„Wir bauen eine Kirche“ Gang durch ein Dorf an der mittleren Wolgaendet: Radio Bern

Es ist das Jahr 1996. Wahljahr in Rußland. Krisenjahr. Das russische Imperium ächzt in allen Fugen. Boris Jelzin hat soeben seinen Ukas zur Privatisierung auf dem Lande erneuert, nachdem der erste von 1991 nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hat. Zuvor hatten seine Gegenspieler in der Staatsduma einen Kodex verabschiedet, der die Privatisierung auf dem Lande faktisch beendete, indem er die Landvergabe davon abhängig machte, ob der Boden von seinem zukünftigen Eigner landwirtschaftlich genutzt werden würde.
In Sugudski, einem kleinen Flecken an der mittleren Wolga, traut man weder der einen, noch der anderen Variante. Dort sucht man eigene Wege.     Ich werde überrascht sein. Das hatte mir mein Reisebegleiter versichert, der russisch-tschuwaschische Schriftsteller Michail Juchma, als er mich zu einer Fahrt in sein Heimatdorf einlud.
Man erreicht Sugudski nach einer langen Fahrt von Tscheboksary aus im Süden der Republik Tschuwaschien. Das ist eine der 15 autonomen Republiken, die in der russischen Föderation heute nach einer relativen Autonomie streben. Die Straße führt durch welliges, offenes Gelände. Ab und zu weisen Schilder nach links oder rechts, meist noch unter den alten Bezeichnung der Kolchosen. Auch Sugudski wird so angezeigt. Nur wenig später taucht das lockere Haufendorf am Horizont auf.

O-Ton 1: Ankunft im Dorf            (1,10)

Regie: Langsam kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler hochziehen:

Erzähler:     An schmucken Holzhäusern vorbei geht es ins Dorfinnere. Wir halten vor einem Bauplatz.
Was für ein Bild! Das ganze Dorf scheint versammelt.
„Hier wird eine Kirche gebaut“, erklärt einer der Männer. Es ist der ältere Bruder meines Reisebegleiters Michael Juchma. Er ist Lehrer hier im Ort. Hier helfe man sich gegenseitig, werde ich weiter belehrt: Fundament hat die Kolchose gesetzt. Alles Übrige ist Geld des Volkes. Jeder hat es etwas gegeben.
„Es baut Volk“, ruft man mir zu. „Mit dem Geld des Volkes.“
„Freiwillig. Ohne Bezahlung“, ergänzt Michail Juchma. „Volkstarif!“
„Freiwilliger Einsatz“, bekräftigt noch jemand.
…nemerna, nasewaitsja nasch, Frauenstimmen

O-Ton 2: Frauenstimmen            (0,27)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Hier steht eine Gruppe von Frauen am Betonmischer. Junge, alte. In geblümten Kleidern die einen, in Trainingshosen oder Jeans die anderen, fast alle in jenen typischen nach hinten gebundenen Kopftüchern.
„Eine Kirche bauen wir“ sagen sie.            Freiwllig? Na klar, freiwillig! Und ohne Bezahlung.
„Wir helfen“, lachen sie, „wir geben den Männern bescheid, damit sie es richtig machen.“

…snajem, Lachen

O-Ton 3: Männer                    (0,43)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     „Ja, das wird unsere eigene Kirche. Die bauen wir alle gemeinsam“, bestätigen diese Männer. Im Nachbardorf, bei den Tataren machen sie es genauso, setzen sie hinzu. Nur dort ist es eine Moschee.
Nach dieser Auskunft wenden sie sich wieder ihrer Arbeit zu, jetzt in tschuwaschischer Sprache. Das ist die Muttersprache, die hier auf dem Dorf gesprochen wird.

…Männer: tschuwaschisch

O-Ton 4: Männerstimme, Forts.             (0,24)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     Alle Dörfler beteiligen sich an dem Bau, sagt der Mann. Den ganzen Tag wird gearbeitet. In nur drei Tagen wurde das Fundament gelegt und die äußeren Mauern soweit hochgezogen, daß das Dach aufgesetzt werden kann. Am Turm wird auf halber Höhe gemauert. Unfaßbar, wenn man bedenkt, wie lange Bauten sonst in Rußland zu dauern pflegen.

… kak bistra ..(Frau): poverit

O-Ton 5: Kind                    (0,46)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    Auch die Kinder sind dabei.
„Nun sag schon, wie Du heißt, drängen die Erwachsenen, „und was Du hier machst.“
Sascha, antwortet der Kleine. Steine trägt er heran.
„Hier arbeitet das ganze Volk“, sagt Michail.     „Freundschaftlich miteinander“ ergänzen die anderen. „So kann man irgendwie überleben, aber das geht alles kaputt, wenn jetzt Perestroika stattfindet, sagt dieser Mann.“

Erzähler:     Über hundert Leute arbeiten hier auf diese Weise. Eine Gruppe junger Mädchen versuche ich vergeblich ins Gespräch zu ziehen. Mehr als verlegenes Kirchern ist ihnen nicht zu entlocken und so schnell wie möglich huschen sie weg.
Eine der umstehenden Frauen dagegen nimmt sich dafür umso mehr Zeit. Fast empört antwortet sie auf die Frage, wozu die Kirche nötig sei:

…Gänse…

O-Ton 6: Frau                            (026)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, untzerlegen, hochziehen

Übersetzerin: „Zum Beten doch! Betet man bei Ihnen nicht?
Bei uns gehen die Menschen viel in die Kirche. Aber die alte Kirche ist klein. Die Luft reicht nicht. Ja, ja. Deshalb gab es die Entscheidung, die Große zu bauen.“
…bolschoi stroits

Erzähler:    Stolz zeigt sie auf die alten Frauen, die rundherum beschäftigt sind:

O-Ton 7: Frau, Forts.             (0,26)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Übersetzerin: „An unserer neuen Kirche arbeiten auch die Großmütter. Sie sind mehr als sechzig, manche siebzig Jahre alt. Sie setzen sich alle für die Kirche ein. Zuhaus können sie ja sowieso nichts tun. Aber in die Kirche gehen sie. – Ja, es ist ein freundliches Volk hier.“

…narod druschni, Baugeräusche

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Wie es bei uns mit dem Glauben stehe, will sie noch einmal wissen. Meine Auskunft, daß die Menschen bei uns wenig zur Kirche gingen, paßt nicht in das Bild, das sie in den letzten Jahren vom Westen gewonnen hat:

O-Ton 8: Frau, Forts.             (0,42)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Wenig? Aber wie das? Wenn sie nach Moskau kommen, sind sie doch ganz besessen darauf, die Kirchen zu besuchen. Sie fahren extra dort hin. Ich habe sie gesehen, wenn sie ankamen, wie sehr sie sich interessierten.“

Erzähler:     Daß Touristen Kirchen als Kunstdenkmäler betrachten und allein deshalb aufsuchen könnten, ist ihr im höchsten Maße suspekt:

Übersetzerin: „Ach ja? Na sowas. Das höre ich bei Ihnen zum ersten mal. Das habe ich bisher nicht gewußt, daß sie nur so gehen. Ich dachte sie, seien gläubig.“

…veruischi,Stimmen Lärm, Zurufe

Erzähler:    Eine Gruppe von Männern ist mit dem Behauen und Richten der Dachbalken beschäftigt. Auch sie antworten bereitwillig auf alle Fragen.
Wie der Bau der Kirche zustandekam?
Spontan beginnt einer in tschuwaschischer Sprache zu reden. Erst als ich ihn darauf aufmerksam mache, daß ich ihn nicht verstehe, wechselt er fast unmerklich ins Russische:

O-Ton 9: Männer, Forts.            (1,13)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, wir bauen die Kirche auf Bitten unseres Väterchens und der Hauptadministration. Sie entschieden, diese Kkirche zu bauen.
Früher hatten wir ja eine Kirche. Das liegt wohl siebzig Jahre zurück. Sie wurde 1749 hier gebaut.“

Erzähler:    „Eine große Holzkirche war das“, ergänzt einer.
Dann zählen die Männer die Bedingungen auf, die den Bau der neuen Kirche erst möglich gemacht haben: Erstens: Das Dorf ist direkt im Gebietszentrum vertreten. So konnte man selbst entscheiden. Zweitens: Einige Dörfler arbeiten in der nahegelegenen Ziegelfabrik. So kommt man an die notwendigen Ziegel. Denn die sind Defizit.

Übersetzer:     „Vor allem aber helfen die Großmütter und Großväter! Sie alle arbeiten. Prachtkerle! Wenn sie nicht helfen würden, könnte man eine solche Kirche natürlich nicht in drei Tagen hinstellen. Prachtkerle, wie sie arbeiten!

…malatzi rabotajet (plus Frage)

O-Ton 10: Männer, Forts.             (0,25)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:    Aber trotz allem wird es nicht so schnell gehen, wie gewünscht: Finanzprobleme! Es ist nicht klar, wo das weitere Geld herkommen soll. Das wird trotz allen Enthusiasmus auch hier im Dorf  eine Pause erzwingen:

Übersetzer:     „Ja, ohne Pause schaffst Du es nicht. Aber im nächsten Jahr wird sie wahrscheinlich schon tätig sein.“

…usche rabotaet mit Geräusch

Erzähler:     Selbst das wäre für russische Verhältnisse noch ein Blitztempo. Das Geld muß schließlich von allen Seiten zusammengekratzt werden.

O-Ton 11: Männer, Forts.            (0,39)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Einige Leute geben sehr viel. Dann die Bevölkerung selbst. Auch die Kolchose hilft. Sie hilft mit Lastwagen, mit Zement und mit dem und dem  – das Fundament haben sie gelegt; die Bevölkerung hat vor allem mit Geld geholfen.“

…nacelennje, gänse

O-Ton 12: Männer, Forts.             (0,51)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Die Kolchose existiert wie früher, erzählen die Männer. Ob es denn keine Privatisierung gegeben habe? Hier noch nicht, antworten sie. Es gibt eine Genossenschaft von mehreren Bauern, aber auch die arbeiten gemeinsam und kooperieren mit der Kolchose. Insgesamt hat das Dorf 600 Höfe. 600 Familien leben darin. Das sind gut 2000 Menschen. Die meisten sind irgendwie in dritter oder vierter Linie miteinander verwandt.
„Bei uns ist die Kolchose noch nicht zerfallen“, sagt einer der Männer. „Ein Dorf, eine Kolchose“, bestätigt ein anderer. So wie man die Kirche baut? „Jaja“, stimmen die Männer zu: „Alle zusammen. Alle miteinander.“

…bjo mestje, da,da … Gänse 386)

O-Ton 13: Männer, Forts.            (0,59)

Regie: verblenden, hochziehen zum Stichwort „Satschem“, abblenden, unterlegen, nach dem 2. Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:     Hier wird deutlich, was eine Kolchose von eine Sowchose unterscheidet. Die Sowchose ist ein Staatsgut, die Kolchose ein freiwilliger Zusammenschluß. Dieser Unterschied hatte sich zeitweise verwischt. Heut wird er wieder wichtig. Dafür wird die Kirche gebraucht. Wieso?
Sie verstehen die Frage zunächst gar nicht:

Übersetzer:     „Wieso? Ach wieso! Um unsere alten Traditionen wiederentstehen zulassen, natürlich, die unserer Vorfahren.“

Erzähler:     Aber nicht die vorchristlichen Traditionen der tschuwaschischen Frühzeit sind damit gemeint. „Von so etwas reden nur die Intellektuellen in den Städten“. Darin sind die Männer sicher. „Das Volk, meinen sie, nimmt sowas nicht an.“
Alte Tradition bedeutet für sie Christentum: „russisch-orthodoxes Christentum, korrigiert einer der Männer.

…prawoslawna zerkwa, da,da

O-Ton 14: Männer, Forts.            (0,36)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Erzähler:    Es soll also alles so werden wie vor der Revolution? „Ja, ja“, bestätigt die Runde.
Michail Juchmas älterer Bruder, der Dorflehrer, bemüht sich um eine genauere Erklärung:

Übersetzer:     „Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie das war, als die Kirchen damals verbrannten. Aber diese Kinder, die hier mitbauen, hätten noch vor zehn Jahren eine Kirche nicht einmal betreten dürfen. Wenn ich als Lehrer etwa davon gewußt hätte, daß Kinder in die Kirche gehen, hätte man mich dafür aufgehängt. Jetzt kehren die Traditionen zurück, die es gegeben hat. Was man da jedoch über die alten Götter erzählt…ach, da war heute zum Beispiel so ein Artikel in der Zeitung: Sollen wir vielleicht ins Steinzeitalter zurück?“

…xotjat vernutsja?

O-Ton 15: Männer, Forts.             (0,37)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Erzähler hochziehen

Erzähler:     Hier deuten sich heftige Differenzen an; die den Dorflehrer auch mit Michail Juchma, seinem jüngeren Bruder, in Konflikt bringen könnte: Russische oder tschuwaschische Wiedergeburt?
Aber die Männer wollen keinen Graben aufbrechen lassen: „Wir haben nur einen Glauben“ sagt einer kategorisch. „Es geht um die Kirche. Es ist einfach der Glaube“, setzt ein anderer nach, „egal ob russisch oder tschuwaschisch.“
„Ich erkläre es ihnen“, springt der Lehrer ein:

…xoroscho, ja otbetschu

O-Ton 16: Männer, Forts.             (1,12)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,nach dem Erzähler kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegt halten

Übersetzer:    „Im zehnten Jahrhundert hat Wladimir die Russen christianisiert, 995; unsere Bevölkerung, die von Szugudslki, erst 1745. Das war spät, viel später natürlich. Aber diese Tradition ist nun doch schon 250 Jahre alt.“

Erzähler:    Auch Hinweise auf heidnische Feste, die in der tschuwaschischen Bevölkerung noch begangen werden, können den Dorflehrer von seiner Sicht nicht abbringen. Die alten Sitten hätten heut einen christlichen Sinn, findet er. Vorchristliche Vorstellungen seien schon lange vergessen.
Zur Bekräftigung läd er mich ein, der provisorischen alten Kirche einen Besuch abzustatten.

…posmotrim, idiom

O-Ton 17: In der alten Kirche            (0,18)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    Die alte Kirche liegt gleich nebenan im Hintergelände der neuen. Der blauweiß gestrichene Holzbau hebt sich kaum von den übrigen Häusern ab. Der Priester, vollbärtig, rundlich, von etwas schmuddeliger Gemütlichkeit führt uns gleich ins Innere: Das sind zwei winzige Räume, vollgestellt mit großen und kleinen Heiligenbildern, Kruzifixen und Leuchtern. Der Ort strahlt eine tiefe religiöse Intimität aus, vor allem durch die ungewöhnlichen Ikonen:

…zenu netto

O-Ton 18: Priester                (0,13)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:    „Hier diese hat jemand selbst gemacht. Ein örtlicher Künstler, der da drüben lebt. Und hier diese hat man uns von zu Hause gebracht.“

Erzähler:     Bereitwillig zeigt er die Reichtümer vor.

O-Ton 19: Priester, Forts.             (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Hier, die hat man auch von zu Haus gebracht. Man muß der Kirche ja helfen! Und so hat man alles hierhergebracht. Wenn wir später größere Möglichkeiten haben, dann können wir auch gute Ikonen aufstellen. Aber so geht es es jetzt erst einmal mit den selbstgemachten. Das ist ja alles hausgemacht.“

…swje vot eto damaschneje

Erzähler:     Der Dorflehrer nimmt die Gelegenheit wahr, die Frage nach den Traditionen noch einmal aufzugreifen:

O-Ton 20: Juchma der Ältere            (1,05)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Ich fahre fort: Also vor 250 Jahren hat unser Dorf das Christentum angenommen. Dahin kommen wir jetzt zurück. 1930 begann der Druck auf die Kirche. 1936 hat man sie geschlossen. 1956 war die alte Kirche vollkommen kaputt und 1991 wurde diese neue hier aufgemacht. Und was interessant ist: hier tagte früher der Dorfsowjet! Man konnte kein passendes Gebäude finden, da haben alle gemeinsam so entschieden. Der Bezirkssowjet, der Bauernsowjet, sie alle entschieden, daß man das Begbäude des Landwirtschaftssowjets für die Kirche nehmen kann. Den Turm haben wir nachträglich gebaut. – Das ist Wiedergeburt der Traditionen, Wiedergeburt des Alten.“

…vorrasschennije starinnije

Erzähler:     1991 veranlaßte Gorbatschow ein Gesetz zur Religionsfreiheit. Der Pater ist schon der zweite, der seitdem in der kleinen Kirche tätig ist. Wie sein Vorgänger hat er sich lange auf diese Tätigkeit vorbereitet:

O-Ton 21: Prister, Forts.             (0,20)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich habe früher gelernt, habe das Landwirtschafts Institut beendet, habe in der Kolchose gearbeitet. Dann bin ich in einen anderen Bezirk gegangen. Dort habe ich in einem Kloster gearbeitet, zehn, fünfzehn Jahre. Dann bin ich schon hieher berufen worden.“

…dawno, dawno

Erzähler:     Die eigene Laufbahn findet der Pater nicht besonders ungewöhnlich. Seine Gemeinede aber sit in seinen Augen etwas Besonderes:

O-Ton 22: Priester, Forts.            (0,28)
(483 – 490)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Ich sehe das so: Dieses Dorf ist wie eine Schlafgemeinschaft, wie eine Familie. Sie kennen einander, sie helfen einander, sie unterstützen sich gegenseitig, sie spornen sich gegenseitig an. Im Baterski Bezirk da draußen ist das ganz anders. Da kennt man sich nicht gegenseitig. Da gibt es diese Verbundenheit nicht, nicht diese Freundschaft, nicht diese Familiarität. Aber hier kennt man sich, schätzt man sich. Sicher gibt es einige, die nicht wollen, aber die meisten wollen so zusammenleben.“

Erzähler:     Als Ausnahme möchte er das Dorf aber doch nicht betrachtet wissen:

O-Ton 23: Priester, Forts.            (0,25)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    „Eine Ausnahme möchte ich es nicht gerade nennen. Dasselbe geschieht ja auch woanders. Ich möchte zum Beispiel nicht schlecht über das Nachbardorf reden, die Tataren. Obwohl sie keine Christen sind, helfen sie uns auch.“
…poderschit nas

Erzähler:     Daß die Tataren eine Moschee bauen, stört den Pater nicht:

O-Ton 24: Priester, Forts.            (0,36)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem 1. Erzähler hochziehen

Übersetzer:    „Nun, ja, sie bauen eine Mosche. Aber sie helfen auch uns, sie sind nicht gegen uns. Klar, gehen wir wir nicht direkt miteinander um. Aber als sie uns Geld schickten – Natürlich! Danke, das war gut. Das nehmen wir. Da gibt es nichts Schlechtes. Wir leben freundschaftlich miteinander, kollektiv. Ja, wenn wir um Hilfe bitten, dann kommt Hilfe. Es ist ein hilfsbereites Volk.“

Erzähler:     Fünfzehn neue Kirchen und ebensoviele Moscheen gibt es seit 1991 im Baterski Bezirk. Eine Art Wettbewerb ist entstanden, welches Dorf am schnellsten das schönste Gotteshaus bauen kann. Dabei geht es offenbar weniger um einen bestimmten Glauben als vielmehr um die Schaffung eines neuen moralischen Zentrums kollektiver Gemeinsamkeit. Das Gotteshaus ist der höchste Ausdruck der Dorfgemeinschaft. Dafür werden sowohl die persönlichen Altäre, wie die privaten Konten und sogar die nichtvorhandenen öffentlichen Gelder geplündert.

…narod otsifschowi und auslaufende Geräusche

Erzähler:     Vor der Kirche wartet schon der Dorfschulze. Er ist ein junger, dynamischer Mann von freundlichem Äußeren. In ihm könne ich einen Leiter neuen Typs kennenlernen, hatte Michail Juchma vor der Fahrt versprochen, einen, der die sowjetische Macht mit der neuen Art der Wirtschaftsführung in einer Funktion verbinde. Danach befragt, antwortet der Angesprochene locker, wie es diesem Image entspricht:

O-Ton 25: Administrator            (0,14)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Funktion? Naja, Aufgabe, meinen Sie: Kopf der Verwaltung dieses Dorfes und Vertreter der Kolchose in einem.“

…predsedatel Kolchosa

Erzähler:     Einige Widersprüche bringe diese Personalunion schon mit sich, räumt er ein, Aber der Demokratie schade das nicht, versichert er, jedenfalls nicht in so kleinen Orten wie in Sugudski:

O-Ton 26: Administrator, Forts.            (0,41)
(535 ..nach meiner Frage 545

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ja klar, Demokratie soll schon sein! Aber das bedeutet ja auch: Es ist so, wie es jeder versteht. Woanders sieht man es vielleicht anders: Hier ist alles in einer Person. Der Idee nach soll das Volk wählen: das ist geschehen, hier im Ort und dort in der Kolchose, in der Kolchose natürlich öffentlich, im Ort, für die Administration in geheimer wahl. Aber Demokratie war das schon. Das Volk selbst wollte es ja so.“

…polutschajetsja

Erzähler:    Auch sonst hat man der neuen Zeit durchaus Genüge getan, findet Pjotr Nikolajewitsch Nikiferow.
Und wie ist der Stand der Privatisierung?

O-Ton 27: Administrator, Forts.            (0,46)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nun, Privatisierung! Jeder Kolchosnik kennt heut seinen Anteil, weiß daß er Land hat. Das ist alles aufgeteilt nach einzelnen Stücken. Auch das Vermögen ist aufgeteilt. Alle wissen, wieviel Millionen wir hier rundherum besitzen. Aber niemand hat Eile, sich einzeln abzusetzen. Es gibt 19 einzelne Bauern, aber keine Privatbauern, sondern selbstständige Wirtschaften. Seit zwei drei Jahren gibt es die. Einige wollen zurück jetzt in die Kolchose.“

…kolchos, hm

Erzähler:     Eine Schule hat das Dorf, erzählt Nikiferow, unterstützt durch die Umstehenden. 420 Kinder werden dort unterrichtet. Ein Kulturhaus wird unterhalten. Im Dorf werden die traditionellen Feste gepflegt. Pjtotr Nikiferow persönlich hat den bekanntesten Sohn des Dorfes, Michail Juchma, zur Niederschrift der Geschichte des Dorfes angeregt. Er hat auch für die Herausgabe der entsprechenden Broschüre durch die Kolchose gesorgt. Die Häuser sind groß und gepflegt, viele sehr schön geschnitzt und bemalt.
Lebt man also nicht schlecht in diesem Dorf?

O-Ton 28: Adminstrator, Forts.        (0,42)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:         „Nun, wir leben“, lacht Pjotr Nikiferow, bevor der Dorflehrer Juchma die weitere Erklärung übernimmt:

Übersetzer:        „Wenn Sie durchs Dorf gehen, dann sehen Sie, was gebaut wird! Wie da Häuser gebaut werden! Wenn gut gebaut wird, wenn schöne, große Häuser gebaut werden, dann bedeutet das, daß man gut lebt. Wenn da kleine Hütten stehen, schief und kaputt, dann heißt das, man lebt schlecht. Bei uns im tschuwaschischen Volk liebt man es zu bauen. Kann sein, daß man manchmal nicht so gut ißt, aber man baut! Kann sein, daß man sich manchmal nicht so gut kleidet, aber man baut gute Häuser.“

…Trecker

Erzähler:     Sein Bruder Michael ergänzt:

O-Ton 29: Michael Juchma            (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Das Interessanteste ist natürlich, mit welchen Methoden gebaut wird; in der Art wie die Kirche gebaut wird, werden auch die Häuser gebaut: Wenn jemand in Elend gefallen ist, dann versammelt sich das Volk und baut gemeinsam ein Haus, ebenso wie jetzt da neben an. Das ist Familienhilfe, die Hilfe der `obschtschina´, der Dorfgemeinschaft.“

…obtschina, trecker

Erzähler:    Ich habe verstanden: Auf allgemeinen Zerfall antwortet das Dorf mit engerem Zusammenschluß, genereller gesprochen, auf den Verfall des Staatskollektivismus mit dem Bemühen um Wiedergeburt der ursprünglichen Dorfgemeinschaft. In Gemeinden wie in Sugudski kommt dazu noch das ethnische Band.
Aber schlägt denn die allgemeine Krise so gar nicht auf das Dorf durch?

O-Ton 30: Administrator, Forts.             (0,39)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Schwierigkeiten? Klar, gibt es genug, angefangen bei den täglichen Nahrungsmitteln. In diesem Jahr haben wir zum Beispiel besondere Probleme mit dem Gemüse. Wir haben zuviel Gurken, Kohl, Mohrrüben und dergleichen. Das wird schon an die Schweine verfüttert. Es liegt an den Finanzen. Die Realisierung geht nur schwer vor sich. Die Leute haben zu wenig finanzielle Möglichkeiten zu kaufen. Das wirkt sich schon auf die Finanzen der Kolchose aus.“

…na finanzogo kolchosa vlijajet

Erzähler:     Dazu kommen die Steuern: 60% Prozent muß ein landwirtschaftlicher Betrieb abführen.
Kommt Pjotr Nikiferow da nicht in Versuchung, falsche Zahlen anzugeben, wenn er als Direktor des Kolchos beim Administrator des Dorfes die Steuern erklären muß? Man sollte meinen, diese Frage, brächte ihn in Verlegenheit, weil er sich als Dorfzar hingestellt sieht. Aber der Gefragte lacht auch jetzt wieder gemütlich:

O-Ton 31: Administrator, Forts.            (0,51)
(613 (lachen) – 623)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, die Steuern der Kolchose werden auf einem Konto gesichtet. Wieviel zu zahlen ist, ist ja bekannt. Das überweisen wir. Es gibt ja auch eine Steuerinspektion bei uns, eine Steuerpolizei. Wenn die Gesetze mißachtet werden, kommen sie sofort. Da gibt es eine hohe Strafe. Es ist eine große Verantwortung. Was das Gebiet betrifft, so fallen da wenig Steuern an, vor allem Bodensteuer, kleine Summen nur.“

..ne bolhschaja summa

O-Ton 32: Administrator, Forts.            (1,40)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Aber „kranke Frage“ gebe es viel, bricht es dann doch aus ihm hevor, lauter noch als der Trecker:

Übersetzer:     „Die ganze Perestroika! Wie soll ich sagen? Die Fabriken stehen. Die Industrie arbeitet nicht. Maschinen für die Landwirtschaft werden nicht angeboten. Und wenn. dann sind sie sehr teuer, von mangelhafter Qualität. Früher haben wir aus Deutschland, aus der DDR Maschinen bekommen, die waren langlebig und von guter Qualität. Aber jetzt? Unsere? Mist!. Das ist das eine. Das andere ist die Disproportion der Preise zwischen den landwirtschaftlichen Produkten und den Maschinen. Im Ergebnis gab es keine Erneuerung der Technik in den letzten Jahren. Wenn  man die Kolchosen und Sowchosen des Bezirks betrachtet, dann hat kaum jemand Maschinen, Traktoren, Mähdrescher gekauft. Und wenn wir weiter so leben, ohne die Maschinen zu erneuern, dann gibt es in zwei, drei Jahren nichts mehr zu arbeiten, vermutlich.“

… nitschen ostajotsja nawerna (direkter Anschluß)

Erzähler:     Vom Leiter hänge natürlich in solchen Zeiten viel ab, relativiert Pjotr Nikiferow seinen Ausfall gleich wieder. Man könne einigermaßen existieren, wenn der Leiter aktiv sei. Das ist Michail Juchmas zweites Stichwort nach dem der „obschtschina“:

O-Ton 33: Michail Juchma            (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz     stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Siehst Du, jetzt werden die Schwierigkeiten von den Leitern aufgefangen. Von solchen, die es gewohnt sind, selbst zu arbeiten, nicht per Auftrag. Früher achtete jeder Leiter nur darauf, was das Bezirkskomitee sagt, das Gebietskomitee. Jetzt sind solche Leiter untendurch. Warum baut unser Dorf? Das hat es ihm zu verdanken, weil er genau weiß, was zu tun ist, wie es zu tun ist! Er sucht selbst Auswege. Er fährt selbst hinaus, er verhandelt selbst. Er sucht selbst die Leute auf, mit denen zusammenzuarbeiten ist.“

…nada rabotats

Erzähler:     Die Dorfgemeinschaft auf der einen, der starke Leiter neuen Typs auf der anderen Seite, der sich auch um das Wohl des Dorfes auf dem Markt kümmert. Das ist es, was Michail Juchma mir zeigen wollte. Und in Verbindung dieser beiden Elemente bekräftigt der so Gelobte in den dafür typischen russischen Sprachwendungen, in denen „Ich“ und „Wir“ nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind:

O-Ton 34: Adimistrator             (0,47)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „So leben wir einigermaßen. Wir haben Straßen gebaut in diesem Jahr. Auch die Elektrifizierung haben wir erneuert. Im nächsten Jahr wir die Heizung schon elektrisch sein. Trotz allem arbeiten wir irgendwie…“

Regie: kurz stehen lassen, abblenden,, nach Erzähler wieder hochziehen und auslafen lassen

Erzähler:     Mit diesen Worten verabschiedet Pjotr Nikiferowitsch sich. „Es ist ein reiches Volk“, präzisiert er später im Büro seine Alternative, „man muß ihm die Chance geben, die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln: nicht so viel importieren, sondern die eigenen Produkte vor Ort stützen.“
Damit ist aus der Sicht des Dorfschulzen gesagt, worüber die Wahl des Präsidenten in ein paar Wochen entscheiden soll.

…Fahrtgeräusche

gesendet:  Radio Bern

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