Russland – Vielvölkerstaat oder Staat vieler Völker?

Wer Russland denkt, denkt Vielvölkerstaat. Daran hat sich durch die Trennung der heutigen russländischen Föderation von den Ländern der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ G.U.S. nichts Wesentliches geändert; auch in der heutigen russländischen Föderation leben mehr als fünfzig, manche sagen, mehr als hundert Völker; die Angaben hängen von den Kriterien ab, nach denen eine Gruppe von Menschen als Volk klassifiziert wird. In Sibirien und Fernost allein werden schon mehr als dreißig Völker gezählt; in dem kleinen Dagestan, im Süden Russlands, leben Angehörige von rund fünfzig Sprachgruppen.

Aber heute spricht niemand mehr davon, dass die Russisch-slawische Bevölkerung der Russländischen Föderation von ethnischer Überfremdung bedroht sei; sie stellt die unbestrittene Mehrheit der Einwohneri/innen des neuen Staates. Die ethnischen Mehrheitsverhältnisse im heutigen Russland sind derart eindeutig, dass sie in der vorläufigen Auswertung der letzten Volkszählung vom April 2002 nicht einmal erwähnt werden. Es scheint den Zählern offenbar ausreichend, diese Informationen später im Kleingedruckten nachzuliefern.

Einen herausragenden Platz in den Veröffentlichungen der vorläufigen Ergebnisse der Zählung nimmt lediglich die Behauptung ein, die tschetschenische Bevölkerung habe um ca. 300.000 Menschen gegenüber rund 800.000 bei der letzten Zählung in Tschetschenien von 1998 zugenommen. Das ist, bedenkt man den Verlauf der jetzt fast zehnjährigen Kriegsgeschichte, schlicht als dreiste Propaganda zu werten. Darin ist der Gesellschaft „Memorial“ und anderen Beobachtern vorbehaltlos zuzustimmen.

Reale Zahlen zur Gesamtlage der ethnischen Verhältnisse in Russland findet man in den Ergebnissen des Mikrozensus von 1994. Zu der Zeit, also drei Jahre nach der Trennung der GUS-Länder von Russland, standen in der russischen Föderation einem russischen Bevölkerungsanteil von 83% 3,8% Tataren, 2,3% Ukrainer, 1,2% Tschuwaschen und 0,9% Baschkiren als nächst größere Bevölkerungsgruppen gegenüber. Die übrigen ethnischen Gruppen Russlands haben jeweils weniger als 0,7% Anteil an der Gesamtbevölkerung, manche wie die Keten am oberen Jennessej zählen überhaupt nur nach einigen hundert.

Des ungeachtet ist das kartografische Bild des heutigen Russland von autonomen Gebieten, Republiken und ganzen Landstrichen in der Größe Mitteleuropas oder noch größer durchsetzt, die nach nicht-russischen Völkern benannt sind. So die ethnischen Autonomen Republiken an der Wolga, allen voran Tatarstan, Tschuwaschien und Baschkortastan, dazu Utmurtien, Mordawien, El Mari. So im Kaukasischen über Tschetschenien hinaus auch Dagestan und Kalmückien, im südlichen sibirischen Raum die Republiken Altai, Tuwa, Burjätien, Chakasien, schließlich auch das fernöstliche Jakutien, um nur die wichtigsten zu nennen.

Allerdings stellt keines der Titularvölker in den nach ihnen benannten Gebieten oder autonomen Republiken heute die ethnische Mehrheit. Das gilt selbst für Tatarstan, die größte nicht-russische ethnische Republik der russländischen Föderation, in der 48,5% der Bevölkerung Tataren, 43,3% Russen, der Rest Tschuwaschen, Ukrainer usw. sind. Besonders deutlich wird dieses Missverhältnis zwischen Titularvolk und realem Kräfteverhältnis in den Gebieten Sibiriens, die nach indigenen Völkern benannt sind. Im autonomen Bezirk der JamalNenzen und der Chanten und Mansen im Oblast Tjumen in Nord-Westsibirien etwa machen die Titularvölker gerade einmal 4,2%, bzw. 1,4% aus. (In Zahlen: Chanten 22.521, Mansen 8.459; Nenzen 34.665)

Die Politik Wladimir Putins, der das Land nach seinem Amtsantritt quer zu allen gewachsenen Strukturen in sieben Verwaltungszonen einteilte und deren Chefs sich selbst direkt unterstellte, hat die Eigenständigkeit der autonomen ethnischen Bezirke und Republiken weit hinter das Maß zurückgestutzt, das sie nach der Auflösung der Sowjetunion erreicht hatten. 1991 hatten nicht nur die Tschetschenen, sondern auch die Tataren ihre Souveränität erklärt, die Jakuten hatten Moskau die Verfügung über ihre Ressourcen, besonders über ihre Diamantvorkommen abgetrotzt; andere Völker kamen nicht soweit, entwickelten aber immerhin starke „nationale“ Bewegungen, welche die unterschiedlichsten Teilforderungen gegen Moskau durchsetzten. Selbst die kleinsten sog. kleinen Völker Sibiriens erlebten eine kurze Blüte einer ihnen gewidmeten Aufmerksamkeit, die sie vorübergehend aus Elend der Plattenbauten und kulturellen Vergessenheit befreite. So hatten die Keten 1994 in ihrem Dorf am Jenissej eine eigene Schule, in der sich eine junge russische Lehrerin abmühte, sechs Kinder in deren eigenen Sprache zu unterrichten.

Inzwischen sind all diese „nationalen“ Aufbrüche in den Alltag eines bürokratischen Clinches mit Putins neuer Administration übergegangen, der von Dr. Raffael Chakimow, dem politischen Ratgeber des tatarischen Präsidenten Schamijew so beschrieben wird:

„Wir haben eine autoritäre, ziemlich scharfe Restauration, die ist näher am Leben als früher, weil es im Rahmen der Ministerien einen ziemlichen Druck gibt, vertikal. Aber die Bürokratie wächst und wächst und wächst; es entstanden Hunderte neuer Unterabteilungen in den Ministerien, einfach phantastisch. Das bringt keine Stabilität, das ist ein einfacher parasitärer Vorgang. Tatarstan ist dafür vielleicht nicht besonders charakteristisch, aber selbst hier ist das offensichtlich. Wir haben 25 Ministerien. Wir haben jetzt schon mehr als 30 föderale Abteilungen. Und sie wachsen noch! Aber sie regieren nichts, denn wer regiert, das sind nach wie vor wir, der Präsident. Er verantwortet die Entscheidungen. Putin fragt Schamijew, wenn es um dieses Territorium geht. Faktisch behindern die neuen Ministerien die Arbeit nur. Uns kann man weniger behindern, wir haben ein ziemlich dichtes Kommando. Aber in anderen Regionen ist das natürlich schwieriger, dort ergibt sich daraus eine Destabilisierung, Verwirrung (Russisch: Putinitza) Wenn Gelder mit der Administration kommen würden, dann könnte man sagen, es ist gut. Aber Gelder kommen nicht, sie fließen sogar weniger.“

Die Tataren hatten es 1991 immerhin geschafft, ein Sprachgesetz gegen Moskaus Widerstand durchzudrücken, das die Zweisprachigkeit der Republik verankerte. Heute wehrt sich Kasan gegen Beschlüsse der Moskauer Duma, die den Tataren mit der Begründung, die Benutzung der arabischen Schrift untergrabe die Sicherheitsinteressen der Russländischen Republik, dazu zwingen will, die arabische Schrift nicht mehr zu schreiben und sich wieder allein auf die kyrillische Schrift festzulegen.

Andere Völker haben nicht die Voraussetzungen sich zu wehren wie die Tataren. Schon die Tschuwaschen, nach den Tataren die nächst zahlreiche nicht-russische Volksgruppe im Herzen Russland an der Wolga gleich neben Tatarstan ducken sich vor der Moskauer Übermacht. Zudem wird das Vorgehen Wladimir Putins gegen Tschetschenien als demonstrative Warnung verstanden, was mit denen geschehen wird, die sich seiner Linie nicht unterordnen. Wer aufmuckt, sieht sich in gefährliche Nähe der Terroristen gerückt. „Heute die Tschetschenen, morgen wir“, lautet daher inzwischen die oft gehörte Bestandsaufnahme aus den Kreisen, die nach wie vor an ethnischer Autonomie interessiert sind. Unter solchen Umständen gewinnt die „nationale Frage“ in Russland heute erneut an Schärfe. Dabei wächst den Tataren naturgemäß eine führende Rolle zu.

In Kasan, der Hauptstadt Tatarstans treffen die beiden zahlenmäßig stärksten Religionsgruppen der Russländischen Föderation, Islam und orthodoxes Christentum, gleichstark aufeinander. Vier weitere islamisch geprägter Republiken an der Wolga schauen nach Kasan. Zwischen Kasan und den Ländern der G.U.S, insonderheit Usbekistan, bestehen traditionell enge Beziehungen. Die Mehrheit der Kasaner, generell der tatarischen Muftis hat zu Sowjetzeiten zusammen mit islamischen Geistlichen, die heute in den G.U.S. – Staaten die Islamische Renaissance leiten, gemeinsam die Islamische Universität in Usbekistan besucht. In Kasan setzt man sich intensiv mit den radikalen Formen des kaukasischen Islam auseinander. Zwischen 20 und 25 Millionen Moslem aus allen Teilen der russischen Föderation schauen heute auf Kasan. In Kasan entscheidet sich, ob die beiden Religionen friedlich miteinander in einem säkularen Staat existieren können oder ob sich in fundamentalistischer Konfrontation zueinander entwickeln und dabei das gesamte gesellschaftliche Leben radikalisieren.

In Kasan laufen auch die Linien der heute wieder erwachenden Euroasiatischen Orientierungen politischer Kräfte der Russländischen Föderation zusammen. Auch wenn Moskau, aus administrativen und machttechnischen Gründen, der Sitz der beiden zur Zeit existierenden euroasiatischen Parteien ist, ja, der stärkste Fürsprecher einer euroasiatischen Orientierung Russlands, nämlich Wladimir Putin, selbstverständlich von Moskau oder St. Petersburg aus spricht, so ist das wichtigste Aktions- und Rekrutierungsfeld des Euroasiatismus doch bezeichnenderweise immer wieder Kasan.

Kasan ist das historische, ethnische und kulturelle Zentrum der asiatischen Seite der russischen Geschichte. Kasan repräsentiert die tatarisch-mongolische, auch die nomadische Seite der russischen Geschichte, die bis heute für die meisten der nicht-russischen Völker der russländischen Föderation ihr Herkommen beschreibt, auf dass sich ihre Traditionen beziehen, soweit sie noch erkennbar sind.

Kasan ist das ethnische Zentrum eines Gebietes zwischen Wolga und Ural, dessen Völker sich im Lauf der russischen Geschichte immer wieder in blutigen Aufständen gegen die Vorherrschaft Moskaus zur Wehr setzten. Als „Udel Ural“, wie Wolga-Ural im Tatarischen genannt wird, geistert die Vision eines eigenständigen Kulturraums der nichts-slawischen Völker seit dem Ende des Zarentums durch den politischen Untergrund Russlands; mit Einsetzen der Perestroika trat sie als Forderung nach Bildung eines freien „Udel-Ural“, für die aktiv in den „nationalen“ Kulturzentren und Bewegungen der Wolgavölker geworben wurde, offen in die politische Landschaft. Andere Völker anderer ethnisch kompakter Gegenden lehnten sich an diese Vorstellungen an. Treffen, Kongresse, Konferenzen zur Verwirklichung dieser Vorstellungen, an denen Delegierte aus dem Wolgaraum, aus dem Kaukasus, aus Sibirien und aus Fernost teilnahmen, fanden in den Jahren 1990, 1991, 1992 in Kasan statt.

Heute sind die politischen Forderungen nach Verwirklichung einer freien Gemeinschaft der Völker „Udel Urals“ wieder zurückgesunken auf die Träume einiger weniger Aktvisten. Die Dynamik, die sich in diesen Bewegungen äußert, reicht jedoch dafür aus, zwei gesamtrussischen Euroasiatischen Parteien gleichzeitig die Existenz zu ermöglichen, wobei die eine einen anti-russischen, die andere einen russisch-hegemonialen Ansatz verfolgt, das heißt, die eine will die Völker Euro-Asiens ohne die Russen, die andere will sie unter ihrer Vorherrschaft zusammenführen.

Im Euro-Asiatismus laufen zwei widersprüchliche Linien zur Lösung der Vielvölkerfrage Russlands quer zueinander, imperialer Zentralismus und föderaler, ja anarchischer Pluralismus. Zwischen beiden Extremen, aber nicht minder deutlich und von beiden Seiten zum Beweis der eigenen Bedeutung zitiert, steht Staatspräsident Putin mit seiner Position, die er zu seinem Regierungsantritt äußerte und seitdem in verschiedener Form immer wieder erneuert: „Russland hat sich immer als euroasiatisches Land gefühlt. Wir haben nie vergessen, dass ein grundlegender Teil unseres Territoriums sich in Asien befindet. Die Wahrheit ist, das muss man ehrlich sagen, das wir dieses Vermögen nicht immer genutzt haben. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir zusammen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region von den Worten zur Tat schreiten – die Wirtschaft entwickeln, politische und andere Verbindungen. Alle Voraussetzungen dafür sind im heutigen Russland gegeben. Die volle Beteiligung Russlands an der gegenseitigen Wirtschafts-Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raumes ist natürlich und unausweichlich. Ist doch Russland ein ganz eigener Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.“

Der Ort, an dem Euro-asiatisches Gedankengut am nachhaltigsten gedeiht, wo Konferenzen dazu stattfinden, bei denen auch Wladimir Putin zitiert wird, ist auch unter Wladimir Putins Präsidentschaft wieder Kasan. Wer wissen will, wie Russland Problem der Völkervielfalt regelt, schaut nach Kasan.

©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

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