Nachdenkliches aus der Werkstatt:
Europas (Volks)Tribune – ein allgemeiner Trend?
Das Thema ist gut für einen Streit. Und nicht nur für einen. Zunächst geht es darum, zu klären, wovon die Rede sein soll: Vom geographischen Europa – bis zum Ural, wie die traditionelle Einteilung unserer Schulbücher reicht? Vom Kulturraum Europa, der an der russischen Grenze endet – oder reicht er doch bis Wladiwostok? Von der Europäischen Union? Ist dann von der Eurozone zu reden? Oder von Brüssel? Oder von 28 Nationen, die darum ringen unter wachsender deutscher Dominanz ihre Eigenständigkeit zu wahren? Und sind die „europäische Friedensordnung“ der Schlüssel zur eurasischen und die eurasische der Schlüssel zur globalen Friedensordnung? Und braucht es dafür Tribunen, Demagogen, zeitweilige Diktatoren? Bringt der Prozess sie hervor oder behindern sie diesen Prozess?
Aktuell, konkret, nach anderthalb Jahren des Bürgerkrieges in der Ukraine, macht Europa, genauer, macht die Europäische Union so etwas wie eine dritte Wachstumskrise durch, sozusagen ihre Midlifecrisis – nach den tollen Jugendjahren, die bis zur deutsch-deutschen Vereinigung reichten. Ihr folgte auf dem Fuße die erste Erweiterungsphase der Union bis 2007/8, in der sich alte und neue EU nivellieren und standardisieren mussten. Diese Phase zeichnete die deutsch-deutsche Vereinigung gleichsam als europäisch-europäische nach – mit gravierenden Unterschieden, versteht sich, insofern Ost-Europa von West-Europa nicht nur durch die Sowjetisierung unterschieden ist, sondern auch durch ganz eigene politische Realitäten und kulturell bedingte Mentalitäten.
Ab 2007/8 setzte die EU auf Assoziierungsverträge im Rahmen der neuen Nachbarschaftspolitik, welche die Phase der unmittelbaren Erweiterung abschließen und indirekt fortsetzen sollten. Die sechs Jahre Neue Nachbarschaftspolitik enden 2013/4/5 im Ukrainischen Bürgerkrieg – jetzt – mit dem vorläufigen Ergebnis der Dreiteilung der Ukraine: in die Kiewer Ukraine, die Ukraine der Volksrepubliken und die Krim, die in die russische Föderation wechselte. Also Chaos! Misserfolg! Umdenken nötig! Und nun breitet sich große Ratlosigkeit aus, wie das Wachstum – auf das man in der EU trotz allem nicht verzichten möchte – in Zukunft aussehen könnte, ohne dass man sich in eine Dauerkonfrontation mit Russland begibt. Irgendwie soll Russland dazu gehören – aber irgendwie auch nicht.
Geht es jetzt um das Erwachsenwerden der Europäischen Union? Beginnt das politische Personal der EU endlich zu begreifen, dass die EU nicht Europa ist und dass Europa nicht – unter mentalem und politischem Verdrängen von Russland – bis nach Wladiwostok reicht, sondern dass die EU sich auf eine gleichberechtigte Dauerbeziehung mit Russland einlassen muss?
Es scheint, dass die aufgeworfene Frage nach Europas Tribunen nur in diesem Kontext bearbeitet werden kann. Wer wird in den zukünftigen Beziehungen das Sagen haben? Muss, ja, darf überhaupt einer oder eine das Sagen haben? Ist ein „Multi-Kulti“-Europa denkbar, wünschenswert, überhaupt möglich? Möglich für wen? Für die EU als Ganzes? Für Deutschland? Für Russland? Für den Osten der EU? Für das größere Ost-Europa? Wohin gehört der Kaukasus? Wie soll man mit Partnern umgehen, die Doppelbeziehungen zwischen Russland und der EU, der Europäischen und der Eurasischen Zollunion eingehen? Ist die Teilung der Ukraine ein Zeichen dafür, dass eine Aufteilung von Einflusszonen à la Europäische ODER Eurasische Union nicht möglich ist? Aber wie kann das anders aussehen, ohne dass lauter kleine Fürstentümer entstehen, die davon leben, dass sie in einem institutionalisierten Erpressungsritual die westliche EU abwechselnd gegen östliche ausspielen?
Fragen über Fragen, zu denen es zurzeit überhaupt noch keine Antworten, dafür umso mehr im Hintergrund lauernde „eingefrorene“ Konflikte gibt. Was geschieht, wenn alle diese Konflikte aufgetaut werden, ohne dass zuvor politische Lösungen entwickelt wurden, ist jedoch ziemlich klar: das hieße nichts anderes mehr als Krieg. Also, was tun?
In der Beantwortung dieser Fragen steht einmal mehr der Krim-Konflikt im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Exemplarisch, sozusagen. Wie ernst sind unter dem Zeichen globaler individueller und kollektiver Identitätskrisen die politischen „Kümmerer“ zu nehmen, die ihre Aktivitäten mit dem Wohl „ihrer“ Landsleute begründen? Geht die erkennbare globale Krise des Liberalismus in eine Wiedergeburt des Nationalismus oder sogar in eine Ethnisierung der globalen wie auch der alltäglichen Probleme über? Sind die „Kümmerer“ nur große Betrüger, die von der globalen Krise des Neo-Liberalismus auf scheinbar mögliche nationale Lösungen ablenken? Werden Sezessionsbestrebungen einerseits, Warnungen vor ihnen andererseits heute nur instrumentalisiert, um von tiefer gehenden Konflikten abzulenken? Worin bestehen diese Konflikte?
Fragen dieser Art ließen sich an alle politischen Führungen stellen. Aktuell werden sie bei uns vor allem an Wladimir Putin gestellt. Mit der gleichen Berechtigung könnten solche Fragen natürlich an eine Angela Merkel gestellt werden, die den „europäischen Geist“ angesichts der realen Krise des Euro, der Währungsunion und der Haltungen gegenüber Russland zur Krisenbewältigung und Festigung der „europäischen Einheit“ beschwört. Der Blick geht auch auf Erdogan, auf Orban oder andere – Obama und andere US-Amerikaner nicht zu vergessen, die nach wie vor „gods own country“ beschwören. Und natürlich auch Fragen an Russland: Will Russland die Welt dominieren oder muss es sich vor Angriffen der USA und ihrer Vasallen schützen? Wieso schützen sich die Europäer, besonders die Deutschen nicht ihrerseits vor den USA? Hat Stratege Friedman vom Stratfor-Institut ein Geheimnis „verraten“, als er kürzlich in die Welt posaunte, dass es schon immer das Interesse der USA war, ist, und bleiben wird, ein Bündnis von Deutschland und Russland zu verhindern?
Bei all dem bleibt selbstverständlich immer ganz offen, worin das jeweils beschworene Wohl eigentlich besteht und wem es zugutekommt. Selbst die aktuelle griechische Regierung und die potentielle spanische aus Podemos hervorgehende argumentieren, wenngleich der Not gehorchend, auch mit dem Wohl ihrer nationalen Bevölkerungen.
Mit der gleichen Berechtigung sprechen andererseits Katalonier, Schotten, sprechen Transnistrien, Abchasien, Ossetien und ebenso natürlich auch die Separatisten von Donezk und Lugansk und viele andere im Namen des Wohls „ihrer“ Bevölkerungen, die sie von unzumutbaren Bedrückungen befreit sehen wollen – wozu sie nach den Bestimmungen des Völkerrechtes berechtigt wären. „Kümmerer“ sind sie alle – gibt es Kriterien, nach denen entschieden wird? Wo hört die Berechtigung für Einvernahme einerseits oder der Sezession andererseits auf, wo fängt der politische Betrug an?
Kriterien für die all diese Fragen, sind nicht allein aus den Details aktueller politischer Abläufe zu gewinnen. Um tiefer gehende Antworten zu bekommen, muss sich der Blick immer wieder auf die längeren Wellen der Geschichte richten, aus deren Dynamik die Tagesereignisse hervorgehen.
Drei Strömungen der Transformation, die unsere Welt heute durchziehen, sind so zu betrachten:
- Wir leben nach wie vor im nachsowjetischen Trauma.
Das beinhaltet die Frage, wie wir leben wollen, wenn nicht „realsozialistisch“, aber auch nicht „kapitalistisch“. Kurz gesagt: Hier geht es darum, die Krise des Kapitalismus als grundsätzliche und aktuelle zu erkennen. Wie können die neuen Lebensentwürfe aussehen, die der konfliktträchtigen kapitalistischen Expansionsdynamik ein Ende setzen?
- Wir leben unter dem Druck nachholender Nationenbildung.
Der Druck ergibt sich aus dem Zerfall der bipolaren Systemkonfrontation. Neue Identitäten werden gesucht. Gibt es Alternativen zur Dogmatisierung und Radikalisierung des Nationalismus? Heut stellt sich die Frage nach Alternativen zum Nationalismus. Sind andere Formen der Lebensorganisation denkbar, die über die scheinbare Unauflöslichkeit von Staat, Kapital und Glaube/Ideologie = Nation hinausgehen? – Also: Neues Staatsverständnis beruhend auf Selbstorganisation in kooperativer Gemeinschaft, lokalen und regionalen Autonomien bis hin zu föderalen und/oder konföderalen Kooperationen; als Drittes schließlich freie, von Staat und Kapital unabhängige Geistigkeit/Kultur?
- Die globale Ordnung bewegt sich von unipolarer Hegemonie in Richtung multipolarer Kooperation.Welche Kräfte fördern welche bremsen diese Entwicklung? Wie sind daraus entstehende Konflikte einzuhegen? Oder sind sie nicht einzuhegen und wir sind hilflose Opfer eines scheinbar naturgegebenen Prozesses der Expansion, die nicht zu stoppen ist? Wie ist der hieraus resultierenden Ohnmacht, Hysterie und Angst entgegen zu wirken?
Hinter all dem stellt sich die Frage: ob es gelingt, diesen Prozess in Richtung von mehr Autonomie für jeden einzelnen Menschen zu öffnen – oder ob die gegenwärtig herrschenden Mächte die bestehende Ordnung zementieren. Antworten auf diese Fragen liegen jenseits jeglicher Tagespropaganda. Sie sind sicher nicht allein mit pro oder contra „Krim“ zu entscheiden, allerdings auch nicht durch Leugnen oder Erfinden von Details. Es geht ja in der Tat auch im Konkreten um die Elemente der entstehenden zukünftigen Ordnung, genauer gesagt, der europäischen und darüber hinaus der globalen Friedensordnung.
Um hier weiter zu kommen, muss man wohl der Frage näher treten, warum die Europäische Union sich gegen Russland, aber nicht gegen die USA schützt, insbesondere, welche Rolle Deutschland in diesem Europa, in dieser Europäischen Union spielt.
Zum Thema:
- Kai Ehlers, Die Kraft der „Überflüssigen“, Pahl-Rugenstein, 2013
- Grundeinkommen – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Pforte, 2006
- Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus, edition 8
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