinem Erlass in Bewegung setzen will, ist gewaltig und der jetzige Präsident wäre nicht der erste, der daran scheitert. Vor ihm haben es schon die Zaren und dann Stalin versucht. Es sind ja nicht nur siebzig Jahre Sozialismus, die der Verwirklichung des Erlasses entgegenstehen; es ist der tief in der russischen Geschichte verwurzelte Kollektivismus der „obschtschina“, der Dorfgemeinschaft. Sie ist auch heute nicht vergessen. Das gilt vor allem für die nicht-russischen Völker dieses Vielvölkerraumes.
So erzählt Vincenti Tengerekow, Agrarverantwortlicher des Gebietes Altai, einer ethnisch geprägten autonomen Republik im Süden Sibiriens bei einer Führung über die Dörfer:

take 3: Vincenti Tengerekow, Altai (take 13Jeep, take 16, Vincenti)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden.

Übersetzer:  „Hier ist es wie in den Republiken Tatarstan,             Baschkirestan und mit den Tschuwaschen. In diesen Gebieten sind die Sippenverbindungen noch immer stärker. Es ist nicht wie bei den Russen, bei denen neben dem Vater auch der herangewachsene Sohn schon der Alte ist. Nein, da gilt das Prinzip des Ältesten. Und sie arbeiten im ganzen Familienverband. So überleben sie. Wie machen es die Bauern im Bezirk Synakos zum Beispiel? In allen Dörfern sprechen sich die Nachbarn ab: Erst wird für den einen das Heu gemäht, dann für den zweiten, dann für den Dritten. So arbeiten sie dort gemeinschaftlich in der `obschtschina‘, der Dorfgemeinde. Das haben sie schon vor der Revolution so gemacht.“

Erzähler:     Konkrete Informationen dazu kommen heute aus             westlichen Quellen ins Land zurück. So liest man etwa bei dem Schweizer Historiker Valentin Gintermann:

Zitator: „Das wissenschaftliche Verdienst, die Existenz der             Dorfgemeinschaft entdeckt zu haben, kommt dem Baron A.v. Haxthausen zu. In seinen „Studien über die inneren Zustände Russlands“ von 1847 – 1852 hob er erstmals hervor, dass in den russischen Dorfgemeinden periodisch eine Neuaufteilung des Landes erfolgte, wobei die Grundstücke den einzelnen Familien nur zur Nutzung, nicht zum Eigentum überlassen wurden.“

Erzähler: Die historische Rolle der „obschtschina“, so             weiter die Quellen, unterlag geteilter Bewertung: Den einen galt sie als Instrument der Reaktion, den anderen als Beispiel urkommunistischer Demokratie. Die einen bezogen sich dabei auf die patriarchalische innere Organisation, die anderen auf die selbstverwaltete Eigentumsgemeinschaft. Die einen, wie beispielsweise Karl Marx, hielten sie für Keime gesellschaftlichen Fortschritts, die anderen für dessen Hindernis. Jenseits all dieser unterschiedlichen Bewertungen aber steht die „obschtschina“ als das beharrende Element der russischen Geschichte.

Zitator:     Nach der Agrarreform von 1861, die die             bäuerliche Leibeigenschaft aufhob, wirkte die „Obschtschina“ bremsend für die angestrebte Modernisierung, sprich Kapitalisierung, der Landwirtschaft. Die Reform schlug fehl, die befreiten Bauern verelendeten, viele zogen als bäuerliches Proletariat, das sich auch in den Fabriken noch im Bann ihrer Dorfgemeinschaften bewegte, in die entstehende Industrie. Das Dorf prägte die Stadt.
Nach der Revolution von 1905 erklärte P.A. Stolypin die Auflösung der „obschtschinas“ zum Kernpunkt seines Industrialisierungs- und Modernisierungsprogramms, mit dem er das Zarenreich Nikolaus des II. aus der Krise führen wollte. Ein ökonomisch gesundes Bauerntum auf der einen, ein verfügbares Industrieproletariat auf der anderen Seite war sein Ziel. Er hob die Geltung des Gemeineigentums auf. Das führte sehr schnell zu sozialen Differenzierungen in reiche Neubauern und eine verelendende Masse von Landproletariat. Am Ende dieses Weges standen der erste Weltkrieg und die Revolution. Bis heute geht der Streit, ob der Krieg die Reform verhindert habe, oder die Folgen der Reform einer der Ursachen des Krieges wurden.

Erzähler:  Wie Stolypin die bürgerliche, so sah Stalin die             sozialistische Modernisierung durch die „obschtschina“ behindert. Ihre Zerschlagung war der Kern der von ihm durchgeführten Zwangskollektivierung. Dabei enteignete der Staat die Bauern gleich doppelt: einmal von ihrer bauerngemeinschaftlichen Tradition, zum anderen von deren Gegenpart, der privaten Bauernwirtschaft, den sog. Kulaken. Die Bauern wurden jetzt endgültig zu einem Teil des proletarisierten Arbeitsheeres, über das der Staat nach Belieben verfügte. Aber statt zur Spitze des Fortschritts wurden die „obschtschinas“ in dieser zu staatlichen Zwangskollektiven pervertierten Form erneut zum beharrenden Element: In der nach-sowjetischen Landwirtschaft liegt die Produktivität 15 – 20 Prozent unter der westlicher Länder. Sie sind der Hort eines nicht an Leistung, sondern an sozialer Einordnung orientierten Wertmaßstabes der sowjetischen wie auch heute der nach-sowjetischen Gesellschaften Russlands und der GUS. Viele Sowchosen können ihren Angestellten inzwischen keine Löhne mehr zahlen. Mit knapp 2 Prozent Anteil an der landwirtschaftlichen Produktion sind die Privatbauern bisher keine Alternative.  Erneut ist die Bauernfrage, das heißt in Russland: Nutzung oder Zerstörung der bäuerlichen Eigentumsgemeinschaft, zum Brennpunkt der weiteren Entwicklung geworden.
Erzähler:  Aber nicht nur im Altai, nicht nur bei den             kleineren Völkern Sibiriens, an der mittleren Wolga oder im Süden des ehemaligen Vielvölkerimperiums finden sich „obschtschinas“, in denen neben bäuerlichen auch ethnische Besonderheiten bewahrt werden. In Sibirien traf ich auf rein russische „Tolstowzis“, Kommunen, die noch heute, bzw. heute wieder im Geiste Tolstois geführt werden. Ich traf auf Reste der „weißen Raben“, die Ende der siebziger eine den Hippies vergleichbare „Zurück-aufs-Land“-Bewegung initiert hatten. Im Ural, nördlich von Perm, gibt es ganze Regionen, die im Winter nur noch mit dem Hubschrauber zu erreichen sind, wo Dorfgemeinschaften sogar die Kollektivierung im Kern unverändert überstanden haben. An den südlichen Rändern des kränkelnden Imperiums siedeln sich Kosaken mit ausdrücklicher Billigung durch entsprechende Präsidentenerlasse in einem Kranz von Wehrdörfern an, die nach dem Prinzip der „Obschtschina“ organisiert sind: Nach innen hierarchisch gegliederte Selbstverwaltung, nach außen Gefolgschaft für die jeweiligen Herrscher.
Rechte wie linke Gruppierungen führen die Bauerngemeinschaft in ihrem Wappen: Die Bewegung der Bauerndichter erhob die „obschtschina“ seit den 70gern zum romantischen Ideal russischer Wiedergeburt. Heute tragen vaterländische wie neu-linke und anarchistische Gruppen die Bezeichnung „obschtschina“ in ihrem Namen. Auf Versammlungen zur Bauernfrage steht die „obschtschina“ im Mittelpunkt:

take 4: Bauernversammlung

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.

Erzähler: Moskau, Sommer 1992, Versammlung mehrerer             Bauernorganisationen. Von der Forderung nach Garantie des Privateigentums bis hin zu der Meinung, Verkauf von Land sei prinzipiell unmoralisch ist hier wie bei anderen solcher Versammlungen jede Variation zum Thema vertreten. Nur in einem sind Vertreter aller Organisationen sich einig: An der „obschtschina“ werde keine Reform vorbeikommen. Zu lange und zu fest seien die kollektiven Eigentums- und Produktionsstrukturen in der materiellen Struktur des Raumes wie im sozialen Verhalten der Menschen verankert. Eine uneingeschränkte Freigabe könne daher nur Chaos, Spekulation und letztlich Mord und Totschlag nach sich ziehen. Was man brauche, sei ein behutsamer Übergang, eine „gemischte Wirtschaft“, die kollektive und private Betriebe zulasse; vor allem aber brauche man eigens gewählte Organe oder Kommissionen von örtlichen Vertrauensleuten, die die eine kontrollierte Verteilung des Landes garantieren könnten.

Dies alles erklärt, warum Jelzins Erlass das Recht zum privaten Eigentum an Land trotz allem noch immer vorsichtig einschränkt, ja ohne Ausführungsbestimmungen im Grunde nicht mehr als ein politisches Signal ist, das ihm Stimmen für seine Politik zutreiben soll. Es ist zu hoffen, dass der Erlass solange Papier bleibt, bis entsprechende Kontrollorgane geschaffen und sie durch die Wahl neuer Volksvertretungsorgane legitimiert sind.

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