Vortext:
China neues Mitglied der Welthandelsorganisation, der russische Präsident Wladimir Putin in China, Millionen Chinesen im kleinen Grenzverkehr von China nach Russland, in die Mongolei und nach und Kasachstan: Was geht zwischen China und seinen Nachbarn im Nordwesten vor sich? Eine Hintergrundskizze von Kai Ehlers.
O-Ton 1: Gemurmel, Musik 1,46
Regie: Musik schnell kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen
Erzähler:
Chinesische Klänge bei einem Kongress der Mongolisten in Ulaanbaator, der Hauptstadt der Mongolei. Seit 1962 finden solche Kongresse im Rhythmus von fünf Jahren statt. Seit dem sechsten dieser Kongresse im Jahre 1992 trifft sich dabei nicht mehr nur die sowjetische Welt, sondern ein internationales Forum von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, denen diese spezielle Region im Schnittpunkt zwischen Asien, Europa und dem Orient besonders am Herzen liegt. Manche Länder, vor allem China und Russland, reisen mit ganzen Delegationen an. Dass dies kein Zufall ist, zeigt der Ablauf des letzten Kongresses im Jahr 1997, in dessen Verlauf sich Russen ebenso wie Chinesen nicht nur wiederholt zu geschlossenen Beratungen abseits setzten. Er war auch thematisch von der russisch-chinesischen Polarität, von Fragen der Neuaufteilung der Einfluss-Sphären in Asien nach dem Ende der Sowjetunion durchzogen, nahezu überschattet.
In der Sektion „Mongolei heute“ hielt Frau Doktor Okujanski, Mitglied der russischen Delegation aus Moskau, einen Vortrag über die schwierige Lage, in welche die Mongolei nach dem Ende der Sowjetunion zwischen China und Russland gekommen ist:
O-Ton 2: Frau Dr. B. Okujanski 0,48
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Übersetzerin:
„We itogi…
„Im Ergebnis sieht sich die Mongolei vor die Notwendigkeit gestellt, neue äußere Faktoren zu schaffen, um aus der ökonomischen Krise herauszukommen: Herausgetreten aus dem Schutz des sowjetischen Schirms, muss sie einerseits die Beziehungen zum neuen Russland halten, andererseits neue Beziehungen zu China herstellen und dabei noch ihre Unabhängigkeit wahren. Diese Kooperation mit beiden, Russland und China, ist die einzige Chance, sich dem Westen nicht unterwerfen zu müssen und zugleich der einzige Weg für die Integration der Mongolei und anderer nord-ost-asiatischer Länder, die zur Zeit, wenn auch nur langsam – beginnt.“
…natschinajut skljadewitsja.“
Erzähler:
Russland sei leider nur mangelhaft in der Lage, diese Integration zu unterstützen, klagt Frau Dr. Okujanski. Die Ursachen dafür sieht sie im Niedergang ihres Landes, auch in den, wie sie sagt, immer noch nicht entfalteten Potentialen der russischen Reform, mehr aber noch in der wirtschaftlichen Expansion Chinas, das Russland in letzten Jahren überflügelt habe:
O-Ton 3: B. Okujanski, Forts. 0,29
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Übersetzerin:
„W´zelom wsjerossiski export…
„Der russische Export macht zur Zeit ungefähr ein Fünftel des mongolischen Imports aus; der chinesische Export in die Mongolei aber wächst. Bei den ausländischen Investitionen halten Russland und China zusammen sechzig Prozent, aber China führt dabei im Umfang der Investitionen vor Russland.“
…investizii Rossije.“
Erzähler:
Chinas Expansion und Russlands Schwäche ist auch Thema in den Foyers des Kongresses. Ein ungebetener Gast, Reporter von „Radio Liberty“ aus der inneren Mongolei, also dem heute zum chinesischen Staatsgebiet gehörenden Teil des von Mongolen bewohnten Landes, agitiert gegen Pekings Politik in der dortigen Region:
O-Ton 4: Awton Bator, Innere Mongolei 1,04
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Übersetzer:
„Menja sawut…
Er heiße Awton Bator, stellt er sich vor. Er komme soeben aus New York, wo eine „Volkspartei Innere Mongolei“ gegründet worden sei – in New York deshalb, weil das in der Inneren Mongolei nicht möglich sei. Die Partei werde den Kampf der Uiguren, einer den Mongolen verwandten Volksgruppe, gegen von Peking ihnen gegenüber betriebene zwangsweise Chinesisierung unterstützen. Erst kurz vor dem Kongress sei es wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf sogar nach offizieller chinesischer Darstellung hunderte Menschen getötet wurden. Man habe auch Kontakt zum Dalai Lama aufgenommen; Tibetaner, Uiguren und andere arbeiteten zusammen; schon bald werde es eine einheitliche Front geben.“
…jedini front.“
Erzähler:
Von einer Front will auf dem Kongress allerdings niemand etwas hören. Teilnehmer der chinesischen Delegation konzentrieren sich auf die Bedeutung Tschingis Chans für China, sie sind sogar bereit, darüber zu reden, dass große Teile der Bevölkerung des chinesischen Westens Nomaden seien.
O-Ton 5: Prof. Sin Chian 0,29
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Erzähler:
„Tja lisi sang…
Fragen nach der Politik Pekings jedoch lassen sie unbeantwortet. Europäische Kollegen, die für sie übersetzen, erklären „solche Fragen“ für unerwünscht. Leute, die Fragen dieser Art stellten, gehörten nicht auf einen wissenschaftlichen Kongress, befinden sie. Man habe das bereits kritisiert:
…critizized them.“
Erzähler:
Damit ist die „chinesische Frage“ für den Kongress vom Tisch. Außerhalb des Kongresses lässt sich die politische Wirklichkeit nicht so einfach verdrängen: Man freut sich über die neue Unabhängigkeit der 1991 ausgerufenen Mongolischen Volksrepublik, aber man ist beunruhigt über die Schwäche Russlands, in deren Folge die Expansion Chinas ungebremst auf die Mongolei drückt. Alarmiert zeigt sich Bayaert Saikhan, Abgeordneter der mongolischen Volkspartei. Er ist leitendes Mitglied einer Kommission zur Kontrolle der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung:
O-Ton 6: Bayaert Saikhan, Abgeordneter der mong. Volkspartei 0,44
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Übersetzer:
„U nas otschen…
„Wir haben sehr viele Informationen über die Privatisierung: Da kommt zum Beispiel ein Mongole und kauft, aber hinter ihm stehen in der Regel Leute unserer chinesischen Nachbarn. Das ist ein sehr großes Problem. Äußerlich sieht so aus, als ob es ein Mongole ist, der sich an der Privatisierung beteiligt, der kauft, der Eigentümer eines Ladens oder einer Gastwirtschaft wird; in Wirklichkeit werden Häuser, Läden, Fabriken jedoch das Eigentum ganz anderer Leute. Das ist bereits eine Frage der wirtschaftlichen Sicherheit. Dieses Problem beunruhigt mich sehr.“
…otschen bespakajet.“
Erzähler:
Tausende von Chinesen ziehe es Jahr für Jahr ins Land, berichtet der Abgeordnete. Angst habe er nicht, schränkt er ein, alles laufe ja ganz ruhig ab, aber der mongolische Staat müsse sich gegen solche Vorgänge schützen, sonst werde er bald von den Chinesen übernommen:
O-Ton 7: Bayaert Saikhan, Forts. 0,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen
Übersetzer:
„Gossudarstwa dolschen…
„Ein Staat muss selbstständig existieren können. Wenn der Einfluss von außerhalb so bedrohlich anwächst, wie jetzt bei uns, dann ist das schon gefährlich. Das ist eine stille Invasion. So sind die Daten. Der Einfluss Chinas (stöhnt) ist da eben schon sehr fühlbar.“
…tschuwtswoitsja.“
Erzähler:
Die Mongolen stehen mit ihren Ängsten nicht allein. Auch in der sibirischen Stadt Irkutsk, dem nächsten Nachbarn der Mongolischen Volksrepublik, gleich nördlich des Gebirgszuges, der die mongolische Volksrepublik von Russland trennt, rückt die „chinesische Frage“, wie man es auch hier nennt, mehr und mehr in den Vordergrund. Hier bestimmt sie bereits stark das Alltagsgeschehen.
Früher war es die Mongolei, über die man sprach, meint Sergej Ischatarow, ein PKW-Fahrer, der seine Freizeit als Hobby-Politiker verbringt. Positiv oder nicht, das war der Alltag:
O-Ton 8: Sergej Ischatarow, Fahrer 0,25
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Übersetzer:
„Nu, Mongolie…
„Jetzt spielt die Mongolei in unseren Zeitungen, im Fernsehen kaum noch eine Rolle. Dafür China! China triffst Du auf Schritt und Tritt. Überall in Irkutsk findest Du China. Klar, denn es gibt hier Massen von chinesischen Waren, Massen von chinesischen Händlern.“
…Tschelniki…“
Erzähler:
„Tschelniki“, Weberschiffchen, nenne man sie, Kleinhändler, die Waren niedriger Qualität zu billigen Preisen über die Grenzen schafften. Zu Tausenden seien sie in den letzten Jahren gekommen. Daraus ergebe sich eine vollkommnen neue Situation:
O-Ton 9: Sergej Ischatarow, Forts. 1,31
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Übersetzer:
“Ah, Kitaizi odin narod…
“Die Chinesen sind so ein Volk: Sie verstehen zu arbeiten, packen ihre Dinge an, was sie anfassen, das machen sie richtig. Bei uns hat man daher, ich meine nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die arbeitende Bevölkerung insgesamt, eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber. Wenn etwas schief geht, eine Grippeepidemie oder der Markt bricht zusammen, egal was – immer sind es die Chinesen gewesen. Nun es ist auch tatsächlich so. Hier gibt es am Baikal so ein Landwirtschaftsinstitut, in seiner Nähe ein paar Dörfer, wo Bauern wohnen. Da gab es so etwas wie eine Kolchose. Während der Perestroika fiel alles auseinander. Da hat man diesen Boden den Chinesen in Pacht gegeben. Als es hier nichts mehr gab, keine Gurken, kein Gemüse, nichts, da haben die schnell ein paar Gewächshäuser gebaut und noch im Winter das Gemüse gebracht. Danach haben sie sich Land angeeignet. Wie ging das vor sich? Sie schlossen fiktive Ehen, schon waren sie Bürger Russlands, konnten das Land privatisieren. Danach begannen sie dort zu siedeln, holten ihre Verwandten und schon gibt es da ein ganzes chinesisches Dorf.“
…passjolok abrasuitsja.“
Erzähler:
Es gebe keine scharfen Konflikte, fährt Sergej fort, aber im Unterbewusstsein der Menschen entwickele sich so etwas wie eine soziale Krankheit:
O-Ton 10: Sergej Ischatarow, Forts. 0,42 Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden , unterlegen, bei „ras und klapp“ ( 0,37) hochziehen
Übersetzer:
„U nas w` irkutske…
„Wir haben im Irkutsker Verwaltungsbezirk mal gerade zwei Millionen Menschen. Das ist wenig. Das ist fast eine Leere. Und überhaupt leben ungefähr 80 Prozent der russischen Bevölkerung dort, jenseits des Urals, hier diesseits leben sehr wenige. Das ist ja ein riesiges Territorium vom Ural bis nach Kamtschatka am stillen Ozean – es ist praktisch leer, menschenleer. Aber gleich nebenan China! Wo es Milliarden gibt! Das ist den meisten noch nicht ganz klar, es steigt aber langsam in den Köpfen so eine Ahnung auf, dass da gleich nebenan ein Krokodil lauert, das kommen kann und, schnapp, sind wir verschluckt und in fünfzig Jahren ist das hier alles schon China. So ein Gefühl besteht.“
…wot suschustwujet.“
Erzähler:
Seit Einsetzen der Perestroika, also seit Mitte der 80er Jahre, ergänzt Sergei, kommen Chinesen auch als Saisonarbeiter für ein paar Monate über die Grenze. Sie arbeiten gut und für niedrigere Löhne als die russischen Arbeiter. Die verlieren ihre Arbeitsplätze. Dies alles, so Sergei, mache China zum Problem Nummer eins.
Nicht, dass er einen Krieg befürchte, schränkt er ein:
O-Ton 11: Sergej Ischatarow, Forts. 0,55
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Nu, ja dumaju…
„Man weiß ja heute, was ein Krieg bedeutet, nein, heut nimmt das den Charakter einer wirtschaftlichen Eroberung an. Diese Bedrohung besteht. So wie Russland früher nach Osten bis zum Pazifik gegangen ist, so wird China mächtiger und mächtiger und geht jetzt nach Westen. Aber es kommt natürlich nicht mit Panzern, nicht mit Kanonen, es kommt mit Handel, wirtschaftlich; es wird auch gemischte Betriebe geben, russich-chinesisch usw. Die Chinesen werden auf diese Weise eine große Rolle in der russischen Wirtschaft spielen und so werden sie es friedlich erobern. Das ist zu befürchten. Das fürchte auch ich.“
…Ja tosche bajus.“
Erzähler:
Das dritte Jahrtausend, so Sergeis Erwartungen, werde ein asiatisches sein:
O-Ton 12: Sergej Ischatarow, Forts. 0,53
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Übersetzer:
„Da polni…
„Historisch hat es sich so entwickelt, dass bisher die Weißen im Westen die erste Rolle in der Welt gespielt haben, aber nun beginnen die Asiaten sich auf den ersten Platz zu bewegen. Sie lagen lange Zeit zurück, jetzt holen sie auf, jetzt überholen sie und es wird nicht leicht sein, mit ihnen zu konkurrieren. Sie haben eine starke Disziplin, sie haben die Achtung vor den Ältesten, sie haben die Fähigkeit zu arbeiten. Das spielt alles eine große Rolle. Unsere Werte dagegen sind stark zerstört. Natürlich lieben wir unser Vaterland, unsere Familie, unsere Kinder. Aber in Sachen moralischer Werte, die einen halten, ist es bei uns zur Zeit sehr schlecht.“
…otschen plocha, malawata…“
Erzähler:
An der historischen Fakultät der Universität von Irkutsk hat das Phänomen der „Tschelniki“, der chinesischen Grenzhändler und Wanderarbeiter, zur Gründung eines eigenen Lehrstuhls geführt. „Entstehung und Struktur der Diaspora ethnischer Handelsminderheiten“ nennt Viktor Djadlew, Professor für neuere Geschichte, das Spezialgebiet, in dem er forscht und lehrt.
Die Beziehungen zwischen den Völkern Innerasiens unterliegen einem tiefgreifenden Wandel, erklärt er:
O-Ton 13: Prof. Djadlew 0,45
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Übersetzer:
„Was uns betrifft, hier im Osten, entwickelt sich eine neue chinesische Diaspora. Es gab eine vor der Revolution, die aber aus unterschiedlichen Gründen verschwand. Die neue Entwicklung beginnt 1980/1982, Perestroika: Die Grenzen zu China wurden geöffnet, katastrophale Wirtschaftslage in unserem Land, absolut leerer Markt, keine Gebrauchswaren, Inflation. In der Situation strömten die Tschelniki herbei, die in ihren Koffern Kleidung, alle möglichen Waren brachten. Das rettete uns damals, denke ich.“
…spassli, ja dumaju.“
Erzähler:
Damals begegnete man ihnen ziemlich freundlich und neugierig, erzählt Professor Djadlew. Es gab praktisch keine Beziehung mit China. Man sah sich von China bedroht. In den sechziger Jahren sah man sich am Rande eines Krieges. Man hatte Angst vor dem chinesischen Staat. Gegenüber dem einzelnen Chinesen aber waren die Beziehungen nicht feindlich. Man schätzte sie als bescheiden, arbeitsam, unaufdringlich. Deshalb kam man ihnen damals ganz offen entgegen.
O-Ton 14: Prof. Djadlew, Forts. 1,03
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Übersetzer:
„Potom stala otnaschennije…
„Dann änderte sich die Beziehung. Jetzt ist das Verhältnis zu den Chinesen schwierig. Auf der einen Seite ist ihr Handel von Nutzen, das gilt auch heut noch: Der Verbrauchermarkt ist gesättigt, es gibt, für unser Verständnis, viele Waren, der Markt hat sich differenziert; es gibt reiche Schichten, gibt Arme in verschiedenen Abstufungen. Die Chinesen beliefern jedoch nach wie vor den Markt der Armen mit Billigprodukten und Arme, die sich westliche Produkte nicht leisten können, für die es aber auch immer noch keine billigen russischen gibt, sind bei uns nach wie vor die Mehrheit. Deshalb spielen die Tschelniki eine große soziale Rolle. Gäbe es sie nicht, wäre das eine soziale Katastrophe und würde zu sozialen Spannungen führen.“
…sozialni naproschonnost.“
Erzähler:
„Sie werden gebraucht, betont der Professor. Andererseits, fährt er fort, liebe man die Chinesen nicht, weil sie Fremde seien.
In einer Region, in der Russen mit vielen anderen Völkern zusammenleben, bedarf eine solche Feststellung natürlich einer Erklärung; de Erklärung, die der Professor gibt, lässt die „chinesische Frage“ in grellem Lichte erscheinen:
O-Ton 15: Prof. Djadlew, Forts. 0,55
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Esli skaschem, nu…
„Nun, wie soll ich sagen? Mit den Burjaten leben wir hunderte von Jahren zusammen. Wir sind verschieden – nach nationalem Charakter, nach der Art zu leben usw. Aber wir leben schon lange mit ihnen. Wir kennen einander, verstehen einander; Konflikte gibt es, aber die kann man verstehen, das ist die eigene Welt trotz allem. Die zugereisten Chinesen sind eine andere Welt. Darüber hinaus sind sie in sich abgeschlossen. Sie öffnen sich nicht kulturell. Oder nehmen wir die Kaukasier, auch Händler: Sie sind hier in der russischen Provinz sehr unbeliebt, sie werden beneidet, manchmal sogar gehasst. Aber man kennt sie; es ist die eigene Welt. Die Chinesen kommen einfach aus einer fremden Welt wie Marsmenschen.“
…kak Marsian.“
Erzähler:
Aber auch der Professor hegt keine feindlichen Gefühle gegenüber den Chinesen. Er sieht seine Aufgabe darin, die Entstehung der chinesischen Diaspora in Sibirien wissenschaftlich zu beobachten, um daraus Perspektiven zu gewinnen, wie der Prozess der Chinesisierung Sibiriens, den er für unaufhaltsam hält, so konfliktfrei wie möglich und zum Nutzen aller ablaufen kann. Neutral, eher schon kritisch gegenüber seinem eigenen Land, stellt er daher ruhig fest:
O-Ton 16: Prof. Djadlew, Forts. 0,30
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Übersetzer:
„Glja utschonnich…
„Für russische Wissenschaftler ist das alles ein Geschenk: Wir können die Entwicklung der Diaspora von Null an beobachten. So etwas gibt es in der ganzen Welt nicht. Als wissenschaftliches Problem ist das einzigartig: eine Sache im Prozess ihrer Entstehung zu untersuchen! Das ist natürlich interessant, wichtig und alles – eine andere Sache ist, dass wir es schlecht untersuchen.“
…plocha isutschajem.“
Erzähler:
Kein Geld, stöhnt er, kein Material, schlechte Archive, keine Unterstützung aus Moskau:
O-Ton 17: Prof. Djadlew, Forts. 0,45
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Übersetzer:
„Ponimajetje polutschajetsja tak…
„Es ist ja so: Für Moskau sind einige hunderttausend Chinesen in Sibirien und im fernen Osten ein geringeres Problem als die Möglichkeit zwei, drei Dutzend moderne Torpedoboote zu verkaufen. Das heißt, es gibt eine Hierarchie der Ziele. Die `strategische Partnerschaft´ mit China im 21. Jahrhundert ist um vieles wichtiger als die Rettung der fernöstlichen Menschen vor dem Eindringen der Chinesen – und das ist richtig. Das ist die Position Moskaus, sie ist logisch, sie ist erklärlich. Aber die Position der Menschen im fernen Osten hat auch ihre Logik, die ist auch richtig.“
…tosche prawilna.“
Erzähler:
Abwehr der stillen Invasion im Osten zum einen, eine „strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ mit Peking zum anderen – die Moskauer Politik befindet sich ganz offensichtlich in einem Dilemma. Das wird aber nicht nur im Osten so gesehen. Auch in Moskau wird die Problematik erkannt. Professor Maslow, Chinaspezialist an der „Moskauer Universität für Völkerfreundschaft“, der auch als Berater für die Regierung tätig ist, skizziert den aktuellen Stand der russisch-chinesischen Beziehungen so:
O-Ton 18: Prof. Maslow, Moskau 1,34
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Übersetzer:
„Ja skaschu tak…
„Sie werden schwieriger. Man kann nicht sagen, ob sie gut oder schlecht sind. Man kann nur sagen, sie sind äußerst, äußerst schwierig. Es gibt ein offizielles und ein nicht offizielles Gesicht. Das offizielle Gesicht sieht zur Zeit so aus, dass sich die Beziehungen zwischen China und Russland in einem gewissen Stillstand befinden: Im Moment beträgt der Handel zwischen China und Russland sechs Milliarden Dollar. Das kommt vor allem durch Waffenlieferungen Russlands an China zustande. Zum Vergleich: Der Handelsumfang zwischen China und den USA beträgt mehr als neunzig Milliarden Dollar, der zwischen Japan und China mehr als fünf Milliarden Dollar. Das heißt, Russland, das doch die längste Grenze mit China hat, hat nur einen kleinen Anteil an diesen Umsätzen. Als Jelzin nach China ging, wurde mit Jiantsemin, dem Präsidenten der chinesischen Volksrepublik ein Handelsvolumen bis grade einmal 20 Milliarden projektiert, selbst das nur auf lange Sicht. Russland findet einfach keinen Platz auf dem chinesischen Markt. Bei seinem kürzlich erfolgten Besuch, versuchte Putin in China diesen Stillstand in Bewegung zu bringen. Aber bisher sind keine Ergebnisse zu erkennen.
…nje jasni.“
Erzähler:
Man wisse also nicht, ob sich die offiziellen Beziehungen zwischen Russland und China zum Guten oder zum Schwierigen wenden werden, so der Professor. Dies, fährt er fort, sei aber ohnehin nur die äußere Seite der Ereignisse:
O-Ton 19: Prof. Maslow, Forts. 1,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Nutrije strana…
„Die innere Seite der Ereignisse ist, dass China sich zur Zeit scharf nach Westen wendet. Wenn die alte Generation der chinesischen Kommunisten abtritt, wird sich dieser Kurs noch verschärfen. Ich erwarte Ereignisse, ähnlich den Vorgängen in Russland 1991: Öffnung der Grenzen, scharfer Anstieg der Kriminalität, Anwachsen der Korruption. Es ist wie ein Drache, der sich wendet und dessen Schwanz dabei sehr viele Länder streifen kann. Vor allem wird sich das alles auf das Territorium Russlands auswirken; Russlands Grenzen sind schlecht geschützt, praktisch offen. Aus diesen Gründen ist es mit der `strategischen Partnerschaft´ äußerst schwierig. Sie wird rundum als antiamerikanische Partnerschaft verstanden. Aber hier hat der Balken, wie man bei uns sagt, zwei Seiten: Erstens ist China gewohnt, immer die erste Geige zu spielen; sie werden nie gemeinsam auf gleicher Ebene mit jemandem spielen. Wenn es ihnen nützt, dann werden sie mit Russland gehen, wenn es ihnen nicht nützt, werden sie Freundschaft mit Amerika halten. Chinesisches Denken ist pragmatisches Denken. Das Verständnis von ehrlich oder unehrlich, Vertrag unterschrieben oder nicht unterschrieben gibt es da nicht. Das chinesische Verständnis heißt: Nützlich oder nicht nützlich. Das ist das Erste, was man begreifen muss: Wenn nötig, wird China immer seine eigene Rolle spielen.“
…igratj swoi rol.“
Erzähler:
Das Zweite, was man beachten müsse, fährt der Professor noch im selben Atemzug fort:
O-Ton 20: Prof. Maslow, Forts. 1,15
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Priblischajus Kitaju…
„Wenn wir uns China auf der antiamerikanischen Welle nähern, entfernen wir uns zugleich vom Westen und nähern uns dem Osten. Das ist für Russland vielleicht auch nicht immer richtig. Russland hat ja gerade eben begonnen aus der imperialen Logik heraus- in eine andere einzutreten. Es gibt ja zwei Logiken, wenn man es allgemein fassen will, die imperiale, das alte Russland, China, einige Länder Afrikas. Und es gibt die Logik der wirtschaftlichen Entwicklung wie die Europas. China und Russland folgen zur Zeit einer anderen als der europäischen Entwicklungslogik. Warum hat sich Russland plötzlich so stark China zugewandt, sogar Nord-Korea und nicht etwa Frankreich oder Deutschland? Weil es psychologisch näher an China liegt. Offiziell werden wirtschaftliche Interessen, Handelsaustausch, Kulturaustausch usw. für die Beziehungen deklariert, dahinter steht aber noch etwas anderes, die gemeinsame imperiale Denkweise.“
…raswitje mischlennije.“
Erzähler:
Trotz der imperialen Denkweise Chinas ist die chinesische Expansion aus der Sicht des Professors aber keine einfache Aggression, der man mit gleichen Mitteln entgegentreten könnte, die man vielleicht – und sei es mit Gewalt – sogar aufhalten könne. Es ist alles viel schwieriger, betont der Professor: Die Expansion Chinas ist für ihn ein objektiver Prozess, der nicht aufzuhalten sei:
O-Ton 20: Prof. Maslow, Forts. 0,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Predstawftje. tscho jest…
„Stellen Sie sich eine Biomasse vor, einen biologischen Prozess. Die Masse vermehrt sich. In einer Biomasse gibt es kein gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch. Ihre Logik ist die des Überlebens, sie muss alles tun, um zu überleben. So entwickelt sich China. Deshalb sind Absprachen nicht möglich, kann man nichts kontrollieren.
…nelsja kontrollirowatj.“
Erzähler:
Nach unterschiedlichen Berechnungen, so der Professor nüchtern, halten sich auf dem Territorium Russlands zur Zeit sechs bis sieben Millionen Chinesen auf. Für China seien das wenig, für Russland werde daraus die größte nationale Minderheit, größer als die der Tataren mit fünf Millionen. Nicht nur in Irkutsk, nicht nur in der Mongolei, so der Professor, im gesamten fernen Osten von Kasachstan bis nach Wladiwostok nehme diese Minderheit starken Einfluss auf die Wirtschaft. Wie in Irkutsk springen sie da ein, wo die russischen Kapazitäten nicht ausreichen: Sie sanieren ökologisch gefährliche Kohlegruben, um sie nachher zu bewirtschaften, sie bieten Investitionen an, wenn sie dafür Einsicht in die regionalen Planungsdaten erhalten; sie sind die besten Steuerzahler der Regionen:
O-Ton: Prof. Maslow, Forts. 1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Wsjo eta na konjetschnam….
„Das alles bedeutet schließlich, dass die Chinesen Einfluss nehmen auf die örtlichen Machtorgane. Sie haben sich angesiedelt, das heißt, sie nehmen Einfluss auf die örtlichen Wahlen, auf die Finanzströme, auf die Steuern, auf die Sozialpolitik usw. Dazu kommt, dass die Chinesen, wenn sie sich im Ausland ansiedeln, im Unterschied zu anderen Völkern, ihre Kultur mitbringen. Wenn ein Chinese nach Chabarowsk kommt, beginnt er dort mit chinesischen Waren zu handeln, wenn er nach, sagen wir, Brighton Beach kommt, handelt er dort ebenfalls mit chinesischen Waren. Das bedeutet, jeder Chinese, der ins Ausland geht, stimuliert seine eigene Wirtschaft. In diesem Sinne geht es jetzt in den russischen Grenzbereichen nicht nur darum dass dort Chinesen einwandern, sondern es verändert sich die dortigen Bedingungen der Zivilisation, es verändert sich der Typ der Zivilisation.“
…Typ zivilisatii.“
Erzähler:
Den anderen Typ der Zivilisation, den er erwartet, charakterisiert der Professor mit den Worten:
O-Ton: Prof. Maslow, Forts. 1,25
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„A ja imeu vidu…
„Ich will sagen, es gibt eine chinesische Zivilisation. Sie wirkt nur nach ihren eigenen Gesetzen und beachtet die Gesetze anderer Zivilisationen nie. Die heutige politische Welt ist gegründet auf Verträge. China ist keine Kultur der Verträge, das ist eine Kultur der Entwicklung. Ich will damit nicht sagen, dass die Politik Chinas aggressiv sei. Nein, es ist die Zivilisation, es ist das, was sich in fünftausend Jahren entwickelt hat. Charakteristisch dafür ist, was die Chinesen unter China verstehen. China ist nicht ein Land, wo es Grenzen für das Land gibt, sondern dort, wo Chinesen wohnen, dort ist China. Für Chinesen in Kalifornien ist dort China. Für Chinesen in Irkutsk ist Irkutsk China. Jeder Chinese fühlt Loyalität einzig mit China. Und seine Präferenz in der Loyalität ist immer China. Der Europäer denkt ein bisschen anders. Ein Chinese baut um sich herum ein kleines China auf. Das ist die Besonderheit der chinesischen Zivilisation: Sie reproduziert sich beständig selbst. Das heißt, das sie gegebenenfalls nicht besiegbar ist, könnte man sagen. Das ist der andere Typ einer Zivilisation.“ …drugoi tip zvilisatii.“
Erzähler:
Die politische Perspektive, die sich aus all dem ergibt, ist klar und kompromisslos: „Wir müssen erkennen“, betont der Professor mit Blick auf die Grenze zwischen China und Russland, „dass wir diese Regionen bereits verloren haben, dass wir diese Vorgänge nur noch regulieren können. Wir müssen uns arrangieren.“ Die politische Perspektive, die sich aus all dem ergibt, klingt bei ihm klar und kompromisslos:
O-Ton 21: Prof. Maslow, Forts. 1,16
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen (oder wahlweise auch schon O-Ton 22 – Musik – hochkommen lassen)
Übersetzer:
„Protiwostanne meschdu…
„Der Widerspruch zwischen Russland und den USA, der sich jetzt entwickelt, stärkt notwendigerweise China. Die USA hat heute sehr große soziale Probleme, das ist bekannt. Viele Analytiker sagen, dass die USA noch zehn, höchsten fünfzehn Jahre auf dem jetzigen Level existieren kann, dann beginnt eine Währungskrise, Produktionskrise, soziale Krise. In China dagegen ist das Potential der Reform noch nicht einmal erschöpft. Was folgt daraus? Bei einer absehbaren Schwächung von Russland und den USA wird solch ein Gigant wie China sich erheben. Die USA begreifen heute nicht, dass Russland der einzige Puffer zwischen China und der übrigen Welt ist. Russland befindet sich nicht nur in einer Übergangssituation, es ist auch selber ein Übergang, eine Brücke zwischen den Kulturen – und ein Puffer, ein Puffer, der in gewissem Maße das Überrollen der übrigen Welt durch China kompensiert. Je schwächer Russland, desto stärker China und umso größer seine Möglichkeiten, den ersten Platz unter den Zivilisation der Welt einzunehmen.
…wot eto zivilisatii.“
Erzähler:
Diesem Bild muss nichts hinzugefügt werden.
O-Ton 22: Musik
Regie: Ton langsam kommen lassen, nach dem Erzähler hochziehen und mit Beifall ausblenden.
Erzähler:
Eine multizentrale Welt, die nicht nur eine herrschende Macht kennt, sondern auf gleichberechtigten Beziehungen der Völker basiert, wie sie gegenwärtig als Inhalt der strategischen Partnerschaft zwischen China und Russland propagiert wird, hat selbstverständlich nur dann eine Chance, wenn Russland seine gegenwärtige Schwäche überwindet.
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