Kommentator:
„Vier Tage, die die Welt veränderten“, „Revolution in Moskau“, „Sieg der Demokratie“, „Neue Hoffnung Jelzin“. Das waren und sind die Kommentare in den Medien zu den Ereignissen vom 19. bis zum 23. August in der UdSSR, also jenen Tagen, die bei uns allgemeinhin als der gescheiterte Putsch bezeichnet werden. Als Boris Jelzin, und nach kurzem Zögern dann auch Michail Gorbatschow, die KPdSU mit ein paar Federstrichen auflösten, kannte die Euphorie keine Grenzen mehr. Der Beginn einer neuen Epoche wurde beschworen.
Erzähler:
Aber was geschah wirklich in diesen vier Tagen? War der Putsch ein Putsch? Ist er überhaupt gescheitert? Welche Rolle hat Jelzin, welche Gorbatschow dabei gespielt? Ist die Machtergreifung seitens der Demokraten und die Zerschlagung der KPdSU schon gleichbedeutend mit Demokratie? Was hat sich für den politischen Alltag verändert? Was bringt der Winter?
Auf all diese Antworten findet man vor Ort bessere Antworten als in Analysen aus der Ferne. Einen Monat nach dem Putsch machte ich mich daher auf den Weg in die Sowjetunion, um die Antworten bei den betroffenen Menschen selbst zu suchen.
Aber schauen wir zunächst noch einmal etwas zurück: Nur eine Woche vor dem Putsch hatte mir Boris Kagarlitzky, einer der anerkannten Köpfe der radikaldemokratischen neuen Linken aus Moskau, auf seine Einschätzung der Lage so umrissen:
Boris Kagarlitzky:
„Wir befinden uns in einer Periode der Umgruppierung, Perestroika in der Perestroika. Es gibt jetzt eine neue Konfrontation. Teile der alten Nomenklatura, auch Gorbatschow selbst, gehen mit Boris Jelzin, mit Popov, dem Moskauer und Sobtschak dem Leningrader Bürgermeister. Auf Gewerkschaftsebene ist es ähnlich. Viele der alten Funktionäre wechseln inzwischen in Jelzins Administration. Die jüngeren dagegen kommen in Opposition zu den Liberalen um Jelzin wie auch zur alten Nomenenklatura. Bisher ist ja noch wenig Konkretes geschehen. In einzelnen Bereichen gibt es eine „wilde Privatisierung“. Aber die Leitungen haben Angst vor den Konsequenzen des eigenen Programms. Das sage nicht ich. Das wird öffentlich ausgesprochen. Es gibt starke Tendenzen zu einem starken Staat, einer Diktatur. Erst nach der Stabilisierung der Strukturen könne man privatisieren, heißt es. Das hat zum Beispiel Gabriel Popov veröffentlicht. Die „unabhängige Zeitung“, ein Jelzin nahestehendes liberales Blatt, schrieb, Pinochet habe in Chile viel Erfolg gehabt. Dies sei auch für uns ein guter Weg. Pinochet ist zum Helden des Kapitalismus geworden. Letzten Dienstag brachte die Zeitung eine ganze Seite allein über „Pinochet als Weg für uns“! Die herrschenden Kräfte haben Angst vor den sozialen Auseinandersetzungen, die mit der weiteren Kapitalisierung verbunden sind. Der Moment der Klassenpolitik hat jetzt wohl begonnen. Darauf bereiten sie sich vor.“
Kommentator:
Was Boris Kagarlitzky im August ’91 aussprach, hatte sich seit dem Herbst 1990 Schritt für Schritt deutlicher gezeigt. Im Herbst ’91 war das „Programm der 500 Tage“ gescheitert, mit dem die Radikalreformer um Jelzin den Übergangs zur offenen Marktwirtschaft per Schocktherapie nach polnischem Vorbild einleiten wollten. Wesentlicher Punkt daran war die allgemeine Freigabe der Preise, sowie „unpopuläre Maßnahmen“, d.h. Einschränkung der staatlichen Subventionen für das soziale System. Die Mittelkräfte um Gorbatschow scheuten vor einer offenen Konfrontation mit der Bevölkerung zurück. Sie setzten stattdessen auf einzelne Maßnahmen und taktische Kompromisse, auf Salamitaktik, wie es der Volksmund so treffend charakterisiert. Rechte wie linke Kritiker, auf der einen Seite die „patriotischen“ Kräfte um die Parlamentariergruppe „Sojus“, auf der anderen die „Demokraten“ um den Herausforderer Jelzin, erhoben demgegenüber öffentlich die Forderung nach einer „silnaja ruka“, einer „starken Hand“. Gemeint war ein Notstandskurs zur autoritären Durchsetzung der Reformen von oben. Erörterungen über den „chilenischen Weg“, den chninesischen, die „eisernen Methoden“ Bismarcks oder die des zaristischen Ministers Stolypin füllten die Presse und das private Gespräch.
Die Preisreform vom 1. April 1991, obwohl mit ihren kontrollierten Preiserhöhung erst ein halber Schritt, zogen Streiks, Massendemonstrationen, allgemeine Verschärfung der politischen Auseinandersetzung nach sich. In der Folge trafen sich die früheren Opponenten zum Krisenmanagement auf der Datscha Gorbatschows. Zur Debatte stand die Erneuerung des Unionsvertrags. Ergebnis war der sog. „neun plus Eins Kompromiß“, so benannt nach den Teilnehmern der Runde. Es waren Gobatschow, Jelzin und die Führer acht weiterer Republiken. Mit von der Partie waren auch die Vertreter der jeweiligen Regierungen, also auch die Mitglieder des späteren „Notstandskomitees“: Innenminister Pugo, Ministerpräsident Pawlow, KGB-Chef Kjrutschkow und andere. Inhalt des Kompromisses war der Beschluß über die Einrichtung eines Notstandsregimes, eines, wie es hieß, „Regimes der Arbeit“. Es schloß Demonstrationsverbote, Streikverbote und Pressezensur mit ein. Als Gorbatschow vom Londoner Gipfel der „G 7“-Staaten mit leeren Händen zurückkam, mehr noch, mit der Aufforderung zur radikalen Beschleunigung marktorientierter Reformen, sah man sich zum Handeln genötigt. Die Ausrufung des „Notstandskomitees“ war die Folge. Es war faktisch nichts anderes als die Umsetzung des im Frühjahr gemeinsam beschlossenen Notstandsprogramms.
Erzähler:
Die Reihe meiner überraschenden Einblicke begann schon im Anflug auf Leningrad. Mit mir reiste Daniil Granin, Schriftsteller aus Leningrad, im Westen bekannt geworden für seine zeitkritischen Dokumentionen, unter anderem über die dreijährige Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht von 1941 bis 1944. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung zu dieser Frage hatte der alte Herr sich eine Woche in Hamburg aufgehalten.
Aber Granin ist nicht nur Schriftsteller. Er gehört auch zu jenem informellen Beraterkreis, den Boris Jelzins um sich versammelt hat, „Jelzins Küchenkabinett“, wie er sarkastisch von Kritikern genannt wird. Noch bis zum August war Granin Mitglied in der KPdSU. Erst nach dem Putsch trat er aus. Seine Austrittsbegründung klingt schon fast wie ein Programm:
Daniil Granin:
„Ich habe immer versucht, den Reformprozess von innen zu unterstützen. Der Putsch hat mir gezeigt, daß die Partei als Ganzes nicht reformierbar ist. Sie verstehen die Zeit nicht mehr. Wir brauchen jetzt vor allem anderen schnelle Schritte zum Markt, wenn nicht alles auseinanderfallen soll. Jelzin ist der Mann, der das durchsetzen kann.“
Erzähler:
Gefragt, ob Jelzin nich mehr verspreche, als er halten könne, ob er nicht in dieselbe Situation kommen werden wie zuvor schon Gorbatschow, vielleicht sogar eine schlimmere, räumte Daniil Granin ein:
Daniil Granin:
„Er braucht natürlich gute Berater. Boris Borissowitsch kann zuhören. Das ist seine große Fähigkeit. So ein Kreis, in dem man sagen kann, was man für richtig hält, ist ein großer Fortschritt für uns. Es besteht natürlich auch die Gefahr, daß es beim Reden bleibt. In der wichtigsten Frage, der Ökonomie, wurde seit dem Putsch praktisch noch nichts bewegt. Darüber bin ich sehr besorgt. Schließlich kann es auch geschehen, daß Jelzin auf falsche Ratschläge hört. Dann droht tatsächlich das Schlimmste. Die Situation bei uns ähnelt sehr der Weimarer Zeit in Deutschland. Das Imperium ist zusammengebrochen. Alles hängt jetzt von guten oder schlechten Führern ab. Die alten Kräfte sind in der Defensive. Das Volk hat einen großen Sieg errungen. Es sind Hoffnungen geweckt worden. Aber jetzt besteht ein Machtvakuum. Wenn jetzt nicht etwas Spürbares für das Volk geschieht, besteht die Gefahr, daß die Entwicklung nach rechts geht. Aufklärung darüber, wie damals der Faschismus in Deutschland entstehen konnte, ist über die Lösung der ökonomischen Fragen hinaus daher eine der wichtigsten Aufgaben, die Intellektuelle bei uns jetzt leisten können.“
Erzähler:
So eingestimmt traf ich mich in Leningrad zuallererst mit Juri Popov. Mit ihm stand noch eine Verabredung von meinem letzten Besuch im August vor dem Putsch aus. Popov bekennt sich als „Patriot“. Er arbeitet als Physiker in der Firma „Elektron“, ist Abgeordneter des Leniningrader Stadtsowjets, Mitglied der Gruppe „Otschisno“, Vaterland.
Kommentator:
„Otschisno“, Vaterland, ist die Organisation, die vor dem Putsch eine patriotische Sammlungsbewegung zur nationalen Wiedergeburt Rußlands einleitete. In ihren Einzugsbereich gehörten die Abgeordnetengruppe „Sojus“, der „Pamjat“-Dunstkreis, Neostalinisten um die berüchtigte Nina Andrejewa oder die Zeitung „Rossija“, der konservative Klerus und die Rechten der vor Jahresfrist erst gegründeten russischen Sektion der KPdSU. Der Stellvertreter Jelzins, einer der Haupthelden der neuen demokratischen Macht neben Jelzin, ist ehemaliges „Otetschestwo“-Mitglied. „Otetschestvo“ heißt ebenfalls „Vaterland“ und ist der Vorläufer von „Otschisno“. Viele „Patrioten“ standen während der Putschtage an der Seite Jelzins zur Verteidigung Rußlands mit vor dem sogenannten „weißen Haus“. Andere, wie der berüchtigte Moskauer Antisemit Wassiljew hielten sich allerdings abseits. Die Lager sind nicht klar abgegrenzt. Wassiljew kam mit seinen Leuten morgens auf den Platz. Nachdem er sich die dort versammelten Menschen angeschaut hatte, zog er sich mit den Worten zurück, dies sei nicht die richtige, nicht seine „patriotische“ Revolution.
Erzähler:
Popovs Antworten verblüffen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, am allerwenigsten allerdings Brandreden für die Verteidigung der Demokratie. Genau damit aber sah ich mich zunächst konfrontiert: Der Westen müsse unbedingt wissen, welche Kräfte er in Gestalt der Demokraten eigentlich unterstütze. Nicht Demokraten nämlich, sondern Vertreter eines „neuen Totalitarismus“ seien jetzt an der Macht. So begründete dieser von seiner Grundorientierung her eher anti-westlich eingestellte Mann sein Interesse an dem Gespräch mit einem westlichen Journalisten:
Juri Popov:
„Die Entwicklung der politischen Ereignisse hat sich durch den Putsch beschleunigt. Die Prozesse, die vielleicht ein Jahr gedauert hätten oder länger, sind jetzt sehr schnell vor sich gegangen. Die Kräfte sind stärker polarisiert. Das wichtigste aber ist, daß die Kräfte der Opposition liquidiert wurden, durch den Antiputsch. Das trifft die rechten Gruppierungen, die kommunistische Partei, die patriotischen Organisationen. Jetzt sind diejenigen, die sich Demokraten nennen, an der Reihe zu beweisen, ob sie fähig sind, das Land zur Wiedergeburt zu führen, beziehungsweise zur Stabilisierung, oder ob sie nur in der Lage waren, zu zerstören, zu kritisieren.“
Erzähler:
Ein Putsch sei das nicht gewesen, versichert Juri Popov, sehr wohl aber eine illegale Aktion. Die Mitglieder des „Notstandskomitees“ hätten dem Volk vorgelogen, daß der Präsident krank sei. Der zweite Punkt sei ihre Verhängung des Ausnahmezustandes. Aber nicht, daß sie ihn verkündet hätten, sei ihr Fehler gewesen, sondern daß sie es illegal taten, obwohl seine legale Einführung seit Monaten vorher öffentlich diskutiert und von Sprechern der „Sojus“-Fraktion immer wieder gefordert worden sei. Angesichts des bevorstehenden Winters wäre das auch logisch gewesen. Jelzins Politik könne er nur als Antiputsch bezeichnen: Verbot von Zeitungen, Auswechseln der Leitungen in den TV-Anstalten usw. Auch zwei Monate nach dem Putsch halte Jelzin die Repression gegen seine Opponenten nach wie vor aufrecht.
Juri Popov:
„Es gibt jetzt ein starkes Verlangen, eine russische nationale Partei zu gründen. Aber diese Partei wird man sofort des Chauvinismus, Nationalismus, sogar Faschismus beschuldigen. Der demokratische Stempel auf manchen Organisationen ist eben nur oberflächlich. Sie sind sofort bereit, andere Organisationen zu unterdrücken, gleich welcher Art. Das ist ein regressiver Prozeß. Diese Leute treten unmoralisch auf, sie lassen keine normale Opposition zu. Das Resultat ist: Zerstörung der kommunistischen Partei mitsamt ihren Strukturen, das Verbot vieler patriotischer Organisationen, auch das von Arbeiterorganisationen, letztlich die Illegalisierung der gesamten Opposition. Der Antiputsch war ein Schritt Richtung Totalitarismus. Ausdruck davon ist auch die Einsetzung von Präfekten an der Spitze der Administration. Sie sind sozusagen Generalgouverneure, Teile einer totalitären Hierarchie. Im Ergebnis hat ein Austausch von Menschen, ein Wechsel der Elite stattgefunden, aber die Formen und Methoden bleiben die alten. Ohne den Westen, ohne seine Hilfe, wäre die Unterdrückung noch stärker. Sie fürchten die Unterstützung des Westens zu verlieren.“
Erzähler:
Später präzisiert Popov sein Verständnis von Demokratie. Das gibt einen Vorgeschmack auf das, was den Menschen dieses Landes noch bevorstehen könnte:
Juri Popov:
„Mir scheint, daß der Weg Chinas aussichtsreicher ist. Das bedeutet, daß in die alten politischen Strukturen, die hart durchzugreifen verstehen, ein neuer wirtschaftlicher Anfang gesetzt wird, und zwar von unten aus den Betrieben. Dort muß man Konkurrenz ansetzen und nationale Produkte schaffen, besonders in der Landwirtschaft. Ein Wechsel muß von unten kommen, später können dann auch die Oberbauten ausgewechselt werden, davon bin ich überzeugt.“
Kommentator:
Juri Popov spricht für die Verlierer des Augenblicks. Obwohl die „patriotischen“ Gruppen die Proklamation des Ausnahmezustands durch das „Notstandskomitee“ im Prinzip begrüßten, erklärten sie sich beim absehbaren Scheitern der dilettantischen Aktion als Opfer einer Provokation. Der Putsch hat zu einer vorübergehenden Diskreditierung ihrer Zielsetzung eines starken Rußland geführt. Ihre Zukunftschancen jedoch sehen diese Kräfte selbstbewußt. 70% der Bevölkerung habe die Maßnahmen des „Komitees“ trotz Aufforderung zum Generalstreik widerspruchslos akzeptiert, rechnet beispielsweise der Schirinowski. Er ist bei den Wahlen zum russischen Präsidenten mit ca. 10% immerhin als Dritter durchs Ziel gegangen. Wenn jetzt Wahlen stattfänden, erklärt „Otschisnos“-Mitglied Popov siegesbewußt, würde der Stimmanteil der Nationalen weit über diesen 10% liegen. Die Demokraten hätten ihre Wahlversprechen nicht eingehalten. Je weiter sich das fortsetzte, desto mehr verlören sie in den Augen des Volkes. Je stärker die Kapitalisierung voranschreite, umso schneller wachse der Unmut. Nicht nur „Patrioten“, die nationale Bewegung insgesamt werde stärker werden. Hunger, Arbeitslosigkeit und große Enttäuschungen der von den Demokraten erweckten Hoffnungen auf besseren Wohnraum, sowie der beängstigende Zerfall der staatlichen Strukturen, all dies werde die Menschen, die keine Anarchie, sondern Ordnung und Sicherheit suchten, ins Lager der russischen Nationalisten treiben.
Erzähler:
Die nächste Überraschung kommt mit Dimitri und Sascha. Dimitri und Sascha sind zwei von den vielen tausend Jugendlichen, die gegen das „Notstandskomitee“ auf die Straße gingen. Dimitri, einundzwanzig Jahre alt, Student der Elektronik, ist Redakteur bei der „Novaja gasjeta“, der „Neuen Zeitung“, einem Blatt, das aus der früheren leningrader Komsomolzeitung hervorgegangen ist. Dimitri ist für die Abteilung Politk verantwortlich. Er steht der neuen „Sozialistischen Partei“, einer aus der informellen Bewegung der letzten Jahre hervorgegangenen radikaldemokratischen Gruppierung nahe. Sascha ist Kunststudent, Anarchist, an seiner Lederjacke leuchtet ein schwarz-roter Stern. Er wird mir von Dimitri mit den Worten vorgestellt: „Sascha war auf der Barrikade“
Die „novaja Gazjeta“, deren erste Ausgabe im Januar ’91 erschien, gehört heute zu 40% dem „Vereinigten St. Petersburger Jugendverband“. 20% gehören den Mitrarbeitern. Die restlichen 20% gehören zwei Firmen. Das ist alles sehr neu. Unser Gespräch allerdings findet im zweiten Stock des „Gesellschafts-politischen Zentrums“ statt, wo die Zeitung ihre Redaktion hat. Es ist ein gigantischer Bürokomplex direkt gegenüber dem „Smolny“, dem ehemaligen Zentrum der KPdSU, wo jetzt Sobtschak residiert. Früher gehörte das Gebäude der Partei. Heute weiß niemand, wem es gehört. Partei- und Komsomolvergangenheit leben in unentwirrbarer Symbiose mit den neuen politischen Strukturen.
Auch Dimitri und Sascha halten den Putsch für keinen Putsch. Sie sehen darin vielmehr eine Inszenierung der Demokraten. Die Anteil Gorbatschows und Jelzins daran werde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Es lohne sich nicht, darüber zu spekulieren. Es reiche, sich an die Resultate zu halten. Auch Sascha und Dimitri beklagen vor allem anderen den Verlust der Opposition:
Dimitri:
„Wir meinen, daß sich die Situation jetzt an der Grenze zur Aufstellung eines totalitären Regimes befindet, denn in Moskau und Leningrad hat sich die politische Macht der Kontrolle durch die Gesetzgebung entzogen. Die Bürgermeister von St. Petersburg und Moskau sowie der Präsident Russlands verabschieden Ukase, also Verordnungen, die der Verfassung, den Gesetzen, widersprechen. Die gesetzgebenden Organe, die Sowjets St. Petersburgs, Moskaus und anderer Städte sind nicht mehr in der Lage irgendetwas zu kontrollieren, ja sind direkt ausgeschaltet wie der obersten Sowjets Russlands. Die Macht konzentriert sich in der Hand einiger weniger Leute. Wir glauben, daß der Winter Hunger bringen wird und damit auch ein totalitäres Regime.“
Erzähler:
Meine Verblüffung darüber, Teilnehmer der Barrikadenkämpfe so reden zu hören, quittierten sie mit nachsichtigen Erklärungen. Von einem Sieg der Demokratie könne nicht die Rede sein. Eher schon vom Ende der demokratischen Phase der Perestroika.
Dimitri:
„Erstens sind einige Masseninformationsmittel ungesetzlich verboten worden. Es gibt immer noch eine starke Zensur in Fernsehen und Radio. In Leningrad ist eigentlich nur eine größere oppositionelle Zeitung übrig geblieben. Das ist die frühere „Leningradskaja Prawda“, „Leningrader Wahrheit“. Sie nennt sich jetzt „St. Petersburgskije Vedomosti“, Leningrader Nachrichten. Andere Blätter berichteten weiterhin über Politik. Aber die Stimmen des Lensowjets oder der Opposition, die für eine vernünftige Demokratie eintreten, sind nicht zu hören. In Moskau gibt es harte Auseinandersetzungen zwischen dem Bürgermeister und den Mossowjet. Die Situation ist so: Bis zum Putsch gab es bei uns eine Kraft, die uns nach vorne trieb, zu schnellen Reformen. Eine Kraft, die das ganze Land auf den Weg des Marktes, in die Demokratie trieb. Diese Kraft bestand zum Teil aus dem „demokratischen Russland“ und aus den „Bewegungen für demokratische Reformen“. Als Opposition trat die kommunistische Partei und ihr nahestehende Gruppen auf, die in Strukturen der 70er, 80er Jahre zurück wollte. Jetzt ist eine dieser Kräfte zusammengebrochen. Es gibt nur noch den anderen, einen einzigen politischen Pol. Wir halten diese Situation für relativ gefährlich, denn ein Gleichgewicht im Staat ist nur möglich, wenn es Gegengewichte gibt, wenn es nicht so kommen soll wie in Jugoslawien oder im Kaukasus.“
Erzähler:
Nüchtern auch, was die beiden jungen Männer auf die Frage zu antworten haben, wie sich die Jugend nach dem Putsch fühlt:
Sascha:
„Ich glaube die Jugend fühlt sich jetzt schlechter als vor einem halben Jahr. Denn nun wird die kommende Verschlechterung ihres Lebensstandards immer offensichtlicher. In diesem Jahr werden viele Hochschulabgänger arbeitslos werden, da sie nicht mehr automatisch wie früher auf die Betriebe verteilt werden. In den Betrieben werden jetzt viele Arbeitsplätze eingespart. Hierüber könnte Popov reichlich erzählen. In seinem Betrieb bleiben von 4000 Arbeitern nur 700 übrig! Es werden keine Neuen eigestellt. Die Jugend steht also ohne Arbeitsplätze da. Dazu kommt: Die Wohnraumsituation ist sehr schwierig. In Leningrad wurde der Wohnungsbauplan zu 70 % nicht erfüllt. Junge Familien finden hier kein Unterkommen. Früher gab es Hoffnungen, über Wartelisten oder als junger Spezialist eine Wohnung zu bekommen. Das gibt es jetzt nicht mehr. Das Geld, eine Wohnung zu kaufen, hat eine junge Familie nicht. In Leningrad kostet eine 2-Zimmer-Wohnung heute mindestens 50.000 Rubel. Ein Student oder ein junger Arbeiter hat nicht soviel Geld.“
Dimitri:
„Im Frühjahr gab es eine Euphorie des politischen Kampfes. Jelzin kämpfte gegen Gorbatschow. Die Bergleute streikten. Gorbatschow kämpfte gegen konservative Kräfte. Innerhalb der Demokraten kämpfte Jelzin gegen radikale Gruppen. Alles war recht übersichtlich. Der Student konnte auf die Straße gehen und einfache ihm verständliche Losungen rufen. Er fühlte sich als Teilnehmer des politischen Lebens. Jetzt gibt es das nicht mehr. Jetzt ist die „große Einheit“, die Stabilitätsfront, an der Regierung. Nach der Meinung der Studenten fragt niemand mehr. Sie interessiert nicht und das Land wird nicht dorthin geführt, wohin die Mehrheit des Volkes, der Jugend will. Das gefällt ihnen nicht.“
Sascha:
„Die Jugend möchte sich selbst realisieren, möchte fühlen, daß die Gesellschaft sie braucht. Früher war es so, daß man die Hochschule abschloss, zu arbeiten anfing, Geld verdiente. Man brachte seine Arbeitskraft, seinen Intellekt ein. Das hatte einen Sinn. Jetzt ist es so, daß unser Wissen, unsere Arbeitskraft niemandem nötig ist. Due Jugendlichen sehen, daß sie in ihrem Beruf nicht arbeiten können. Als die Perestroika begann, nahmen viele junge Leute daran teil. Sie waren nicht für die Demokratie und nicht für den Kapitalismus. Sie waren nur dagegen, daß sie sich in jener Gesellschaft nicht realisieren konnten. Jetzt merken sie, daß man sie betrogen hat. In dieser Gesellschaft können sie sich auch nicht realisieren. Sie haben also nicht das erreicht, was sie erreichen wollten.“
Sascha:
„Es ist richtig, daß sich auf den Plätzen St. Petersburg und Moskaus hauptsächlich junge Menschen aufhielten. Wir bauten die ersten Barrikaden. Aber zu sagen, daß die Jugend Jelzin unterstützt hat, ist nicht richtig. Sie kämpfte gegen den Faschismus. Junge Leute hatten nichts zu verlieren und sie wollten nicht zurückkehren in das System aus dem sie gerade herausgekommen waren. Das hat mit einer Unterstützung Jelzins nichts zu tun. Diejenigen die als erste Barrikaden bauten und demonstrierten waren Leute, die sich vorher überhaupt nicht mit Politik beschäftigt hatten. Das waren entweder Studenten oder Punks, Hyppies usw., also Leute, die eine Teilnahme an der Politik für unmöglich hielten. Trotzdem kamen sie als erste und blieben auch die ganzen Tage. Genauso in Moskau. Dort war nur das Spektrum breiter. Aber es ist bekannt, daß eine der größten Barrikaden von Anhängern des „Heavy Metal“ aufgebaut wurde, die zu hunderten teilnahmen. Sie sind organisiert. Ihre Organisation heißt „Nächtliche Wölfe“. Sie beschützen sonst Rockkonzerte. Sie haben alle an den Barikaden gestanden, auch einige Rocksänger waren da. Außerdem haben diejenigen politischen Gruppen teilgenommen, die schon vorher und auch jetzt in der Opposition zu Jelzin, zu den Machthabern in Moskau und in St. Petersburg stehen, Sozialisten und Anarchisten.“
Erzähler:
„Faschismus“, das erschien mir doch als ein sehr starkes Wort. Ich bat Dimitri und Sascha daher, genauer zu erklären, was darunter zu verstehen sei, wenn sie sagen, sie hätten „gegen den Faschismus gekäpmft“:
Dimitri:
„Es gab einen schönen Ausspruch von einem Kulturberater des russischen Ministerpräsidenten Silajev im Fernsehen, von Nikita Michalkow. Er sagte, er sei nicht gekommen, um den Kapitalismus gegen den Kommunismus zu schützen, sondern weil man ihm in die Seele gespuckt hätte! Der Putsch wurde als persönliche Beleidigung aufgefaßt. Michalkow meinte, daß niemand das Recht hätte mit unserem Volk aus der Position der Stärke zu reden. Als dem Volk gesagt wurde, daß es leben sollte, wie von den Regierenden gewollt, war das eine persönliche Beleidigung. Genau um dagegen zu kämpfen, sind viele zu den Barrikaden gegangen.“
Erzähler:
Nicht anders als Popov, sehen auch Dimitri und Sascha eine neue Opposition, nur von der anderen Seite betrachtet, entstehen, die mit der Krise an Radikalität zunehmen werde. Neue Jugendverbände hätten sich soeben gegründet, berichten sie, in denen die Jugendlichen nach neuen Wegen des Widerstandes suchten. Ihr Interesse verbinde sich mit der wachsenden gewerkschaftlichen Opposition, ja, neuerdings sogar mit Sympathie für die Suche nach neuen sozialistischen Wegen. So kommt Sascha trotz aller Skepsis am Ende zu einer positiven Einschätzung seiner Tage auf den Barridaden:
Sascha:t
„Ich glaube, daß es nicht sinnlos war, daß ich dort war. Es war produktiv in dem Sinne, daß die Leute aus ihrer Apathie herauskamen, besonders junge Leute. Sie haben gesehen, daß sie etwas bewirken können. Sie haben angefangen etwas zu tun! Ich glaube, daß das nicht die letzten Barikaden waren und daß das was wir dort gelernt haben, uns noch von Nutzen sein wird. Wir haben uns gegenseitig kennengelernt, gelernt etwas zu tun. Diese Erfahrung war neu für die meisten. Nur einige wenige waren ja vorher in Littauen auf den Barikaden dabei. Ich glaube, daß es eine wertvolle Erfahrung war.“
Erzähler
Wie breit das Spektrum derer ist, die sich da in einer neuen Oopposition finden müssen, und wie lang der vor ihnen liegende Weg, macht die begegnung mit Stanislav deutlich.
Stanislav, ebenfalls sehr jung, siebenundzwanzig Jahre alt, ist Betriebsaktivist der „Leningrader Optiker-Mechaniker-Vereinigung“. Früher war er Komsomolsekretär des Betriebs, jetzt heißt dieselbe Tätigkeit „Vertreter des Sowjets der Jugendorganisation“. Stanislav ist Mitherausgeber der Betriebseigenen Zeitung „Spektor“. Stanislavs Besonderheit: Er trat in die KPdSU zu einer Zeit ein, als alle anderen austraten, vor einem halben Jahr nämlich erst. Er hofft, von der Basis her eine starke Interessenvertretung für die Arbeiter aufbauen zu können.
Stanislav ist wie Popov, Dimitri und Sascha der Meinung, daß der Putsch kein Putsch war. Zwar habe er Angst gehabt am Morgen des 19. August wie alle. Alle Gespenster der Vergangenheit seien hochgekommen und er habe sich bemüht, seine Kollegen zu mobilisieren. Doch eine Gefahr für Leib und Leben oder gar ihre politischen Funktionen habe weder für Jelzin noch andere Vertreter der demokratischen Macht zu irgendeiner Zeit bestanden. Spätestens als Sobtschak am Abend des ersten Tages ungehindert im Fernsehen habe auftreten können, sei das auch für den Dümmsten klar geworden.
Stanislav gibt sich gefaßt:
Stanislav:
„Ich bin Politiker. Ein Politiker muß mit jeder Situation umgehen können. Über die Maßnahmen, die das Komitee verkündete, war ich in keiner Weise geschockt. Sie enthielten nichts anderes als das, worauf wir schon seit langen und auch jetzt zugehen. Die Demokraten machen jetzt genau das, was die Putschisten vor zwei Monaten vorgeschlagen haben. Was mir mißfiel, mich sogar änsgtigte, war die Zensur. Ich sah ich sofort, welche Repressionen gegen die Kommunisten beginnen würden. Schon vor dem Putsch war klar, daß man einen Grund dafür suchte. Dieser Grund wurde dann der 19. August, wurden die drei Tage des Putsches. Jetzt, nach der Zerschlagung der KPdSU gibt es praktisch keine Opposition mehr. Soetwas gibt es in keiner zivisilierten Gesellschaft. Sogar Faschisten werden geduldet, nur damit die Balance gewährleistet ist zwischen Linken und Rechten, extremen Linken und extremen Rechten. Nur eine solche Balance garantiert die stabile Entwicklung einer Gesellschaft.“
Erzähler:
Stanislav, der doch selber lieber heute als morgen die KPdSU, jedenfalls Teile davon neu belebt sehen möchte, hält die Zukunftserwartungen seiner studentischen Altersgenossen in Bezug auf die Möglichkeit einer neuen Opposition für zu rosig:
Stanislav:
„Ich kenne die Leute in den Fabriken, an den Maschinen, die Ingenieure. Sie lassen sich in drei Teilmengen aufteilen. Sagen wir es für die Jugend: Der erste Teil sind Leute, die immer noch denken, sie hätten tatsächlich die Demokratie verteidigt. Das sind Menschen, die ich als spontan Glückliche bezeichnen würde. Es gibt so eine Gruppe in der Jugend, die ist überall glücklich. Für die war es einfach ein Vergnügen, auf die Barrikaden zu gehen. Sie verstehen den Hintergrund nicht, der sich jetzt heraustellt. Sie glauben, daß alles, was jetzt in der Sowjetunion vorgeht, hervorragend sei und daß sie das erkämpft hätten. Die zweite Gruppe ist die, denen alles egal ist: Kommunisten, Demokraten, oben, unten, alles egal. Man nennt sie Eskapisten. Für sie existiert nur das eigene Ich. Es gibt sie auch im Westen. Es gibt sie überall. Das ist die zweite Gruppe. Ihnen ist auch der Putsch egal. Eine dritte Gruppe junger Leute beginnt zu verstehen. Das ist die Gruppe, mit der du dich heute unterhalten hast, die sich betrogen fühlen. Aber diese Gruppe ist sehr klein. Schon unter den Studenten ist sie klein. Noch kleiner ist sie unter der Arbeiterklasse. Sechzig oder gar siebzig Prozent gehören zu der Gruppe, denen alles egal ist, dreißig Prozent zur spontan glücklichen Gruppe. Höchstens zehn Prozent gehören zu denen, die anfangen zu denken, daß nicht alles so einfach ist auf dieser Welt. Letztenendes, fürchte ich, wird es ohne Zar, das heißt: Knute, starke Hand, verstehst du, nicht gehen. Da kommt man nicht drumherum, denn dieses Chaos in diesem Land wird uns noch zum Halse heraushängen. Viele meinen doch schon jetzt: `Zum Teufel soll doch die `starke Hand‘ kommen! Dann herrscht wenigstens Ordnung!‘ Unser östlicher Nachbar China zeigt es uns. Ob das gut oder schlecht ist, das ist eine andere Frage. Wir stecken jetzt in einer Periode ohne Opposition. Wie wir da herauskommen, weiß der Teufel.“
Kommentator:
Schon nach der Rückkehr Michael Gorbatschows aus London Ende Juli hatte Boris Jelzin durch seinen Ukas zur „Entparteiisierung“ die politische Lage spürbar verschärft. Das Wort „Entparteiisierung“ ist dem Wort „Entkulakisierung“ nachgebildet. Es transportiert auch die entsprechenden Emotionen. Anders als im Westen allgemein verstanden, handelte es sich dabei nich um ein Verbot der Partei. Es handelte sich lediglich um die Auflösung der bis dahin selbstverständlichen gegenseitigen Durchdringung von betrieblichen und parteimäßigen Strukturen in Betrieben, Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen. Die politische Tätigkeit der Partei blieb davon unberührt. Jedoch bestimmte der Paragraph zwei des Ukases darüberhinaus, daß Arbeiterversammlungen zukünftig nur noch im Einverständnis mit den Betriebsführungen oder jeweiligen Leitungen erlaubt seien. Im Zusammenhang mit der Liquidierung der Parteistrukturen in den Betrieben lief das auf eine Unterdrückung der gewerkschaftlichen Versammlungsfreiheit, konkret der außerhalb der KPdSU soeben entstehenden gewerkschaftsoppositionellen Strukturen hinaus.
Auch nach dem Putsch wurde die Partei nicht, wie es in den westlichen Medien heißt, verboten. Jelzins Erlaß ordnete lediglich die befristete Schließung der Parteibüros vom Tag des Inkrafttretens am 23. August bis zum 23. September an, um ihre Beteiligung am Putsch zu klären. Durch Gorbatschows Erlaß wurde das ZK aufgelöst. Zusatzerlasse verfügten die Einstellung der Zeitungen und die Einfrierung des Vermögens der Partei, ebenfalls vorübergehend. Die Maßnahmen werden allerdings bis heute praktiziert. Lediglich einige Zeitungen konnten nach personellen Veränderungen unter neuem Namen, redaktionellen Veränderungen und mit privatem Herausgeberkreis erscheinen. Im übrigen wurden die Büros der Partei nicht nur versiegelt, sie wurden geschlossen. Das Vermögen der Partei wurde nicht nur storniert, sondern an die neuen Staatsorgane überführt. Das gilt nicht zuletzt für Druckhäuser und Papier. Mußten sich die kleineren Zeitungen und Verlage vorher dem faktischen Monopol der Partei beugen, so nun der neuen Administration, Jelzin, Sobtschak, Popov und den neuernannten Präfekten. Der seinerzeit genannte Termin für die vorübergehende Aussetzung ist ohne Rücknahme, aber auch ohne Erneuerung der Erlasse verstrichen. Faktisch wurde die Partei auf diese Weise ohne gesetzliche Grundlage liquidiert. Und nicht nur das: Die Ukase sind derart vage gehalten, daß niemand weiß, welche Neben-, Nachfolge oder Ersatzorganisationen, wie es seinerzeit im KPD-Verbot der BRD vom Gericht formuliert wurde, mit unter die diversen Erlasse fallen. Dies ist gleichbedeutend mit der Ersetzung der Parteiwillkür durch die Willkür der „starken Männer“, einer in Maßen kalkulierbaren, durch eine unkalkulierbare von persönlichen Führer- und Clanstrukturen abhängigen Bürokratie.
Erzähler:
Für Boris Gidaspov, bis vor kurzem als Erster Sekretär der Leningrader Sektion der Kommunistischen Partei noch Herr des „Smolny“, in dem jetzt Sobtschak residiert, ist das alles eine „unerklärliche Verrücktheit“. Er empfängt mich in Moskau so wie er auch in der Vergangenheit zu empfangen gewohnt war: Auf „kommandirovka“, Geschäftsreise, im intimen Innersten des Hotels „Moskva“, der Hochburg der Nomenklatura. Für ihn persönlich hat sich bisher nichts geändert:
Gidaspov:
„Wenn selbst ich am Vorabend nichts davon gewußt habe, dann ist wohl klar, daß das alles unerwartet gekommen ist. Die Korridore des Kreml sind traditionell schlecht ausgeleuchtet. Aber das waren ehrliche Leute, die betrügen nicht. Ich habe mit vielen immer wieder gesprochen. Wenn es irgendeine seriöse Vorbereitung gegeben hätte, wäre etwas davon durchgesichert.“
Erzähler
Man muß nicht alles glauben, was ein hoher Funktionär einem westlichen Journalisten über innere Vorgänge in der sowjetischen Machtzentrale mittteilt. Einem Gidaspov aber, der sich in den zwei Jahren seines Parteivorsitzes im Volksmund wegen eigener autoritärer Vorschläge zur Lösung der Krise den bissigen Beinamen „Gestapov“ einhandelte, darf man glauben, daß ohne ihn ein ernsthaftes Unternehmen zur Errichtung einer autoritären Notstandsdiktatur nicht über die Bühne gegangen wäre. Gidaspow war schließlich nicht einfach nur erster Parteisekretär Leningrads. Der Chefmanager der Rüstungsindustrie wurde zum ersten Parteisekretär Leningrads, und zwar ohne vorherige Parteilaufbahn auf Wunsch Gorbatschows, als es darum ging, die Partei von den politischen auf die wirtschaftlichen Kommandohöhen zu überführen. Man darf ihm also auch glauben, wenn er sagt:
Gidaspow:
„Seit Ende 1987, ’88, das ist die Etappe des progressiven Absturzes der nationalen Produktion, war klar: Eine Zwanzig Millionen Partei brauchte niemand mehr, vor allem weil die Partei auch nicht einheitlich war. Von Bolschewisten bis zu Leuten, die schon nicht einmal mehr Sozialdemokraten, sondern Liberaldemokraten oder so etwas Ähnliches sind, tat sich ein breites Spektrum auf. Es war klar,, daß diese Partei nicht führbar ist. Sie ist nicht lebensfähig. Was an diesen Tagen passiert ist, ist nur eine Illustration dafür.“
Erzähler:
Hellhörig muß auch machen, wenn selbst dieser Mann, der es wissen muß, auf die Frage, ob die KPdSU denn nun verboten sei oder nicht, nur die Antwort fand:
Gidaspov:
„Auf diese Frage kann ich selbst meinen engsten Mitarbeitern nicht antworten. Ich werde von vielen Parteimitarbeitern darüber befragt. Ich kann ihnen nichts sagen. Es gab diesen verfassungswidrigen und ungewöhnlichen Ukas über die „Einstellung der Tätigkeit“. Dafür gibt es in der Geschichte keine Präzedenzfälle. Ich kann mir nicht vorstellen und auch den Leuten nicht erklären, was das ist: „Einstellung der Tätigkeit“. Ich sehe das so: Man kann verbieten oder erlauben. Das sind die zwei Positionen. Aber „Einstellung“? Was ist das? Das Ziel ist aber erreicht: Beendigung der Arbeit, Beschlagnahmung der Existenzmittel der Partei. Dabei geht es nicht um das Politbüro. In Moskau reicht das Geld. Es geht um Omsk, Tomsk, Krasnojarst, Leningrad und andere Orte. Also, die Parteikommitees verlieren völlig ihre Macht. Was die Ukase weiter nach sich ziehen, kann man zur Zeit nicht sagen. Ich würde selbst gerne mehr wissen, wenn es möglich wäre. Aber das ist bisher nicht möglich. In diesem Ukas werden alle politischen Parteien und Gewerkschaften angesprochen. Es gab dann eine Nachberbesserung, daß er für die Gewerkschaften nicht gelte. Ich sehe auch, daß eine Reihe von Parteien unabhängig von dem Ukas weiter aktiv ist, auch die kommunistische Fraktion. Sie handeln absolut unabhängig. Leider kann ich auch auf diese Frage nicht befriedigend antworten. Oberflächlich lohnt es sich nicht. Ich muß selbst diese Sachen durchleben und durchdenken und sehen, was vor sich geht. Es ist natürlich ein Schlag gegen die riesige Staatsstruktur, die von der KPDSU gebildet wurde. Daß damit die mittlere Führungsebene verlorenging, das ist sicher. Die obere Ebene ist geblieben. Ich sehe dieselben alten Namen unter verschiedenen Dokumenten in verschiedenen Zusammenhängen. Die Leute sind alle geblieben. Ein früheres Politbüromitglied ist jetzt Mitglied des Politsowjets oder staatlicher Berater. Daß die alte Macht jetzt neue Möglichkeiten hat, das ist ein Fakt. Sie hat sich die Hände freigemacht. Das ist jetzt schon deutlich. Das ist natürlich keine Demokratie, wir sind zu autoritären Führungsmethoden zurückgekehrt. Es ist nur eine Umverteilung von einem Sessel in den anderen, die gleichen Leute mit neuen Funktionen. Der neue Gedanke ist nur, daß wir jetzt das Wort Privatbesitz aussprechen. Früher redeten wir von Kollektivbesitz, Pachtbesitz, Kooperativen. Das sind nur terminologischer Unterschiede. In Realita gab es keine großen Veränderungen.“
Erzähler:
Gidaspows Szenario für diesen Winter ist denkbar einfach:
Gidaspov:
„Es gibt zwei extreme Szenarien. Entweder Gorbatschow, Jelzin und Sotschak, erschaffen in den nächsten zwei, drei Monaten eine Machtstruktur, die fähig ist, wenigstens Russland vor dem Untergang, vor inneren Auseinandersetzungen, vor der Zerstörung der Wirtschaftsverbindungen zu bewahren. Diese Struktur muß durchdachte politische und wirtschaftliche Reformen von Anfang bis Ende durchführen. Das ist das, was ich unterstütze, wobei es mir gar nicht um ihre politischen Ansichten geht. Wenn dies nicht geschieht, wird es schlimm werden. Dann wird es einen Bürgerkrieg geben.“
Erzähler:
Juri Popovs Kritik an der neuen Macht mag man seinem rechten, Dimitris, Saschas, selbst Stanislavs einem extrem linken Blickwinkel zuschreiben. Selbst Daniil Granins Ängste vor einem möglichen sowjetischen Faschismus mag man noch als intellektuelle Hypersensibilität eines Schriftstellers abtun. Boris Gidaspov steigerte meine Einsicht, daß die Machtergreifung der Demokraten noch keine Demokratie ist, zu der Befürchtung, daß der entscheidende Machtumschwung in der UdSSR noch nicht stattgefunden hat, sondern erst noch bevorsteht. Ich gewann allerdings noch eine weitere Einsicht: Auch die von allen Seiten beschworene neue Opposition ist nicht nur eine Denkfigur unverbesserlicher rechter oder linker Sektierer. Sie formiert sich tatsächlich. So hatte mir Michail Nagaitzev, einer aus der Generation der neuen radikaldemokratischen Gewerkschaftssekretäre in Moskau, erklärt:
Nagaitzev:
„Als wir unsere Föderation gründeten, meinten wir, daß wir uns nicht mit Politik zu beschäftigen brauchten. Die Situation hat sich geändert. Wir sind zu der Erkentnis gekommen, daß die Gewerkschaften politische Strukturen brauchen, die unsere sozial-ökonomischen Interessen mit politischen Methoden gegenüber den neuen Machtorganen vertreten. Wenn man alles vor und nach dem Putsch summiert, dann stellt der 19. August wohl eine Grenze dar. Er hat dazu gezwungen, die Ereignissse zu beschleunigen. Es wurde vorgeschlagen, die nächsten Wahlen nach Parteienlisten durchzuführen. das würde heißen, daß die gewerkschaften außenvor bleiben., denn heute gibt es in Rußland keine Partei, die die Interessen der Arbeiter vertritt. Möglicherweise die Linken, aber sind sind keine große Gruppe. Vor zwei tagen gab es daher eine Versammlung der Initiativgruppen, die die Gründung einer „Partei der Arbeit“ unterstützen. Es wurde ein regionles Moskauer Organisationskomitee gewählt. Im November wird es vermutlich ernsthafte Streiks geben.“
Erzähler:
Das war im September. Am 23. Oktober konnte man, kaum zu finden, in unserer Presse die Meldung lesen, daß in Moskau mehr als 50.000 Menschen einem Aufruf der Gewerkschaften zu einer Demonstration gegen Inflation, gegen den Abbau der staatlichen Sozialleistungen und für die Freiheit der Opposition gefolgt seien. Es war die erste Demonstration dieser Art. Am 7. November, dem Jahrestag Tag der Oktoberrevolution von 1917, waren allein in Moskau 20.000 Menschen gegen die von Jelzin angekündigten Preiserhöhungen, gegen wilde Privatisierung und für die Aufhebung der Restriktionen gegen die KPdSU unterwegs. Die Polarisierung hat erst begonnen. Die Revolution, die von allen Seiten beschworen wurde, hat noch nicht stattgefunden. Sie steht erst bevor. Offen ist nur, ob sie weiter von oben kontrolliert werden kann oder ob sie sich der Kontrolle in schneller Radikalisierung entzieht. Perestroika ist keineswegs beendet. Sie hat erst begonnen.
Kai Ehlers
Von Kai Ehlers erschien soeben das Buch:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa“, Verlag am Galgenberg, September 1991, 19,80.
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