Rußland im Schock Folgen des Kosovokrieges für Rußland

O-Ton 1, Bobby 1/1: Musik vom Lautsprecherwagen    3,23
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, ggflls. zwischendurch hochziehen, nach Erzähler hochziehen, verblenden

…Gemurmel, Takt, Musik…

Erzähler:
Moskau. 1. Mai 1999. Antifaschistische Lieder. Patriotische Parolen. Zum traditionellen „Prasdnik“, dem revolutionären Festtag, hat die Kommunistische Partei ihr patriotisches Umfeld aufgerufen. Zur alternativen Maifeier rief die vom Moskauer Bürgermeister  Juri Luschkow gegründete Organisation „Vaterland“, zusammen mit den Moskauer freien Gewerkschaften auf. Patriotisches busyness as usual mit Blick auf die bevorstehenden Dumawahlen wäre das noch vor zwei Monaten gewesen, denn beide Blöcke bereiten sich zur Wahl der neuen Duma vor. Juri Luschkow gilt wie der Vorsitzende der KP, Gennadi Szuganow, darüberhinaus als Anwärter für die Nachfolge des Präsidenten.
Aber diesesmal ist alles anders als in den Vorjahren, in denen man gegen kriminelle Privatisierung, gegen nicht gezahlte Löhne und andere negative Begleiterscheinungen der Jelzinschen Innenpolitik protestierte. Diesesmal stehen beide Züge unter der alles überragenden Hauptforderung: „Stoppt den NATO-Krieg in Jugoslawien jetzt!“ Eine patriotische Front gegen das, was in der russischen Presse der Wahnsinn des Westens genannt wird, scheint über die
Lager hinweg zu entstehen.

O-Ton 2, Bobby 2/1: Teilnehmer des Zuges    1,00
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „Vietnam“ vorübergehend hochziehen

Erzähler::
„Ja dumaju…
„Man muß den Krieg sofort beenden“, meint dieser Mann, Pensionär, Teilnehmer im kommunistischen Block, auf die Frage, was das Wichtigste an diesem Tag sei, „denn wenn erst ein Landkrieg beginnt, werden die Jugoslawen kämpfen wie einst unsere Partisanen im zweiten Weltkrieg. Das wird ein Volkskrieg, ein neues Vietnam.“
…i nowi Vietnam.“

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Er verstehe diesen Krieg nicht, sagt der Alte. Daß zwölf große Staaten in dieser Weise über einen kleinen herfallen könnten! So würden doch nur neue  Probleme geschaffen: Hunger, Epidemien, Katastrophen! Im Übrigen würden ja nicht nur die Serben, auch die Albaner betroffen und so werde es weitergehen. Wer Schuld daran sei? Die USA, Clinton! Europa müsse sich von Amerika befreien, Schluß machen mit der Zerstörung, Deutschland müsse entsprechende Zeichen setzen.

Erzähler:
Von der Seite her mischt sich diese Frau ein:

O-Ton 3, Bobby 1/2: Gruppe im Demonstrationszug    1,41
Regie: Verblenden, stehen lassen, unterlegen, zwischendurch hochziehen, am Ende hochziehen und verblenden

Erzähler:
„…samie glownie prekratit voinu…
„Ja,  das Allerwichtigste ist, den Krieg zu beenden“, sagt die Frau, „aber das Zweite ist, Jelzin zu stürzen, der eine Schande für unser Volk ist. Jugoslawien stirbt! – und er kann keine Waffen liefern, weil er alles verkauft hat!.“
„Sie sind alle Verräter“, wirft eine andere Frau ein.
„Sie machen den Krieg, um die Adria in die Hand zu kriegen,“ fährt die erste Frau fort, „danach nach Rußland vorzudringen und dann die ganze Welt zu beherrschen. Verstehen Sie, daß ist ja ein weltweites Banditentum.
„Ruhe! Ruhe!“, mahnen einige Umstehende. „Was heißt Ruhe“, erwidert die Frau, „wir sind ein patriotisches, sind ein ehrliches Volk hier in Rußland, wir haben große Erfahrung. Jetzt können wir nicht ruhig schlafen, es ist uns peinlich vor dem jugoslawischen Volk, daß wir ihm nicht helfen können, weil alles in den Händen Jelzins liegt. Jelzin ist ein Verräter, ein gewissenloser Schurke, einfach ein Feigling, ein Sklave Clintons.“
… Clintona.“

O-Ton 4, Bobby 2/2: Mann    0,30
Regie: Verblenden, kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, kurz hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Satschem vam eta nuschna…
. „Wofür habt ihr Deutschen das nötig“, fällt ein Mann ein, der den ausländischen Korrespondenten erkannt hat. „Sie waren doch schon einmal in Jugoslawien. Da hat es Massenhinrichtungen gegeben; man hat Köpfe abgeschlagen; es gibt Fotografien. Noch heute gibt es Orte, wo kein Deutscher hingehen darf. Wofür müssen Sie das haben? Die Umstehenden nicken..
…wy Nemez…“

Erzähler:
Ein junger Mann im Block der Jungkommunisten antwortet auf die Frage, was Rußland in dieser Situation tun könne:

O-Ton 5, Bobby 1/3: Jungkommunist im Zug    0,29
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„Eta wapros, katorie…
„Die Frage betrifft natürlich die herrschende Elite, die keine eigenständige Politik zustandekriegt. Ich selbst schlage vor, daß eine militärische Hilfe geleistet wird und eine klare Doktrin für die Zukunft aufgestellt wird. Stellen Sie sich doch eine Erklärung vor, daß bei Fortsetzung der Bombardierung Belgrads durch die NATO, Rußland die Hauptstädte der NATO-Länder bombardieren wird. Das würde den Krieg sofort stoppen.“
.. astanavila voinu.“

Erzähler:
Eine junge Frau kommt von sich aus, um eine Erklärung abzugeben. Dieser Krieg sei eine Entlarvung des Westens, findet sie. Für Rußland aber habe er höchst unerwartete Auswirkungen:

O-Ton 6, Bobby 2/3: Junge Frau im Zug    1,50
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzerin:
„Wy snaetje…
„Niemand von uns hat wohl erwartet, daß schon in der ersten Nacht nach Beginn der NATO-Agression zig Dutzende von jungen Leuten sich vor der amerikanischen Botschaft sammeln würden, von denen es ja immer heißt, daß sie bereits in diesen neuen Werten aufgewachsen seien. Auf einmal zeigt es sich, daß das alles nicht so einfach ist. Ich war selbst da. Da tauchten Plakate auf mit der Aufschrift: `Keine Angst Russen, die Serben sind mit Euch!´ Das ist natürlich bittere Ironie, aber darin zeigt sich, daß die Situation selbst unter jungen Leuten Patriotismus entstehen läßt. Sogar unsere Hacker haben sich eingeklinkt. Diese Tragödie wird nicht nur das russische Volk, sondern auch alle anderen Völker Rußlands zusammenführen; ich hoffe daß wir unsere Probleme ohne IWF und ohne Nadelstiche der NATO lösen können. Wir haben ja, Gott sei Dank, noch die Atomwaffen.“
…jaderne arusche“

Erzähler:
Solche Töne bleiben nicht unwidersprochen. Ein älterer Mann, fleckig im Gesicht, kommt heran:

O-Ton 7, Bobby 1/4: Tschernobyl „Liquidator“    0,58
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
10/B/670: „Ja chatil bi skasats…
„Ich würde gern einige Worte sagen. Ich bin erstens Physiker und zweitens
Liquidator von Tschernobyl, also einer von denen, die die Katastrophe unmittelbar bekämpften. Ich bin extrem beunruhigt durch die Situation, die sich gegenwärtig in Rußland, in Europa und in der Welt aufbaut. Die barbarische Bombardierung Jugoslawiens provoziert eine gewaltige ökologische Katastrophe in Europa. Explosion  chemischer Fabriken, Ölproduktion; die Raketen fliegen zudem über die Atomkraftwerke in Bulgarien, Unfälle sind zu befürchten.

O-Ton 8, Bobby 2/4: Platz, Sprüche vom Lautsprecherwagen    0,40
Regie: Verblenden, ganz allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen, verblenden

Übersetzer: (O-Ton 7: Forts.)
Aus meiner Sicht kann  es nur eines geben: Sofort die Bombenflüge einzustellen und alle Probleme auf dem Weg der Verhandlungen zu lösen, statt Mittel einzusetzen, die am Ende des 20. Jahrhunderts eine irrsinnige Barbarei sind.“
…nje moschet.“

Regie: O-Ton 8 hier hochziehen, kursz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Auf dem Kundgebungsplatz allerdings wird mächtig angeheizt: „Tod dem NATO-Faschismus! Nieder mit dem amerikanischen Terrorismus! Nie wieder deutscher Faschismus!“ brüllt der Sprecher. „Nieder mit der NATO! Keine Bombardierung Serbiens!. Es leben die jugioslawischen Brüder!“
…Hurra!“

O-Ton 9, Bobby 1/5: Gennadi Szuganow    1, 40 (?)
Regie: Verblenden,  kurz stehen lassen, unterlegen, zwischendurch beliebig aufblenden, am Schluß hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Hurra! Uwaschaemi Dusija…
Auch der Parteisekretär Gennadij Szuganow, heute wie immer bei solchen Anlässen der Hauptredner,  ist mehr um Agitation als um Erklärungen bemüht:

Übersetzer:
„Liebe Freunde, ich gratuliere zum 1. Mai: Arbeit, Frieden und Solidarität bezeichnen den Kern unseres Festes. Frieden haben wir  heute nicht. Die Faschisten der USA haben sich das Recht genommen, Ziele auf dem Planeten auszusuchen. Sie wählten das brüderliche Jugoslawien. Zwanzig Jahre davor haben sie vietnamesische Dörfer zerbombt, vor wenigen Monaten bombardierten sie den Irak. Ihnen gefallen heute die Völker nicht, die eine Politik der Gerechtigkeit führen, die ihr eigenes Gesicht haben, ihren eigenen Willen und das Verlangen, nach eigenen Gesetzen zu leben.
Clinton und Solana sprechen von Gesetzen, aber selbst umgingen sie die UNO und den Sicherheitsrat. Sie sprechen von Menschenrechten, aber werfen Bomben auf alle, die in Jugoslawien leben. Sie sprechen von Ökologie, aber selbst setzen sie Ölraffinerien und chemische Fabriken in Brand. Sie sprechen von einem einigen Europa, aber selbst bombardieren sie das einige Europa,  weil ein einiges Europa Hauptkonkurrent für Amerika geworden ist. Wir müssen unsere Stimme für unsere Brüder in Jugoslawien erheben: Wir sind mit Dir, jugoslawisches Volk, wir tun alles, um den Brand auf dem Balkan zu beenden. Sei Gegrüßt, kühnes und brüderliches Jugoslawien!“
…Hurra!

Erzähler:
Gleich nach dem Beifall fährt Szuganow fort:

O-Ton 10, Bobby 2/5 Szuganow, Forts.    1,40 (?)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Samaja glawnaja…
„Der Hauptgrund für den Krieg auf dem Balkan sitzt gleich hier nebenan im Kreml: Boris Jelzin, der außer vom Trinken und vom Desorganisieren der Wirtschaft des Landes nichts versteht. Er und Gorbatschow haben das große sowjetische Vaterland zerstört. Sie haben Millionen unseres Volkes heimatlos gemacht. Wenn heute von Balkanflüchtlingen geredet wird, dann  muß man sagen: damals hat es keine Flüchtlinge gegeben und jeder Mensch lebte ruhig und sicher. Warum hat man nicht Gorbatschow oder Jelzin bombardiert, als sie Millionen von Flüchtlingen zu verantworten hatten? Allein aus Tschetschenien sind Dreißigtausend geflüchte; in unserem Vaterland gibt es fast 15 Millionen Hungernde, 20 Millionen Arbeitslose, 130 Millionen unzureichend gekleidete und alle durchweg im Elend. Heute werden von der NATO die als Ziele ausgewählt, an denen man zeigen kann, was man mit den anderen macht, die nicht nach den Regeln der NATO leben wollen. Aber nein, meine Herren Amerikaner, wir werden nicht nach ihren Gesetzen leben. Sie wollen, daß wir ihre Filme sehen, daß wir ihre Waren kaufen, sie wollen, daß wie denken, wie es ihnen gefällt. Aber das wird nicht geschehen. Das Volk wird sich dem nicht beugen. Deshalb sage ich: Nein zum Faschismus! Das Volk wendet sich gegen solche Agression! Der erste Schritt dazu ist der Rücktritt Boris Jelzins.“
…Jelzina.“

O-Ton 11, Bobby 1/6:Musik    1,46
Regie: Nach Stichwort „Jelzina“ einblenden, Musik kurz frei stehen lassen, dann allmählich abblenden

Erzähler:
Die seit Jahren vorgetragene Kritik aus dem Lager der Reformgegner an dem von ihnen beklagten Ausverkauf Rußlands an den Westen findet in diesen Positionen Szuganows ihren Höhepunkt. Die Bomben der NATO drohen die Gefühle der nationalen Erniedrigung gegenüber einem aus dem kalten Krieg siegreich hervorgegangenen Westen in ein Verlangen nach Revanche zu steigern, das an die deutschen Stimmungen nach dem Friedensschluß von Versailles gemahnt.
Was in Parteireden noch verhalten erscheint, tritt im Umkreis  Szuganows offen hervor, so etwa bei Alexander Prochanow. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Mit Szuganow zusammen gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Wirkung der jugoslawischen Ereignisse auf Rußland mit den Worten:

O-Ton 12, Bobby 1/7Alexander Prochanow    1,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Auf Pressekonferenzen verurteilt Szuganow die nationalistische Politik Miloševiç` und fordert Verhandlungen. Von militärischer Unterstützung keine Rede. Den in den ersten Tagen des Krieges erhobenen Ruf nach Entsendung russischer Freiwilliger ins Kosovo widerholt er öffentlich nicht. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.

O-Ton-13, Bobby 2/6: Bürgermeister Luschkow    0,50 (?)
Regie: TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Die patriotische Welle ist damit aber keineswegs ausgelaufen. Mit Kritik an der Regierung endete auch die Demonstration, an deren Spitze sich Juri Luschkow mit der von ihm gegründeten Organisation „Otstschetswo“, Vaterland gestellt hatte. Im abendlichen Fernsehen, das am 1. Mai über beide Demonstrationen gleichermaßen berichtete, vor allem über deren Protest gegen den Krieg in Jugoslawien, wurde der Bürgermeister mit dem Satz zitiert:

Regie: Kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladawitzja.“

Erzähler:
Das klingt wenig provokativ, fast unpolitisch. Bei einem Besuch im Stabsquartier von „Otetschestwo“ klingen jedoch andere Töne auf, wenn PR-Chef Wladimir Martynow erläutert, wie Juri Luschkow als zukünftiger Präsident Rußlands sein „Modell Moskau“ auf das ganze Land übertragen will.
Schon bei der Erläuterung der Konsequenzen, die aus dem Bankenkrach vom 17. August 1998 folgen, sind die vaterländischen Töne nicht mehr zu überhören:

O-Ton 14, Bobby 2/7: Wladimir Martynow    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja zelekom und polnesto uveren…
„Ich bin voll und ganz überzeugt davon, daß das Ziel Rußlands, ein unteres, ein kleines Ziel darin besteht, eigene Hühnerbeine hervorzubringen, statt Hühnerbeine aus Amerika einzuführen. Wir müssen eigene Chips haben und nicht französische oder italienische. Wir sollten  unsere eigenen Makaroni herstellen und nicht italienische Spaghetti. Mögen auch die russischen Makaroni Spaghetti heißen. Wenn wir in New York hergestellte Pelmenije, unsere nationalen Teigtäschchen, nach Moskau oder in andere russische Städte bringen, dann geht das schon ins Absurde. Ich habe nichts gegen Makaroni, die nach italienischen Rezepten gemacht werden, wenn sie nur in Moskau, wenn sie nur von russischen Arbeitern hergestellt werden, die dafür Lohn  bekommen.“
…sarplatu.“

Erzähler:
Soweit, so alltäglich in einem Land, für dessen Regierung die wichtigste Aufgabe inzwischen darin besteht, den volkommenen Zusammenbruch der eigenen Produktion zu verhindern. Die Begründung, die Martinow für seine Forderung nach verstärkter Entwicklung heimischer Produktion gibt, führt jedoch unvermutet mitten in den jugoslawischen Krieg:

O-Ton 15, Bobby 2/8: Forts., Martinow    1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Sravnitelni nje dawna…
„Vor relativ kurzer Zeit erschien ein Gesetz über Produktionssicherheit. Die Sache ist so: Heute hängen einige Regionen zu mehr als zwanzig oder gar dreißig Prozent von ausländischen Produkten ab. Die Sicherheit eines Landes ist aber, so stellt das Gesetz fest, nur noch bis zu siebzehn Prozent gewährleistet. Was bedeutet das heute, wo USA oder ihre NATO-Verbündeten ein Embargo gegen Jugoslawien verhängen? Das  bedeutet, daß wir gezwungen sind, das Embargo der NATO-Länder zu unterstützen – wenn wir nicht selbst von Embargos getroffen werden wollen. Für die Regionen, die von westlichen Embargos betroffen würden, hieße das nämlich zu verhungern. Mir scheint daher, das Ziel Rußlands muß sein –  wie jedes beliebige Land des Westens – sich selbst mit Produkten so zu versorgen, daß es wirklich reicht.“
…jewo dewat.“

Erzähler:
Das ist, wie zurückhaltend auch formuliert, nichts anderes als die Forderung nach russischer Autarkie. Heute, so Martinow weiter, sei Rußland abhängig vom Westen, aber das könne sich durch den Krieg selber ändern.

O-Ton 16, Bobby 2/9: Martinow, Forts.    0,40
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„K ssoschellennije…
„Bedauerlicherweise könnte der Westen hier wie dort, in Jugoslawien, ebenso wie in Rußland ganz und gar nicht das erhalten, was er sich als Resultat der Bombardierung erwartet. Das Bombardement ist ja nicht nur ein Bombardement Jugoslawiens; es ist ja ein Bombardement Rußlands und der Beziehungen zu Rußland und dem Westen. Eine Fortsetzung solcher Aktionen seitens der NATO wird den Rückzug Rußland von den Ländern der NATO nach sich ziehen.“
…sapadem sotrotschestwo.“

Erzähler:
Bei Michail Nagaitzew, dem Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaft, bekommt dieses Bild noch weitere Farbe: Nagaitzew, 1991 Radikaldemokrat im Gefolge Jelzins, ist seit deren Gründung Mitglied in Juri Luschkows „Otetschestwo“. Bürgermeister und Gewerkschaftspräsident haben einen Pakt für Arbeit geschlossen, der sich in gewerkschaftlich unterstützten städtischen Programmen der Arbeitsbeschaffung niederschlägt. Bei Michail Nagaitzev ist Erstaunliches zu erfahren: Zunächst geht es um den Bankenkrach vom 17. Augst des Jahres 98. Er habe zwar die allgemeine Armut in Rußland erhöht:

O-Ton 17, Bobby 2/10: Michail Nagaitzev    1,10
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Als Ergebnis aber wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Die Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann auch andere Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Davor lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Rußland, so Michail Nagaitzew, habe auf diese Weise einen Schritt zur Abkoppelung vom Tropf der westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 18, Bobby 2/11: Nagaitzev, Forts.    0,25
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Auf zweifelnde Nachfrage hin konkretisiert er, nachdem er sich zuvor persönlich vom serbischen Nationalismus ebenso wie von der NATO distanziert hat:

O-Ton 19, Bobby 2/12: Nagaitzew Forts.    1,15
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A potsche mu njet…
„Und warum denn nicht? Clinton hat anderthalbtausend Raketen abgeschossen. Die müssen ergänzt werden. Morgen werden General Motors und all die anderen ihre Aufträge erhalten. Genauso kann Rußland auftreten, oder?
Ein Land wie Rußland muß ebenfalls eine Rüstungsindustrie auf hohem Nievau haben, sie ausbauen und sie entwickeln. Für die eigene Sicherheit. Damit nicht, Gott bewahre, morgen auf den Fernsehturm am Ostankino irgendeine Rakete niedergeht. Soll Rußland Waffen verkaufen? Es soll. Soll es Leitsysteme verkaufen? Ja, es soll. Das Problem ist nur, gegenwärtig ist es nicht so: Die USA, Frankreich  – nun wir wissen, daß der Markt nach dem Ende der Sowjetunion aufgeteilt ist.“

Erzähler:
Aus realen Konflikten aber solle Rußland sich heraushalten, findet Michail Nagaitzev. Dafür sei es heute nicht reich genug.
…obrasim utschatstewats.“

Erzähler:
Der dritte und letzte Zeuge auf  der Linie der Pragmatiker ist Anatoli Baranow. Auch er war Anfang der 90er Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt.

O-Ton 20, Bobby 2/13: Anatoli Baranow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt Anatoli Baranow. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und  andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“ Auch Baranow sieht jedoch im Bankenkrach vom  August `98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 21, Bobby 2/14: Baranow, Forts.    1,24
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber sie bilden sich. Es geschieht vor allem im Namen der jungen Leute. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden. Sie wollen eine gute Ausbildung, wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht Baranow sich gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur deutlicher:

O-Ton 22, Bobby 2/15: Forts. Anatoli Baranow    0,30
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Mit solchen Ausführungen ist der Kreis zum Lager Gennadij Szuganows und seiner Freunde idelogisch geschlossen, auch wenn man sich politisch in getrennten Marschsäulen bewegt und vermutlich auch weiter bewegen wird. Zu groß ist immer noch die atomisierende Dynamik aus der Explosion des früheren sowjetischen Monolithen, als daß eine patriotische Front Rußland morgen auf einen geschlossenen nationalistischen Kurs bringen könnte. Mit  jeder NATO-Bombe aber, die auf Jugoslawien niederging, sind die Vorraussetzungen
dafür gewachsen. Kein Wunder also, daß Rußlands Demokraten zu den schärfsten Kritikern des NATO-Bombardements gehören:

O-Ton 23, Bobby 2/16: Alexander Simonow    1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Samije chutsche…
„Das Schlimmste, was die Bombardierung. Jugoslawiens für Rußland gebracht hat, ist die moralische Rechtfertigung des krassesten Nationalismus, des Panslawinismus und der kommunistischen Revanche. Selbst die dürftigsten nationalistischen Politiker verwandeln sich plötzlich in bissige Feuervögel. Der Krieg hat ihnen eine Perspektive eröffnet. Nach der ersten Woche hat sich die allgemeine Euphorie des Mitleids ein bißchen gelegt. Aber man kann sagen: In Rußland liebte man schon immer die Notleidenden, in Rußland stand man immer auf der Seite der Gekränkten und in diesem Sinne diese fielen diese äußerst unangenehmen Samen auf einen sehr fruchtbaren Boden. Deshalb wurde es für die Leute, die ein normales, demokratisches Rußland haben möchten, um sehr vieles schwieriger hier zu leben und zu arbeiten. Innerhalb eines Monats!“
…tetschenije mezez

Erzähler:
Der Mann, der so spricht, ist Alexander Simonow, Leiter der „Stiftung zum Schutze von Glasnost“, der entscheidenden Institution Rußlands zur Förderung und Verteidigung der Presse- und Medienfreiheit. Die Stiftung wurde 1991 mit amerikanischen Hilfsgeldern gegründet und lebt bis heute von europäischen und amerikanischen Spendengeldern. Sie gehörte mit zu den schärfsten Kritikern des Krieges in Tschetschenien. „Was gibt uns die Garantie“, fragt Simonow, „daß ein neues Tschetschenien  morgen nicht genauso beantwortet wird?“
Simonow versteht die Welt nicht mehr. Miloševiç ist für ihn ein Verbrecher. Da kennt er keine Diskussion. Aber die Bombardierung des TV-Zentrums in Belgrad lag für ihn jenseits dessen, was er von seinen amerikanischen Freunden hinzunehmen bereit ist:

O-Ton 24, Bobby 2/17: Forts. Simonow    0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„No, jesli ani destwujut..
„Wenn sie mit genau denselben Mitteln agieren, dann hört für mich die Logik auf , dann wird eine andere Logik dahinter erkennbar. Dann heißt das, da gibt es Gründe, die man uns nicht nennt. Jemand ist interessiert daran, daß Jugoslawien, ganz Jugoslawien eine black box wird. Miloševiç  unterdrückt die Presse im Lande, aber die NATO unterbindet überhaupt jegliche Informationsgewinnung auch ihrer eigenen Leute.“
…swoiimi  kampagnami.“

Erzähler:
Andere überzeugte Westler flüchten sich in den Sarkasmus. So Dima Pinsker politischer Kommentator an der Zeitschrift „Itogi“, die als Coproduktion des US-Magazins „Newsweek“ und in Verbindung zu der gleichnamigen Sendung des russischen Fernsehens NTW in Rußland erscheint. Gegner bezeichnen Sender und Zeitung als Agenturen des CIA. Nach der Feststellung, die Bomben der NATO trügen nur dazu bei, die Solidarität der Serben mit Miloševiç zu erhöhen, wie die russischen seinerzeit die Solidarität mit Tschetscheniens Präsident Dudajew erhöht hätten, zitiert er einen Kollegen zustimmend mit dessen Fazit:

O-Ton 25,  Bobby 2/18: Dima Pinsker    0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblen den, unterlegen, hochziehen, abblenden
.
Übersetzer:
„Ransche mi..
„Früher haben wir geglaubt, daß nur in Rußland Idioten an der Macht seien, jetzt wissen wir, daß bedauerlicherweise genau solche Idioten in Washington sitzen. Das ist ziemlich unangenehm, denn die liberal ausgerichtete Schicht Rußlands hat sich die ganze Zeit nach Amerika, nach Europa orientiert.
…na ewropu.“

Erzähler:
Dies ist auch der Tenor, den Viktor Makarow anschlägt, Professor der Psychologie in Moskau, der sich seit der Öffnung der Sowjetunion um die Verbindung russischer und westlicher Traditionen der Psychologie und Psychotherapie bemüht:

O-Ton 26, Bobby 2/19: Viktor Makarow    1,10
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblen den, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nascha strana…
„Unser Land hat die Auswirkungen dieses Krieges bisher noch gar nicht erfaßt.. Die Intelligenz befindet sich im Schockzustand. Sie hat sich in den letzten Jahren sehr nach Amerika orientiert. Jetzt führt der Westen Krieg gegen Jugoslawien. Das ist für uns unerwartet und unerklärlich. Das Schlimmste daran ist, daß das Bild der westlichen Welt in den Augen unserer Bevölkerung zerstört wird und die westliche Welt für uns agressiv wird, hoffnungslos. Das ist für mich als Mensch, der sich an einer Gesellschaft nach westlichen Vorstellungen orientiert, das Unangenehmste. Das Ganze bedeutet., daß die Entwicklungen sich mehr eigenen, russischen, nachsowjetischen Vorstellungen, Methoden usw. zuwenden wird und weniger Möglichkeiten des Austausches mit dem Westen bestehen.“
…kontaktow sapadem.“

Erzähler:
Die Angst vor einer solchen Entwicklung ist umso größer, je weiter die Entfernung vom Zentrum Moskau ist. Professor Gennadi Kolotirin aus dem fernen Charbarowsk, zu einem von Viktor Makarow organisierten allrussischen Psychologenkongreß  unter der Frage: „Psychologie im Übergang zum nächsten Jahrtausend.“ eigens nach Moskau angereist, formuliert das so:

O-Tron 27,  Bobby 2/20: Prof. aus Charabarowsk    1,26
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwei 0,50 nach Übersetzer zwischendurch hochziehen,  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Konjeschna, nje smotrja na to…
„Selbstverständlich hat der Krieg Auswirkungen auf uns. Ungeachtet dessen, daß wir im fernen Osten leben, daß uns Japan, China, Korea und die USA näher sind, berührt uns die Frage sehr, weil wir besonders empfindlich sind für separatistische Entwicklungen. Aus der Geschichte ist ja bekannt, daß der Ferne Osten stolz darauf war, eine unabhängige Republik zu sein. Er hatte seine spezielle Pufferrolle  gegenüber Japan. Einige unserer Alten erinnern sich noch selbst daran. Deshalb waren wir sehr beunruhigt, als die Sowjetunion zerfiel, daß in Rußland separatistische Tendenzen entstanden. Die jugoslawischen Ereignisse berühren uns daher äußersten Maße.“
…sadevajut.“

Erzähler:
„Worin unterscheidet sich Serbien von Tschetschenien?“, fragt auch der Professor aus Chabarowsk, „worin der Kaukasus vom Balkan oder von Zentralasien? All diese Gebiete sind Übergänge zum nahen Osten mit alten Verwandschafts- und Völkerbeziehungen. Überall glimmen dieselben Konflikte. Heute bombardiert die NATO Jugoslawien. Wozu ist sie morgen bereit? Deshalb sind bei uns alle katagorisch gegen das Vorgehen  der NATO und für Regelungen durch die UNO.“
…gatownost.“

Erzähler:
Die Vorstellung, der Krieg in Jugoslawien könne sich in einer Balkanisierung des Vielvölkerstaates Rußland fortsetzen, ist die größte Sorge in der russischen Bevölkerung. Weit entfernt von solchen Ängsten ebenso wie vom Hurra-Geschrei der Nationalisten machen Rußlands Analytiker eine verblüffend ruhige Bestandsaufnahme der Situation: Nehmen wir Jussef Diskin, Soziologe, der jüngeren Generation, der unter anderem  demografische und soziale Studien für die Russische Zentralbank durchführt: Die Bombardierung Serbiens nennt er geradeheraus eine Dummheit des Westens. Clinton, witzelt er, habe vielleicht zuviele Sexpostillen und Western gelesen. Das Resultat dieses Krieges werde jedenfalls, da stimme er der Erwartung von „Otetschestwo“ zu,  dem entgegengesetzt sein, das der Westen, speziell Amerika, davon erwarte:

O-Ton 28, Bobby 2/21: Jussef Diskin     1,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Na moi wsglad…
„Aus meiner Sicht, wenn´s auch zynisch klingt, sind die Ereignisse auf dem Balkan für Rußland äußerst nützlich. Und zwar aus verschiedenen Gründen.  Erstens haben sie die ideologische Verfaßtheit unseres Landes verändert. Gab es davor nur Sozialisten oder Demokraten, also Westler, das heißt, Gegner oder Befürworter der Reform, so haben wir jetzt drei politische Plattformen: Erstens Westler, zweitens Ultranationalisten und drittens gemäßigte Nationalisten. Neue Energien für die Entwicklung einer gesunden Mitte von der Art Luschkows entstehen, die den Staat auf Kurs zwischen Abkoppelung und Anbindung an den Westen entwickeln können. Das Zweite ist: Der Westen ist gezwungen die Bedeutung Rußlands neu wahrzunehmen. Nach dem 17. August  war Rußland für den Westen ja schon fast am Horizont verschwunden. Jetzt hat es, zusammen mit China, seine Rolle als Vertreter einer anderen als der von der NATO favorisierten One-World-Ordnung angetreten. Es steht für eine entstehende multipolare Welt.“

O-Ton 29, Bobby 1/8: Rock am roten Platz    1,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Beifall, Musik
Was Diskin formuliert, ist in Rußland zur Zeit analytischer Konsens und als wollte er eben dieses praktisch beweisen, läßt Bürgermeister  Juri Luschkow am Abend des 1. Mai ein Rockkonzert „Stop NATO“ an den Mauern des Kreml  organisieren. Der Zuspruch ist überwältigend: Zu Tausenden strömt Moskaus Jugend auf den Platz. Niemand fordert hier eine militärische Lösung, aber auch niemand ist hier bereit, eine Unterordnung Rußlands unter die NATO zu akzeptieren. Unter dem Einfluß dieses Krieges wächst hier, da ist den Analytikern zuzustimmen, ein Rußland heran, das Kraft aus seiner Rolle als Vermitller des Weltfriedens und für die friedliche Herausbildung einer neuen Weltordnung zieht.

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