Privatisierung ja oder nein? In der ehemaligen Sowjetunion ist das nicht nur eine ökonomische Frage. Es ist eine Frage des Lebensstils, der Lebenserwartung. Es ist eine Frage, die das gesamte Werte-System der Menschen betrifft. Der Betrieb, die Sowchose, die Pioniere, die Komsomolzen, schließlich die Partei wiesen dem Einzelnen früher seinen Platz zu. Jetzt ist die Partei abgeschafft. Die Pionierlager stehen leer. Institute, Betriebskollektive und Sowchosen werden privatisiert. Was tritt an die Stelle der früheren kollektiven Strukturen?
Für einen Individualismus westlichen Stils fehlen die grundlegenden Voraussetzungen: Nichts von dem, was uns Westlern so vertraut ist, hat in der Geschichte Rußlands stattgefunden: keine Renaissance, kein Schisma, also keine Spaltung zwischen Staat und Kirche, keine Reformation, keine Entwicklung einer differenzierten Stadtkultur, keine Aufklärung, keine französische Revolution. Stattdessen wuchsen Staat und byzantinische Kirche in 1000jähriger Einheit zusammen. Das Wort Religionsfreiheit konnte keine Bedeutung gewinnen. Statt eines Nebeneinander unterschiedlicher Religionen entwickelte sich ein imperialer russischer Missionarismus. Anstelle einer ausgedehnten Stadtkultur konservierte sich die bäuerliche Dorfgemeinschaft, obschtschina, als Grundlage eines Imperiums, dessen unterentwickelte Teile nur durch ein übermächtiges Zentrum, den Zarenhof in Moskau, zusammengehalten wurden. Im Ganzen entstand so eine durch und durch korporativistisch, also nicht nach Interessen, sondern nach der Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften organisierte Gesellschaft.
Statt diese korporativistischen Grundstrukturen hinwegzufegen, hat die sowjetische Entwicklung nach der Revolution von 1917 sie unter anderen Vorzeichen verstaatlicht: Die Bauerngemeinschaften wurden zwangskollektiviert, Dörfer und dörflich organisierte Provinzstädtchen wurden industrialisiert, proletarisiert und Menschenansammlungen mit gigantischen Ausmaßen aufgebläht. Im Prinzip blieben sie aber große Dörfer, in denen mehrere Betriebsgemeinschaften, nicht selten sogar nur eine einzige nun an die Stelle der früheren einzigen Dorfgemeinschaft trat. Das Prinzip der in sich geschlossenen Gemeinschaften blieb erhalten. Eine von unten auf Basis pluraler Interessen gewachsenen Stadtkultur entwickelte sich nicht. Anstelle des Zaren wachte nun die Partei über die Einheit von Staat und Kirche, nur daß dies nun nicht mehr im Namen Gottes, sondern in dem des industriellen, des sozialistischen Fortschritts geschah.
Eine Bestandsaufnahme im Lande selber zeigt, daß es keine eindeutige Lösung gibt. Sicher ist als erstes, daß der Zusammenbruch der gewohnten kollektiven Strukturen ein für die Mehrheit beängstigendes Vacuum hinterläßt, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Klage findet, die ich immer wieder auf Dörfern und in Betrieben gehört habe: „Früher haben wir füreinander eingestanden. Jetzt sorgt jeder nur noch für sich.“ Viele Menschen sind nicht bereit und sehr häufig aufgrund der materiellen Gewachsenheit der Lebens- und Arbeitsverhältnisse auch nicht in der Lage, die Auflösung der Kollektive zu akzeptieren. Auch wo formal der Privatisierung Genüge getan wird, indem man die Sowchose X oder den Betrieb Y in eine „Aktiengesellschaft“ verwandelt, bleiben die alten Verhältnisse erhalten. „Wir heißen jetzt Aktiengesellschaft, aber sonst ist alles beim Alten“, lautet ein häufig zu vernehmender Kommentar auf dem Lande. Die meisten, die es als Neubauern oder als Jungunternehmer versuchen, individuelle Wege zu gehen, sehen sich schon durch die pure Not gezwungen, nach neuen kollektiven Formen zu suchen, angefangen bei einfachen Beziehungen gegenseitiger Hilfe, über Kooperativen bis hin zur Gründung von Interessen-Vertretungen wie dem „Bauernverband“, der „Unternehmerpartei“ usw.
Bedeutender noch ist die geistige Leere, die nach der Auflösung der Partei, also der früheren Einheit von Staat und Welt, nach neuen Sinngebungen verlangt: Statt einer Partei gibt es jetzt eine Unzahl, deren Attraktivität mit ihren Führern steht oder fällt. Statt bei den Pionieren organisiert zu werden, müssen sich die Jugendlichen selbst organisieren. Sie tun es in „Tuzowkis“, Zirkeln, oder in Banden. Eine Unzahl von „obschtschinas“ versucht den so plötzlich führungslos gewordenen Menschen neue Leitbilder zu bieten, angefangen bei der „Datschengemeinschaft“ über psychotherapeutische Angebote bis hin zu neuen religiösen Gemeinschaften der unterschiedlichsten Richtungen, großen wie kleinen, von zeitgenössischen neuen Sinnstiftungen wie „Bachai“ über Kampfsport-Kommunen bis hin zu den Erneuerungsbewegungen der Welt-Religionen.
Die interessanteste Blüte ist zweifellos das Aufbrechen der ethnischen Widergeburtsbewegungen. Statt sich weiter der Gleichmacherei einer imperialen Staatsideologie unterzuordnen, suchen die über 150 unter dem Dach der ehemaligen Sowjetunion vereinigten Völkerschaften auf den Spuren ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Kultur und Religion eine neue Identität zu finden. Überall bilden sich ethnisch geprägte Kulturzentren, Gemeinschaften der „Wiedergeburt“ usw. Hier ist die Rückbesinnung auf die Obschtschina am ausgeprägtesten.
Eine ungeheure Vielfalt entsteht. Es gibt nicht nur einen Weg. Weder im Weg zurück zu den staatssozialistischen Formen noch in der Übernahme westlicher Werte liegt die Lösung. Beides wird von der Mehrheit der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion abgelehnt. Es entsteht etwas jenseits der alten Frontstellungen, dessen Wesen darin liegen könnte, Vielfalt und Andersartigkeit nicht nur zu dulden, sondern als Bereicherung zu begrüßen.
Gerade die ethnischen Wiedergeburts-Bewegungen zeigen aber auch deutlich, wo die Gefahren liegen, die aus dem Zusammenbruch des monolithischen Weltbildes folgen: statt auf den mühsamen Weg um Kooperation mit dem Andersartigen, kann der ethnische Impuls auch in einen Kurzschluß führen, an dessen Ende nationalistische Gemeinschaften mit ethnischem Reinheitsanspruch als Ersatz für die verlorene Gleichheitsideologie stehen. Die Kämpfe in den südlichen Randzonen des ehemaligen sowjetischen Imperiums sprechen eine deutliche Sprache. Die Schlußfolgerung daraus kann nur sein, sich mit allen Kräften für kooperative, für föderative Beziehungen, für den Dialog zwischen den neuen Gemeinschaften einzusetzen. In meinem Feature werde ich versuchen, die verschiedenen Entwicklungslinien in der Frage von Kollektivismus/Individualismus im Alltag des Landes aufzuzeigen.
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