Russlands Wahl: Gibt es eine Opposition zu Putin?

Am 26.3. wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Das Wahlergebnis scheint bereits festzustehen: Nicht um Programme unterschiedlicher Kandidaten wird diskutiert, sondern für oder wider Wladimir Putin: Was bringt der Mann, der durch den Krieg in Tschetschenien populär wurde, für die Zukunft? Fortsetzung der Reformen, Abwendung vom Westen oder beides zugleich? Die Erwartungen sind so geteilt wie sein Programm offen nach allen Seiten ist. Gibt es eine Opposition gegen den neuen starken Mann? Parlamentarisch? Außerparlamentarisch? Wie setzt sie sich zusammen? Über diese Fragen berichtet Kai Ehlers direkt aus Moskau.

*
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies; das Überspielband beginnt mit B

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann am besten eine von den Einführungsszenen der Kundgebung.

Russlands Wahl:
Gibt es eine Opposition gegen Wladimir Putin?

O-Ton 1 A: Kundgebung der  Kriegsgegner     1,35
Regie: Musik langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Moskau. Vorwahlzeit. Ein „Antimilitaristisches Komitee“ hat zu einem „Meeting“ gegen den Krieg in Tschetschenien aufgerufen. Rund zweihundert Menschen versammeln sich unter einem Denkmal von Karl Marx in der Innenstadt. Spruchbänder und Tragschilder fordern den Schutz der Menschenrechte, warnen vor einer KGB-Diktatur; vereinzelt sind auch rote Fahnen zu sehen. Hauptadressat des Protestes ist Wladimir Putin. Er wird verantwortlich gemacht für den Krieg. An ihn, obwohl bisher nur vorübergehend amtierender Präsident, richten sich die Forderungen für eine sofortige Beendigung des Krieges und den Aufbau einer zukünftigen Zivilgesellschaft in Russland, als wäre die Wahl für den neuen Präsidenten schon entschieden. Gibt es keine Alternativen zu Putin? Oder entsteht doch eine neue Opposition? Ein Teilnehmer der Kundgebung, der sich als Mitglied einer „Vereinigung für revolutionäre Kontakte“ vorstellt, antwortet auf die Frage, was er zu diesem Problem denke:

O-Ton 1 B: Junger Mann     0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Musik, Snaetje, ja nje dumaju…
„Wissen Sie, ich denke nicht nur, dass es eine Opposition geben wird, ich weiß, dass es sie bereits gibt: Wir sind es! Ich zum Beispiel stehe in
Opposition zu Putin; die Leute da drüben ebenfalls. Wir können Ihnen gleich einen Flugzettel geben, den wir gegen Putin geschrieben haben.  Im Moment ist die Opposition gegen ihn klein, das ist ein Fakt. Bedauerlich. Aber Putin selbst wird dafür sorgen, dass sie wächst, Je stärker er seine Politik gegen das Volk richten wird, umso stärker wird die Position der Bevölkerung gegen ihn werden.
…0pposizia narodow.“, Musik

O-Ton 2 A: Weiterer Teilnehmer des „Meetings“    0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Budit, li…
„Ob es eine Opposition gegen Putin gibt? Ja, wird es wohl, wenn Putin den anderen Kräften weiterhin so wenig Raum lässt“, meint dieser Mann. Er ist gekommen, um gegen die Einschränkung der Pressefreiheit zu  protestieren, die sich an der Festsetzung des Kriegsberichterstatters Babizki durch die Armeeführung zeige. „Ich bin ebenfalls Journalist“, meint er, „wenn auch kein politischer. Morgen kann es mich treffen wie schon früher, als man nicht die Wahrheit über die Genforschung sagen durfte.“ Aber ob Putin wirklich den Kurs fortsetzen werde, den er jetzt eingeschlagen habe? „Er hat bisher kein Programm“, meint der Mann, “es ist alles nicht so ganz klar.“
…nje otschen.“ Trommeln

O-Ton 2 B: Trommeln    0,22
Regie : O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Die Trommeln  führen zu einer Gruppe gelbgekleideter buddhistischer Mönche, junge Russen mit einem japanischen Lehrer. Man sieht sie auch ohne Anlass mit ihrer Trommel durch Moskau ziehen. Heute verstehen sie sich als Bestandteil des „Meetings“. Bereitwillig erklärt der japanische Meister ihre Motive:

O-Ton 3 A: Buddhistischer Mönch     0,30
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We as buddhistic…
„Wir als buddhistische Mönche können nicht akzeptieren, was in Tschetschenien geschieht. Das ist ein wirkliches Verbrechen, ein sehr beschämendes Verbrechen gleich zu Anfang des 21. Jahrhundert. Und wir schließen uns diesem Meeting mit der Forderung an: Stoppt den Krieg in Tschetschenien! Hört auf die Menschen dort zu töten!“
… Tschetnja“, Musik

O-Ton 3 B: Plakatträger    1,00
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Eta moi litschni..
Dieser Mann hat sich ein Zitat von Montesquieu auf sein Tragschild geschrieben. „Die schlimmste Tyrannei“, übersetzt er, „ist diejenige, welche unter dem Zeichen des Gesetzes und der Flagge der Gerechtigkeit daherkommt.“ Was man denn wohl unter Diktatur des Gesetzes verstehen solle, die Putin ankündige? fragt er. Nur bei den Faschisten habe es so etwas gegeben. Selbstverständlich werde es eine Opposition gegen Putin geben! Es müsse sogar mehrere Oppositionen geben. Seine Partei, die „Pazifistische Assoziation“ gehöre dazu. Ja, und auch die Buddhistische Bewegung, natürlich.
…dweschennije”, Trommeln

Erzähler:
In einer Gruppe älterer Frauen ist man nicht so zuversichtlich. Die Frauen wettern gegen Wladimir Putins Kriegspolitik, gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Zusammenarbeit Putins mit den Kommunisten in der Duma. Sie fürchten eine neue KGB-Herrschaft. Schließlich komme Putin doch von dort. Doch an die Möglichkeit, dass eine Opposition gegen den neuen starken Mann entstünde, glauben sie nicht:

O-Ton 4 A: Frauengruppe    0,30
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, der Übersetzerin unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje budit…
„Nein, die wird es nicht geben“, meint eine der Frauen. „Bei der Uneinigkeit der Kräfte!“ ergänzt eine andere. „Leute, die wirklich verstehen, was in unserem Land heute geschieht, gibt s nur sehr wenige“, setz die erste fort.“ Da gibt es keinen wirklichen Weg. Aus meiner Sicht ist das einzig Richtige: Gegen alle zu stimmen. Ich kann keinen von denen unterstützen.“
… paderschewaju“, Musik

Erzähler:
In den Beiträgen vom Podium wird Klartext gesprochen. Das Wort zur Eröffnung hat die Rangälteste unter den sogenannten Menschenrechtsgruppen, Memorial. Bei Einsetzen der Perestroika Anfang der 1980er entstand die Gruppe direkt aus dem dissidentischen Untergrund heraus. In den Jahren unter Gorbatschow und Jelzin wuchs Memorial zu einer moralischen Instanz des neuen Russland heran, insbesondere durch ihre Aufarbeitung des Stalinismus. Jetzt sieht sich die Organisation wieder an den Rand gedrängt. Ihr Sprecher, Oleg Orlow, findet scharfe Worte gegen den aktuellen Kurs der Regierung, speziell gegen Wladimir Putin:

O-Ton 5 A: Oleg Orlow, Memorial    1,00
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nassilije, krow, losch…
„Gewalt, Blut, Lüge – ein Weg von der Unfreiheit zur Unfreiheit, von Imperium zu Imperium, vom zaristischen Imperium zum kommunistischen, vom kommunistischen zum heutigen, dem putinschen. Die letzten Ereignisse könnten uns dahin bringen zu glauben, dass Russland nicht fähig sei, aus diesem entsetzlichen Hexenkreis herauszutreten. Stattdessen sind wir aber hierher gekommen, um Nein zu sagen zu diesem Wahnsinn! Das `Antimilitaristische Komitee´, das dieses Meeting heute organisiert, vereint zwanzig politische Organisationen. Wir mögen in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, aber in einem sind wir einig: in der Forderung, diesen verbrecherischen Angriffskrieg sofort zu beenden.
… etu prestubnu woinu.“

Erzähler:
Von einem Angriffskrieg spreche er deswegen, erklärt der Redner, weil ein ganzes Volk mit Krieg überzogen und aus seiner Heimat vertrieben werde,  statt dass mit den Verbrechern tatsächlich aufgeräumt werde.
Von einem Angriffskrieg und von bewusster Irreführung der Bevölkerung durch die Regierung Putins, insbesondere durch die in Tschetschenien kriegführende Generalität, spricht auch der nächste Redner. Es ist eine offizielle Stimme, Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten:

O-Ton 6 A: Waleri Barschiow, Menschenrechtler    2,00
Regie:  O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,
bei 117 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dorogie drusja…
“Liebe Freunde, man hat uns anfangs gesagt, dass eine anti-terrorististische Operation durchgeführt werde. Natürlich haben wir alle diese Operation unterstützt, denn alle waren daran interessiert, dass dem Banditismus in unserem Lande endlich ein Ende bereitet wird. Man hat auch noch zugestimmt, als es hieß, dass ein sanitärer Kordon dafür nötig sei, dass das Militär den Terek überschreiten müsse. Aber das waren alles Lügen! Die Terroristen machten in aller Ruhe, was sie wollten; Bassajew zelebrierte in aller Seelenruhe eine Hochzeit mitten in Grosny, während rund herum unsere Truppen standen. Er lebte und war gesund und um ihn herum starben friedliche Einwohner. Nicht Banditen wurden in Tschetschenien verfolgt, sondern die  zivile Bevölkerung terrorisiert. Mitglieder der Sondertruppe ALPHA wurden kürzlich gefragt, ob sie in der Lage wären, den Auftrag zur Liquidierung der Terroristen zu erfüllen. `Ja, das könnten sie´, antworteten sie, `wenn ihnen eine solche Aufgabe gestellt würde; aber niemand habe ihnen eine solche Aufgabe gestellt.´“

Erzähler:
Nicht gegen den Terrorismus, sondern gegen den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft werde dieser Krieg geführt, fährt er fort und schließt mit den Worten: „Unser Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat das Land dem Militär eine Weiße Karte ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
…Faschism“, Beifall

Erzähler:
Starke Worte findet Ludmilla Wrassowi vom Komitee der Soldatenmütter Russlands. Das Komitee erfreut sich starker moralischer Autorität, die noch aus ihrem erfolgreichen Widerstand gegen den ersten tschetschenischen Krieg von 1994 – 96 herrührt. Damals holten vom Komitee unterstützte Mütter ihre Söhne direkt aus dem Kampfgebiet nach Hause. Solche Aktionen sind heute nicht möglich. Heute sieht sich das Komitee darauf beschränkt, die künstlich niedrig gehaltenen offiziellen Opferstatistiken durch Angaben nach eigenen Recherchen zu korrigieren und durch Veröffentlichung der wirklichen Opferzahlen der Kriegsbereitschaft entgegenzuwirken:

O-Ton 7 A: Komitee der Soldatenmütter
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 113 vorrübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Nas wosmuschajet…
“Uns empört, dass dieser Krieg gegen unsere eigenen Bürger durch die Hände unserer Söhne geführt wird, achtzehn- und zwanzigjähriger Jungs. Uns empört, dass es unsere Kinder sind, die zehntausenden friedlichen Menschen den Tod bringen. Und das Erschreckendste: Sie lernen zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben im eigenen Land! Nach Kriegsrecht darf so etwas nirgends geschehen, aber besonders schlimm ist es, wenn es mit unseren eigenen Einwohnern geschieht. Wir sind kategorisch gegen eine Fortsetzung dieses Krieges! Wir sehen doch, wie diese Jungs zurückkommen. Der Staat lässt sie allein: keine Prothesen, keine medizinische Hilfe, keine Rehabilitierung, Pensionen zum Verhungern. Wenn solche Menschen, unfähig, ein eigenes Leben zu führen, dennoch eine Familie gründen – was bringen sie ihren Kindern bei?! Unterdrückung Anderer! Mißachtung der Menschenwürde! Was wird das für eine Gesellschaft!? Deswegen fordern wir von der Regierung, diesen Krieg einzustellen: Hört auf die jungen Männer Russlands zu vernichten.“

Erzähler:
„Und noch etwas“, fährt sie fort, „wenn wir eine professionelle Armee fordern, dann wird uns seit Jahren geantwortet, es gebe kein Geld, Russland sei wirtschaftlich nicht bereit, zu einer Berufsarmee überzugehen. Da möchte man fragen: Aber für diesen Krieg waren die Milliarden da?! Und für den vorherigen auch?! „Veranlassen wir also unsere Regierung, das zu tun, was wir wollen!“ schließt die Rednerin, „damit wir gesunde, junge Leute haben, glückliche Familien und gesunde Jugendliche. Anders wird Russland keine Zukunft haben.“
… buduschewa.“, Beifall

Erzähler:
Ganz aus der Deckung wagt sich Nicolai Kramow, der sich als Sekretär einer „Antimilitaristischen radikalen Assoziation“ vorstellt. Die Assoziation ist eine kleine Organisation, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Ungeachtet möglicher drastischer Folgen, die er zuvor beschreibt, ruft Kramow öffentlich zur Verweigerung des Kriegsdienstes auf:

O-Ton 8 A:Nikolai Kramow, Kriegsdienstverweigerer     0,40
Regie: (Achtung O-Ton sehr knapp!) Kurz stehen lassen, abblenden,  unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Beifall, “Nas otschen mala…
“Wir sind sehr wenige, umso wichtiger ist die Mission, die wir haben: Deshalb appelliere ich an alle Einberufenen, an alle jungen Bürger im einberufungsfähigen Alter: Verweigert den Kriegsdienst aus Überzeugung! Ich appelliere an alle Offiziere, Reservisten, Wehrpflichtige, die jetzt eingezogen werden sollen, um die Lücke in der Armee aufzufüllen, welche durch die Politik im Kaukasus geschlagen wurde: Verweigert Euch aus Überzeugung! Krieg in Tschetschenien – ohne uns, bitte!
… bes nas paschalsta!“

Erzähler:
Nikolai Kramow hat recht: Zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einer Kundgebung gegen den Krieg, zu der mehr als zwanzig Organisationen aufgerufen haben und die bekannt gemacht wurde durch den vielgehörten Stadtsender „Echo Moskaus“ – das ist ein mageres Ergebnis. Da ist man nahezu unter sich. Zu Zeiten des ersten Krieges in Tschetschenien waren es mehr Menschen, die protestierten, ganz zu schweigen von den Massendemonstrationen für Perestroika in den Zeiten Gorbatschows, der Volksbewegung für die Verteidigung des „Weißen Hauses“ gegen den versuchten Staatsstreich der alten Parteinomenklatuta 1991, der Boris Jelzin an die Macht brachte.
Nicht ein Vertreter aus den Reihen der Parlamentsparteien, nicht einer derer, die mit Wladimir Putin um den Präsidentensessel konkurrieren, ist dem Aufruf gefolgt. Allerdings hält sich auch die Polizei vollkommen zurück. Nur die Lauscher des Inlandgemeindienstes demonstrieren offen ihren Einsatz; ihre sichtbare Präsenz genügt der Regierung offenbar zur Einschüchterung. Die herrschende Politik, Duma ebenso wie die Regierung Putin, einschließlich der Verwaltung der Stadt Moskau, straft die Versammlung mit Nichtbeachtung.
Nur einer aus der Reihe der etablierten Politiker, Grigori Jawlinksi, Chef der westlich orientierten Partei „Jabloko“, einer aus der Reihe der elf Konkurrenten Wladimir Putins um den Sessel des Präsidenten, lässt noch eben vor Schluss der Veranstaltung ein Telegramm aus der nur 200 Meter entfernten Duma an die Versammelten übermitteln. Die Leiterin der Veranstaltung liest vor:

O-Ton 9 A: Telegramm von Grigori Jawlinski     1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,45 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Drusja…
„Freunde, ich verstehe diejenigen gut, die zu diesem Meeting gekommen sind.  Ich tue alles, um diesen Krieg anzuhalten, den sinnlosen und grausamen. Verbrechern und Banditen muss das Handwerk gelegt, aber das Volk muss geschützt werden. Die Soldaten sollen lebendig nach Hause zurückkehren und mit reinem Gewissen. Unterschrift: Grigori Jawlinksi.

Erzähler:
Die Kundgebung endet mit der Aufforderung an die Versammelten, sich an der Organisation einer Unterschriftenliste zu beteiligen, die ein Ende des Krieges fordert und zur Kriegsdienstverweigerung aufruft. Danach werden hundert blaue Lufballons als Boten des Friedens in den kalten Moskauer Spätwinter-Himmel entlassen:
…tri, tschetirije!“, Beifalll

Erzähler:
Wenige Tage nach der Kundgebung veröffentlicht die Partei Jawlinskis, „Jabloko“, selbst einen Aufruf gegen den Krieg. Die Staatsmacht, allen voran der ungeliebte, aber unbestrittene Champion der bevorstehenden Präsidentenwahl, Wladimir Putin, zeigt sich indessen von solchen Protesten ganz unberührt. Die kritischen Töne, vor allem aber die in der Bevölkerung aufkommenden Ängste vor einer Rückkehr zum KGB-Staat oder auch vor dem Übergang zu einer zur Diktatur der Reichen kontert Wladimir Putin mit populistischen Auftritten an den verschiedensten Orten des Landes, bei denen er allen alles verspricht. Zu besten Sendezeiten füllen seine Auftritte die Programme aller, selbst der kritischeren Fernsehanstalten.
Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Besuch Wladimir Putins im fernen sibirischen Irkutsk. Dort habe der „Amtierende“, wie er im Sprachgebrauch der russischen Medien genannt wird, nach Ansicht politischer Kommentatoren erstmals programmatische Perspektiven erkennen lassen, die über seine bei Amtsantritt Anfang 2000 im Internet veröffentlichten Absichtserklärungen, kollektive Traditionen des Landes mit Marktwirtschaft irgendwie verbinden zu wollen, hinausgehe. Vor Studentinnen und Studenten der Irkutsker Universität beantwortete Wladimir Putin Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 10 A : Wladimir Putin    0,15
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß., hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes beliebige Programm muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa.“

Erzähler:
Zur Frage von Diktatur oder Demokratie beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 11 A: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana..
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, den Kommunismus, jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Entwickeln soll diese Perspektiven eine Strategiekommission, in die Wladimir Putin vornehmlich liberale Intellektuelle aus seinem St. Petersburger „Kommando“, wie man in Russland sagt, berufen hat. Anlässlich des Besuches einer Ausstellung von Bildern in Irkutsk, welche Kinder zum Thema Zukunft gemalt hatten, empfahl der „Amtierende“ dem Leiter dieser Kommission, German Gref, vor laufender Kamera schließlich noch, sich in seiner Arbeit an den Fantasien der Kinder zu orientieren. Nicht wenige von ihnen, so wurde dem Fernsehpublikum gleich darauf mitgeteilt, haben sich als Helden gemalt, die, bewaffnet mit MG, die Gesellschaft von Räubern und Banditen befreien.

O-Ton 12 A: Gemurmel, Klavier    0,30
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen, mit Klavier hochziehen, (noch vor ersten Worten) abblenden

Erzähler:
Ansage, Klavier….
Mit einer Referenz an die Intellektuellen, die immer die ersten bei Reformen, aber oft auch, wie die nach seinerzeit nach Sibirien verbannnten Dekabristen, deren Leidtragende seien, endete dieser Aufftritt Wladimir Putins in Irkutsk.
…Klavier

Erzähler:
Angesichts solcher Auftritte überrascht es kaum, wenn Juri Lewada, altgedienter Chef des zentralen Meinungsfroschungsinstituts (WZIOM) in Moskau, der schon die Regierung Gorbatschows, dann Jelzins mit Daten zur Volksmeinung versorgte, die Situation so beschreibt:

O-Ton 13 A: Juri Lewada
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    1,20
“Opposizia jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Das heißt, die Frage stellt sich anders, nämlich, ob es eine organisierte Opposition gibt. Wird sie so stark sein, dass sie bemerkbar wird? Nach den gegenwärtigen Daten der letzten Zeit ist eine solche Opposition nicht erkennbar. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
546 ..sawjedoma.“

Erzähler:
Gründe für diese Situation liegen nach Lewadas Erkenntnissen darin, dass trotz nicht mehr zu verheimlichender steigender Opferzahlen nach wie vor 60% der Bevölkerung den Kriegskurs Wladimir Putins bis zu einem „siegreichen Ende“ unterstützen. Dagegen habe keiner der übrigen Kandidaten eine Chance. Anwärter wie Luschkow, Primakow, Tschernomyrdin hätten sich daher zurückgezogen. Wer trotzdem gegen Putin antrete wie Szuganow, der Kandidat der Kommunisten, wie Jawlinski tue das aus anderen Gründen, vielleicht aus langfristigen Erwägungen, jedenfalls nicht um jetzt Präsident zu werden. Das gelte umso mehr noch für Kadidaten wie Schirinowski. Noch wesentlicher aber sei möglicherweise, dass die Bevölkerung – die Politiker eingeschlossen – Putin als Blackbox erlebe, als Mr. Nobody, dessen einziges Geheimnis vielleicht darin bestehe, dass er keins habe. Aber wer wisse das schon?
Und so stellten sich eben offensichtlich alle darauf ein, abzuwarten und zu sehen, was für sie in dieser Box liegen könnte.
Viel Gutes sei von einem Mann, der durch den Krieg an die Macht gekommen sei, allerdings nicht zu erwarten; andererseits auch nicht viel Neues:

O-Ton 14 A: Lewada, Forts.    1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei  0,35 vorübergehend hochziehen (sodaß man das Stöhnen hört) weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
“Ponimaetje, nitschewo…
„Verstehen Sie, nichts kommt von Nichts. Natürlich ist Putin ein anderer Typ Mensch als Jelzin und auch als Gorbatschow. Aber er fällt ja nicht vom Himmel. Er wurde von der Situation hervorgebracht, die sich bei uns entwickelt hat. Deshalb wird er sie also fortsetzen – oder irgendetwas zerstören. Im Moment zerstört er das Bild Russlands in der internationalen Meinung, das ist offensichtlich, und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Viel aber kann er auch wieder nicht zerstören, denn er kein unabhängiger Mensch. Er wurde letztlich doch von denselben Händen aufgezogen und geformt, in denen Jelzin sich befand, Kräfte, die aus dem Hintergrund kommandieren, Bankiers, die regieren oder sonst noch Leute, die Einfluß nehmen. Aber es sind auf jeden Fall dieselben Leute.“
…tesche samije ludie.“

Erzähler:
Die Ankündigungen Wladimir Putins, eine neue Staatsmoral aufbauen zu wollen, beantwortet Juri Lewada mit müder Gelassenheit:

O-Ton 15 A: Lewada, Forts.    0,30
Regie: O.Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnogim nrawitza…
„Vielen gefällt es, dass bei uns alles stromlinenförmig werden könnte. Aber ich glaube nicht, dass etwas daraus wird. Doch schauen wir; Teile werden vielleicht verwirklicht. Und was die Zukunft betrifft: Wer versuchen zu überleben! Wir haben schon viel überlebt; versuchen wir es wieder! Das wird harte Kost sein für das Land, für die Menschen, aber irgendwie werden wir es lernen.“
319…  utschitsja“

Erzähler:
Im Hauptquartier der Gegner Putins, in der Fraktion der Kommunistischen Partei, will man von solchen Tönen nichts hören. Auf die Frage, warum Gennadij Szuganow, der Sekretär der Kommunistischen Partei, gegen Wladimir Putin antrete, obwohl man überall höre, dass er sich keine Chancen auf einen Sieg ausrechnen könne, antwortet Andrej Filippow, Beauftragter der Fraktion für internationale Beziehungen:

O-Ton 16 A: In der Fraktion der KPRF    0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Jestdestwena…
“Natürlich haben wir unseren Kandidaten für diese Wahlkampagne ausdrücklich deswegen aufgestellt, weil wir in der Opposition sind. Wir wollen zeigen, dass ein beachtenswerter Teil unserer Bevölkerung mit dem gegenwärtigen Kurs der Regierung nicht einerstanden ist. Und wir hoffen natürlich, dass wir keine schlechte Resultate erzielen, andernfalls bräuchten wir nicht anzutreten: Wir nehmen an den Wahlen Teil, um zu siegen.
…schtobi pobeschdat.“

Erzähler:
Anrdej Filippow erinnert daran, dass 1996 auch Jelzin erst nach dem zweiten Wahlgang gesiegt habe, nachdem Alexander Lebed, der seinerzeit als dritter durch Ziel ging, Jelzin seine Stimmen zuführte. Etwas ähnliches werde es diesesmal aber nicht geben, denn einen vergleichbaren Kandidaten, der bei einer eventuell. notwendigen Stichwahl mit Wladimir Putin in ähnlicher Weise koalieren könne, werde es diesesmal nicht geben. Lebed selbst habe verzichtet; für den dieses mal möglichen Anwärter eines dritten Platzes, Grigorij Jawlinski sei  eine Koalition mit Putin undenkbar. Also, müsse man sich durchaus auf ein Kopf an Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Konkurrenten, Putin und Szuganow einstellen. Hinter dem einen stehe die gegenwärtige Partei der Macht, die vor der Duma-Wahl im Dezember aus dem Nichts geschaffene Partei „Einheit“; auf der anderen stünden solide 30% kommunistischer Stammwähler. Dazu kämen noch die Verbündeten der „patriotischen Front“. Das, versichert Filippow, seien doch die allerbesten Voraussetungen für einen Sieg, oder nicht?
In einem allerdings sieht Filippow ernsthafte Schwierigkeiten, die große Herausforderungen an seine Partei stellten:

O-Ton  17 A: Filippow, Forts.     1,35
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun dela w`tom…
“Nun, das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muß es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. Man hat unsere Losungen übernommen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Eine andere Sache ist, dass der Inhalt ein anderer ist. Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn man ihn reden hört, kann man sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Aber es gibt einige prinzipielle Positionen, wo man nichts von ihm hört: Etwa der Kampf mit der Korruption. Nichts! Die Frage der Überprüfung krimineller Auswüchse der Privatisierung – Nichts! Entscheidend ist schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden. Er ist dafür und weiß doch zugleich, dass das nicht akzeptiert werden wird. Gemeinschaftliche Nutzung des Bodens hat bei uns tiefe Wurzeln in der Geschichte. Auch die von einigen geforderte Privatisierung der natürlichen Monopole, Gasprom, R-A-O-U-ES, also des landesweiten Energiemonopols, der Eisenbahn und anderer wird für ihn sehr problematisch. All diese wirtschaftlichen, diese prinzipiellen Fragen werden für ihn das Examen sein.“
.. budit Examen.“

Erzähler:
Die schärfste Differenz zu Putin kommt bemerkenswerter Weise nicht von der kommunistischen, auch nicht von neulinker Seite, sondern von der nationalbolschwisten Rechten, den sogenannten „patriotischen Kräften“. Die Kommunistische Partei begnügt sich mit dem Platz einer etablierten Opposition. Das entspricht der Rolle, die sie bereits unter dem Präsidentschaft Boris Jelzins angenommen hat. Ein Präsident Szuganow ist, allen Selbstermutigungen aus diesem Lager zum Trotz, nicht zu erwarten. Die neulinken Kräfte nähren, soweit sie nicht in den radikaldemokratischen Protesten gegen den Krieg aufgehen, Hoffnungen auf kommende Kämpfe einer unzufriedenen Arbeiterschaft.
Im Vergleich zu solchen Hoffnungen erscheint die Position der Nationalbolschewisten ernüchternd realistisch. Von kommenden Kämpfen könne keine Rede sein, meint beispielsweise Alexander Prochanow, Herausgeber der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen). Mit ihm in ein Horn stoßen die „Sowjetskaja Rossija“ und ein paar andere Blätter, deren Linie irgendwie zwischen Neo-Stalinismus, Marktwirtschaft und Nationalismus schlingert. Ein Teil unterstützt die KP, ein anderer nicht. Eine richtige Bewegung bekommen sie zur Zeit auch nicht zustande.
Mehr als lokale Proteste seien zur Zeit nicht zu erwarten, meint Prochanow; zudem habe die Regierung begonnen, die Lohn- und Pensionsrückstande der letzten Jahre auszugleichen. Diese Aussagen Prochanows stimmen mit den Erwartungen des Präsidenten der Moskauer Gewerkschaft, Michail Nagaitzew und Prognosen aus Geschäftskreisen überein, die eine allmähliche Entwicklung eines innerrussischen Marktes erwarten. Auf Dauer aber, so Alexander Prochanow weiter und besteht dabei auf klassischer marxistischer Terminologie, werde Wladimir Putin den Widerspruch zwischen Basis und Überbau nicht aushalten:

O-Ton 18 A: Alexander Prochanow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Erzähler:
Alexander Prochanows Urteil, wenn auch aus extremer Position, in dogmatischer Sprache, kommt den Tatsachen wohl am nächsten: Wladimir Putin, wenn er zum Präsidenten gewählt wird, wird einen Kurs zwischen Liberalismus und imperialem Dirigismus suchen. Dafür sprechen auch seine neuesten Äußerungen über einen möglichen Beitritt Russlands zur NATO. Faktisch ist ein solcher Schritt unter heutigen Bedingungen unmöglich. Wladimir Putins Auslassungen zu dem Thema zeigen aber, auf welcher Schlangenlinie er zwischen imperialer Orientierung Russlands und Abhängigkeit vom Westen steuert. Sollte Wladimir Putin nicht gewählt werden, was unwahrscheinlich ist, wird aber doch jeder andere Präsident demselben Kurs folgen müssen. Einen anderen Weg gibt es für Russland zur Zeit nicht. Opposition wird, wie am Protest gegen den tschetschenischen Krieg erkennbar, darin bestehen, die Zahl der Opfer auf diesem Kurs so weit zu begrenzen, wie möglich.

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