Atmo 1: Straßenszene in St. Petersburg (0,30)
Regie: O-Ton langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.
Erzähler: Russland, Herbst 1994, St. Petersburg. Vertreter der sogenannten unversöhnlichen Opposition agitieren auf der Straße. Die Frau erregt sich über „Okkupanten aus dem Westen“. Sie fordert: „Russland für das eigene Volk!“. Es geht um die Nation, um die Wiedergeburt des Russischen, um die „Rus“. Was das ist, kann mir niemand hier auf der Straße beantworten.
Atmo 2: Kirche in Perm, Litanei und Chor (0,32)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, allmählich abblenden
Erzähler: Die Stadt Perm im Ural. Hier könne ich das „wahre“ im Original Russland erleben, hatten mir Freunde empfohlen. Die wiedereröffnete Kirche ist der erste Ort, den Galina Britwina, Direktorin des städtischen Kulturhauses, mir zeigt. Anschließend geht es in die Staatsgalerie: Meisterwerke der Ikonenmalerei, eine Sammlung monumentaler geistlicher Holzplastiken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert sind hier aus der Permer Region zusammengetragen, die immerhin fast die Größe Deutschlands hat. Einem prachtvollen Bildband über die Permer Holzskulpturen, den Galina mir schenkt, sind ein paar Angaben zu entnehmen, die das Besondere dieses Raums ahnen lassen:
Übersetzer: „Perm: eine Region im Abseits der Geschichte. Erst im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wurde die Gegend christianisiert. Aber schon Mitte des 16. Jahrhunderts war sie ein Zentrum der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Ikonenmalerei. Von hier gingen Impulse zur Reichserneuerung aus, die die „Smuta“, die Zeit der Wirren nach dem Ende der ersten Dynastie, beendeten und die neue Dynastie der Romanows begründeten.“
Erzähler: Also, beinah russischer als die „Rus“, lächelt Galina, das Russland der ersten Periode, bevor es von den Mongolen überrannt wurde. Galina hofft auf Impulse der Erneuerung wie zu Zeiten der historischen „Smuta“:
O-Ton1: Galina Britwina, Direktorin des Kulturhauses Perm (0,48)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzerin: „Jetzt sind alle verwirrt. Jetzt wissen die Leute nicht, womit sie sich befassen sollen, was vorgeht im Lande, was in der Wirtschaft geschieht. Jetzt geht der Kampf ums Überleben: wie durchkommen und nicht verhungern. Aber ich denke, dass der Mensch nach einer gewissen Zeit für sich einen Platz in der Gesellschaft findet, und sich dann mit dem befassen wird, was ihm entspricht. Und in der Politik werden Leute kommen, die für unser Russland leiden und nicht solche, wie wir sie jetzt sehen.“
Atmo 3: Ankunft in Tscherdin (0,38)
Regie: Langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.
Erzähler: Die zweite Station ist Tscherdin, ein Ort weit im Norden, das alte Zentrum der Permer Region, ein Wallfahrtsort für viele, die auf der Suche nach der russischen Kultur sind. Von hier und aus den umliegenden Dörfern stammen auch viele der Ikonen und Holzplastiken der Staatsgalerie Perms.
Malerisch klettern Holzhäuser in alter russischer Bauweise die Hügel vom Fluss, der Kama, herauf. Oben auf dem Kammweg, der alten Hauptstraße, verbreiten steinerne Bürgerhäuser den spröden Glanz vergangenen Reichtums. Zahllose Zwiebeltürme werden sichtbar, sechzehn oder siebzehn Kirchen seien es, hatte Galina mir vorher angekündigt. Eine Babuschka, die ich frage, warum es so viele Kirchen in einem so kleinen Ort gebe, erklärt:
O-Ton 2: Babuschka (0,19)
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Übersetzerin: „Es ist eine alte Stadt. War ein Handelszentrum. Früher gab es hier Kaufleute. Die haben die Kirchen gebaut, für ihren eigenen Gottesdienst. Die hatten eigene Schiffe und Häuser. Sie haben alles selbst herangeschafft, zusammengekauft, gehandelt. Die gaben dem Volk damals etwas, die haben für das Volk gesorgt. Jetzt gibt keiner mehr eine Kopeke.“
Erzähler: Ein paar Straßen weiter begegnen uns zwei junge Mädchen:
O-Ton3: Junge Mädchen in Tscherdin (0,25)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der zweiten Übersetzerin wieder hochziehen. (Hier ist das Ende des O-Tons ist identisch mit dem Ende des Zitats: „… alles vertraut.“)
Übersetzerin: „Nun, die Stadt steht auf sieben Hügeln. Das wissen doch alle. Wie Moskau zum Beispiel oder wie Rom. Deshalb hat sie einen besonderen Wert, eine lange Geschichte. Interessant.“
Erzähler: Woher sie das wüssten? Aus der Schule, natürlich! Und ob sie hier leben wollten?
Übersetzerin: „Aber ja, hier sind doch unsere Freunde, unsere Bekannten. Ich hoffe, dass wir hier leben können und nicht auswandern müssen. Hier ist uns alles vertraut.“
Erzähler Die weiteren Erkundungen in Tscherdin ergeben ein eher nüchternes Bild: das Touristenhaus für Jugendliche ist geschlossen. Es kommt niemand mehr. Die historischen Reichtümer der Gegend, die früher im Museum versammelt waren, sind fortgeschafft. Niemand weiß, wohin. In einem der benachbarten Dörfer, Nyrob, noch weiter abseits von befahrbaren Straßen, ebenfalls für seine Kirchen bekannt, entdecke ich die andere Seite der Region: die „Zonen“. So werden Stalins Gulags heute genannt. Mindestens neun seien es rund um das Dorf, rechnen mir die Befragten an ihren Fingern vor. In der Region seien es noch mehr. Aber das wisse man am besten gar nicht so genau!
Die Permer Region, erfahre ich, war nicht nur ein Zentrum der Altgläubigkeit, sondern schon zu Zeiten der Zaren Verbannungsort und Strafkolonie. Peter der I. machte das Uralgebiet außerdem zur Erzgrube des Imperiums, die Sowjets machten es zum atomaren Übungsgelände. Die meisten der von mir Befragten kümmert weder das eine, noch das andere: Sie sind, wie Galina schon richtig sagte, mit dem Überleben beschäftigt. Die Wiedergeburt russischer Kultur erweist sich als Traum, für den vor Ort Zeit und auch Geld fehlt. Die Wiederherstellung der Würde des russischen Menschen aber fordern ausnahmslos alle.
Atmo4: Straßengeräusche, Pendeltüren, Hall im Foyer (0,27)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Zurück in Perm. Nach all dem Widersprüchlichen, was ich ihr von Tscherdin berichtet habe, will Galina mir etwas Aufbauendes vorführen: Das Kinderhaus der ehemaligen Leninwerke in der Arbeitervorstadt Materwelinski. 1500 Kinder werden hier auch heute noch in einer Art Vorschule versorgt. Die frühere Unterstützung durch die Werke musste allerdings der Eigenfinanzierung weichen. Der wirtschaftliche Existenzkampf ist hart und ungewohnt. Aber man schlägt sich durch. Härter ist der Kampf um das geistige Überleben: Alexander Wassiljew, der Leiter, erklärt seine Orientierung:
O-Ton4: Direktor des Kinderhauses (0,27)
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Übersetzer: „Die wichtigste Aufgabe ist die seelisch-geistige Auferstehung Russlands. Unsere Kinder lernen die Bibel kennen, die Religionen. Wir haben sogar eine Sonntagsschule. Da gibt es alles: Ästhetik, Ethik – und das wirklich in der Praxis, also, nicht nur durch Erzählen wie in der Schule. Alles geschieht im Spiel.“
Erzähler: Weniger spielerisch geht es bei Nina Subotina zu, „Poetessa“, ehemalige Mitarbeiterin am städtischen Kulturhaus, die mich mit einer soeben gegründeten „Partei der russischen Ethik“ bekannt macht:
O-Ton 5: Poetessa Subottima (0,28)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzerin: „Menschen des russischen Landes! Die freche Ausplünderung des russischen Staates setzt sich fort. Wir appellieren daher an alle Menschen auf russischem Boden, zu ihrer nationalen Moral zurückzukehren, sich nicht weiter von der Philosophie unseres Volkes zu entfernen, mit der Russland tausend Jahre lebte! Unsere nationale Moral und die Philosophie des Volkes bringen das Interesse aller Schichten der Bevölkerung zum Ausdruck: der Arbeiter, der Intelligenz, der Militärs, der Geschäftsleute, der Pensionäre, der Jugend. Sie bedingen ein Programm der Stabilisierung der Wirtschaft, das ein Ende macht mit der Erniedrigung des Volkes und der Ausplünderung des russischen Staates.“
Erzähler: Kern der „nationalen Moral“, so Frau Subottina, sei das „Prinzip Obschtschina“, also der alten russischen Bauerngemeinde. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes. Heute gehe es darum, sich für die Wiedergeburt der alten Moral der „Obschtschina“ einzusetzen, sie in Gesetze zu gießen und den Staat dadurch in einen moralischen und lebendigen Organismus zu verwandeln.
Atmo 5: Moskauer Metro, kommt an(0,45)
Regie: Kurz stehen lassen, langsam abblenden
Erzähler: Moskau. Die Welt von Perm liegt hinter uns und mit ihr die der Frau Subottina. Eine Skurrilität, könnte man glauben, von der aus man zu den wichtigen Fragen der Tagesordnung übergehen muss. Dass dem nicht so ist, begreife ich spätestens im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ Gennadij Schuganow. Er will alle Kräfte der „unversöhnlichen Opposition“ gegen die bestehende Regierung führen und hat Aussichten, dies zu schaffen, gleich ob links, rechts, vaterländisch oder religiös motiviert, wenn sie nur in einem einer Meinung sind: dem Wunsch nach der Widerherstellung der russischen Größe. Es gilt nur eine einzige Einschränkung: dass dies auf friedlichem und staatsbejahendem Wege zu erfolgen habe. Schuganows eigene Begründung klingt wie von Frau Subottina diktiert:
O-Ton 6: Gennadij Schuganow, Führer der KPRF (0,17)
Regie: stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen. (Hier stimmt letzter O-Ton mit letztem Wort des Zitats überein)
Übersetzer: „Wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie der „Obschtschina“, kollektivistisch, ökumenisch, korporativ. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.“
Erzähler: Als mir dann auch noch ein überzeugter Radikaldemokrat, Boris Kagarlitzki, erklärt, die Reform-Linke werde sich um ein populistisches Programm zur Rettung Russlands sammeln müssen, wenn sie verlorenes Terrain wiedergewinnen wolle und mir ein frisch fertig gestelltes Manuskript über die „russische Restauration“ in die Hand drückt, wird mir klar, dass die Suche nach dem eigenen russischen Weg in ein neues Stadium tritt.
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