Russland: Eine starker Mann für ein Land ohne Staat Putins langer Weg zur Demokratie

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen: 44.700 (einschl. Der sehr ausführlichen O-Ton- und Regie-Ansagen)
Gesamtlänge der O-Töne: 38.00

Sollte eine Kürzung notwendig werden,
Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)
– O-Ton 15 (+ Erzähler davor)
– O-Ton 17 (+ Erzähler davor)

Achtung: zwei Bänder!
– Atmos 1 – 5
– O-Töne 1 – 31

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland:
Eine starker Mann
für ein Land ohne Staat?
Putins langer Weg zur Demokratie.

Athmo 1: Meeting; Musik            1,25
Regie: Ton  langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, runterziehen, unterlegen, mit O-Ton 1 verblenden

Erzähler:
Russische Demokraten fühlen sich provoziert. Westliche Beobachter sind beunruhigt: Droht eine russische Diktatur, seit Boris Jelzin von Wladimir Putin abgelöst wurde? Folgt auf den Liberalismus Jelzins jetzt ein Notstandsregime Putins? Wird Wladimir Putin Despot in einem unregierbaren Land?
Ängste schlugen hoch, noch bevor Wladimir Putin Präsident geworden war: Gegen den von ihm geführten Krieg in Tschetschenien richtete sich der Protest, gegen seine Geheimdienst-Vergangenheit, gegen die von ihm inspirierten Übergriffe auf die Presse.
Die Gefahr von Terror und Faschismus beschwören die Redner und Rednerinnen dieser Kundgebung. Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten, fasst die Ängste stellvertretend zusammen:

O-Ton 1: Waleri Barschiow, Menschenrechtler            0,41
Regie:  O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Daragie drusja…
“Liebe Freunde, Unglück kam über unser Land. Es ist Krieg, ein Krieg,  der Tod, Zerstörung, Übergriffe, Lügen bringt.Das Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat die Gesellschaft dem Militär einen Freibrief ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
150 …Faschism“, Beifall

Erzähler:
Die wenigen programmatischen Äußerungen, die vor der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten von ihm selbst zu hören waren, gaben den Befürchtungen beunruhigter Demokraten Nahrung. Unterwegs im Lande und über das Fernsehen erklärte er:

O-Ton 2: Wladimir Putin,                   0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana…
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, danach den Kommunismus und jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form der Verwaltung aufbauen, die das Wichtige, die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Zum geflügelten Wort avancierte die Mahnung, die Wladimir Putin vor der Strategiekommission aussprach, die er selbst zur Ausarbeitung seines Programms einsetzte:

O-Ton 3: Wladimir Putin             0,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Pomnitje…
„Erinnern Sie sich daran, die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns unterwerfen müssen. Der Verlust der Rechtsordnung führt zu Chaos und Grenzenlosigkeit.“
…bespredelju.“

Erzähler:
Die Reaktion der Mehrheit Bevölkerung trug ein weiteres zu den düsteren Erwartungen der Demokraten bei. Genervt vom Zerfall unter Jelzin, liefen Wähler, Parteien und Institutionen dem neuen starken Mann zu: Typisch die Ansichten zweier junger Passantinnen in Moskau kurz vor der Wahl:

O-Ton 4: Passantinnen             0,39
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Diktatur der Gesetze? Was das ist? Natürlich eine Regierung, die mit Gewalt operiert“, meint die eine der jungen Frauen Studentinnen des Rechts, wie sich herausstellt.„Nun, wenn sie kommt“, ergänzt ihre Freundin, „dann sind wir unbedingt dafür. Mit offenen Armen! Aber das sind ja doch wieder nur großspurige Versprechungen. – Wenn sie wirklich Ordnung schaffen würden – in Grosny,  die Wirtschaft stabilisieren…, das wäre einfach toll! Aber wenn es wieder nichts wird, dann ist überhaupt unklar, wohin wir treiben.“
…nje panjatna kuda.“

Erzähler:
Angst vor einer Verschärfung der Krise und vor weiterem politischen Zerfall, das sind die Stimmungen, die Putins des starken Staates stützen. Jefim Berschin, früher Redakteur bei der „Literaturnaja Gasjeta“, heute freischaffender Journalist, fasst das in die Worte:

O-Ton 5:  Jefim Berschin, Journalist            1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Rossije bolsche nje…
„Rußland hat kein Recht mehr, Niederlagen hinzunehmen! Es kann sich nicht erlauben, weitere Kriege zu verlieren. Wenn es noch einmal  verliert, wird es Rußland nicht mehr geben. Es wird in Stücke zerfallen, denn eine weitere Niederlage würde eine gewaltige negative Dynamik in der Bevölkerung haben. Das Volk hat in den letzten Jahren zu viel verloren: Es verlor den kalten Krieg, es verlor den einheitlichen Staat, es verlor seine Wirtschaft – es hat fast alles verloren. In diesem Zustand der Erniedrigung können Menschen nicht leben.“
..schitj nje mogut.“

Erzähler:
Kaum im Amt, ließ Wladimir Putin per Internet einen Text verbreiten, in dem er so etwas wie programmatischen Ziele umreißen ließ:

Zitator: (getragen)
„Es ist eine Tatsache, dass in Russland immer eine Neigung zu kollektiven Formen der Lebensgestaltung über den Individualismus dominiert hat, dass paternalistische Stimmungen in Russland tief verwurzelt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet die Verbesserung ihrer Lage nicht mit eigenen Anstrengungen, mit Initiative und Unternehmungslust, sondern vielmehr mit der Hilfe und der Unterstützung des Staates und der Gesellschaft. Aus der Verschmelzung  dieser traditionellen mit den universellen, allgemein menschlichen Werten entsteht eine neue russische Idee. Ihr Kern: Die Verbindung von Privateigentum und Patriotismus.“

Erzähler:
Alexander Prochanow, seiner eigenen Einschätzung nach Nationalbolschwist, als Herausgeber und Chefredakteur der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra (morgen) Anfang der 90er einer der Führer der „Nationalen Front“, die gegen die Westöffnung mobilisierte, 1993 Sprachrohr des bewaffneten Widerstandes der Duma gegen Boris Jelzins Erlass zu ihrer Auflösung, kommentierte dieses Konzept Wladimir Putins in klassisch marxistischer Terminologie:

O-Ton 6: Prochanow            0,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche zur liberalen Basis, auf der er wirtschaftlich steht. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Athmo 2: Musik – Juri Ljosa: „
Regie: kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach dem Absatz vorübergehend hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Nicht leicht wird mein Weg sein und lang“, singt Juri Ljosa…“ Man hört ihn oft, wenn man im Lande unterwegs ist. „Die Hoffnung stirbt am letzten“, heißt es. Inzwischen hat Wladimir Putin das Ansehen Moskaus im Lande und in der Welt wieder etwas anheben können: Er hat den Abwärtstrend der Wirtschaft gestoppt, er hat die Macht der Oligarchen, also der Clans der Privatisierungsgewinnler zurückgedrängt, er hat die Korruptionsskandale niedergeschlagen; er hat die Duma zu einem Akklamationsorgan gemacht, die Regionalfürsten unter das Kuratel seiner  sieben Administratoren gestellt. Er hat die Medien auf Linie gebracht. Selbst die offiziellen Gewerkschaften hat er für seine Politik gewonnen.
Alexander Afonin beispielsweise, Betriebsratsvorsitzender und Sekretär der „Föderation der freien Gewerkschaften“ in der Moskauer Fabrik für Kugellager, kurz „Podschebnik“ genannt, mit einer ca. 8000köpfigen Belegschaft einer der größten Betriebe Moskaus, zeigt sich geradezu begeistert von der neuen Entwicklung. Endlich werde das alte System abgelöst, freut er sich, in dem die Arbeiter mit Produkten ihres Betriebes zum Verkauf losgeschickt wurden, statt ihren Lohn zu erhalten:

O-Ton 7: Alexander Afonin, Betriebsrat              1.09
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.40 hochziehen, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“A wot tschas imena…
“Jetzt sind wir auf das Geldsystem übergegangen. Das ist ja viel einfacher und besser für uns: Da kriegst du für ehrliche Arbeit, die du mit eigenen Händen geleistet hast, ehrliches Geld. Man muss doch essen, man braucht Kleidung, der Kindergarten muss bezahlt werden, das Kind muss in die Schule, das kostet doch alles! Deshalb ist die Politik jetzt auf dem richtigen Weg: Es war Zeit die Barterei einzuschränken.“

Regie: bei 0.40 Zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Die Barterei einschränken“, das bedeuted: Geldverkehr statt Natuturaltausch. Auch wenn noch nicht alles so sei, wie man es sich wünsche, meint Afonin, insbesondere natürlich in den Regionen, habe sich die Situation unter Putins Herrschaft doch entschieden stabilisiert.“
…namnoga stabilisiruitsja.“

Erzähler:
Die Zentrale der „Freien Gewerkschaften“ geht mit einem „Bündnis für Arbeit“ auf Schmusekurs mit der Regierung. Die Streikwelle der letzten Jahre unter Jelzin ist abgeklungen, neue Streikbewegungen werden zur Zeit nicht erwartet. Die Aufregung, welche die letzten Jahre der Jelzin-Ära kennzeichnete, hat sich gelegt. Alternativen zu Wladimir Putin werden nicht formuliert. Juri Lewada, Chef des etablierten Zentralen Meinungsforschungsinstitutes in Moskau, das allwöchentlich Daten zur Beliebtheit russischer Politiker erhebt, meint dazu:

O-Ton 8: Juri Lewada                                                   0,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
“Opposizija jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
…sawjedoma.“

Athmo 3: Meeting, Musik            0,58
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, mit O-Ton 9 verblenden

Erzähler:
Tatsächlich haben Privateigentum und Patriotismus, deren Zusammenführung der neue Prasident versprach, haben Modernisierung und Tradition sich auch unter Wladimir Putin bisher nicht zu einer neuen „russischen Idee“ verbunden. Die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche entgleiten vielmehr dem staatlichen Zugriff, manche sogar stärker als zuvor.
Nach wie vor wütet der Krieg in Tschetschenien, in dem sich die ungelösten Territorial- und Vielvölkerprobleme Russlands austoben. Ein Ende ist nicht in Sicht. Alles, was auf ein Ende des Krieges ziele, werde von Moskau heute abgelehnt, so Mussa Tumsojew, tschetschenischer Wissenschaftler in Moskau:

O-Ton 9: Musa Basnikajew              0,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„K´soschelenju…
„Leider, leider brauchen sie Vorfälle, um ein Ende zu finden – entweder so etwas wie Budjonnowsk, die Geiselnahme, oder Grosny 1996, als die tschetschenischen Kämpfer die Stadt zurückeroberten. Nur nach solchen Vorfällen sind sie bereit, in realen Kategorien zu denken.“
…realni kategorie…“

Erzähler:
„Budjonnowsk“ – das ist das Sybonym für den ersten terroristischen Anschlag von Seiten der Tschtschenen im ersten tschtschenischen Krieg. Solange der dieser Krieg tobt, ist er ein Treibsatz gegen die Einheit der russischen Föderation. Viele der nicht-slawischen Völker Russlands verstehen Moskaus Vorgehen gegen die Tschetschenen als Bedrohung ihrer eigenen Autonomie. Der Krieg hat eher sprengende als einigende Wirkung.
Ungelöst ist auch die Agrarfrage. Innerhalb eines Jahres wollte Boris Jelzins erster Wirtschaftsminister Jegor Gaidar bei seinem Antritt 1991 die kollektive Wirtschaft des sowjetischen Typs in eine Bauernwirtschaft nach westlichem Muster umgewandelt haben. Schon Mitte 1993 stagnierte diese Reform. Zwar waren zum dem Zeitpunkt bereits die meisten Sowchosen in Aktiengesellschaften umbenannt worden aber ihre Produktionsweise änderte sich nicht. Die Mehrheit der neuen Privatbauern kehrte in den Schutz ihrer früheren Kollektive zurück. Zahllose Erlasse Boris Jelzins zur Fortsetzung der Privatisierung auf dem Lande verhallten ergebnislos. Putin kündigte auch in diesem bereich neue Initiativen an.
Boris Kagarlitzki, linksreformerischer Analytiker in Moskau, skizziert die seit Wladimir Putins Amtsantritt entstandene Lage mit den Worten:

O-Ton 10: Boris Kagarlitzki            0,58 Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, agrarni wapros…
„Nun die Agrarfrage, ist auch wieder so eine Sache. Gott sei Dank ist die Anzahl unverständiger Leute, die in Russland auch den Boden privatisieren wollen, nicht so hoch. Was das Volk dazu denkt, auch die Agrarpartei oder die Kommunisten, ist für die Regierung nicht wichtig. Wenn sie der Privatisierung des Bodens erste Priorität einräumen würde, dann könnte sie das ohne weiteres durchziehen. Notfalls kauft sie sich die nötigen Stimmen in der Duma, auch die der Kommunisten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Risiken in Bezug auf die Privatisierung des Bodens so hoch sind, dass sie jede Initiative auf diesem Gebiet bremsen.“
… we etom planje.“

Erzähler:
Worin das von Boris Kagarlitzki benannte Risiko besteht, erläutert Alexander Nikulin, ein junger Agrarwissenschaftler. Er ist soeben von Studien auf dem Dorf zurückgekehrt: Kampagnen der Gouverneure von Saratow und Tatarstan, die mit regionalen Auktionen vorgeprescht sind, erwiesen sich als ein Schlag ins Wasser, berichtet er. Die Bauern haben kein Geld für den Kauf; die anschließenden notwendigen Investitionen liegen zu hoch, die Rechtslage ist zu unsicher. Wer kauft, muss damit rechnen, morgen wieder enteignet zu werden:

O-Ton 11: Nikulin                    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamy i ssostajannije…
„Deshalb ist die Euphorie der Gaidarschen Privatisierung und der Reformen im Agrarbereich vorüber. Jetzt verstehen alle, dass in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren die großen Betriebe der früheren Sowchosen und Kolchosen die wichtigsten Betriebe bleiben werden. Will man deren Lage skizzieren, dann muss man sagen: Seit 1990, in den Jahren des Chaos hat ungefähr ein Drittel seine Existenz aufgegeben, weil sie einfach alle bankrott waren. Die Menschen, die in diesen Sowchosen übriggeblieben sind, befinden auf dem Niveau der Naturalwirtschaft. Sie graben die Erde per Hand um oder wenn sie Glück haben, mit einem defekten Traktor. Das ist eine ziemlich primitive Art der Existenz.“
…ssuschustwawannije.“

Erzähler:
Auf die Frage, ob er von Wladimir Putin neue Privatisierungs-Initiativen im Agrarbereich erwarte, antwortet Alexander Nikulin:

O-Ton 12: Alexander Nikulin            0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja tschesna skaschu…
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Moment ist nichts spürbar, was Putin in Bezug auf Privateigentum an Grund und Boden unternehmen will. Ich würde aber auch sagen, selbst wenn ein solches Projekt verwirklicht würde, bedeutete das nicht automatisch den Sieg und die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft, sicher nicht. Letztlich wird das Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das bleibt Papier: Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen.“
…sluschitsja.“

Erzähler:
Der Zar ist weit, hieß dieses Motto unter Jelzin und so heißt es auch jetzt. Andererseits, so Alexander Nikulin, habe Putin ja bereits entscheidend in die Entwicklung eingegriffen, allerdings in einer Weise, welche die Lage wesentlich verschlechtert habe:

O-Ton 13: Nikulin, Forts.                    1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wy snaetje, ja by…
„Putin erklärte, dass es nötig sei, die vertikale Staatsmacht zu stärken. In der Realität bedeutet das Re-Zentralisierung und eine erneute Stärkung Moskaus für alles und jedes. Es bedeutet, dass die Leiter der örtlichen Administration von oben eingesetzt und nicht mehr von der örtlichen Bevölkerung gewählt werden; zweitens bedeutet es, dass selbst der geringe finanzielle Spielraum für ein eigenes Budget verschwindet, den sie jetzt noch hatten; es wird von den Distrikten bestimmt. Die Jelzinsche Kampagne für die Selbstverwaltung war zwar nur eine ideologische, aber in diesem Rahmen konnte man etwas machen. Jetzt waren schon die ersten Monate unter Putin äußerst angespannt. Sie zeigten, dass auch eine gänzliche Beseitigung der örtlichen Selbstverwaltung möglich ist. Dazu kommt meine eigene Beobachtung, dass ohnehin im Vergleich zu der Zeit, als es die bäuerlichen Sowjets gab, jetzt die Bedingungen für örtliche Selbstverwaltung sehr viel schlechter geworden sind.“
…obschestwa.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf die entstandene Realität wirft, was Alexander Nikulin über den ökologischen Dienst zu erzählen hat, eine der neuesten Einrichtungen, die harmlosen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik und westlich orientierter neuer Staatlichkeit vorgezeigt wird:

O-Ton 14: Nikulin, Forts.                 0,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Dewonosti godi….
„In den 90er Jahren wurden nach westlichem Muster überall in den Regionen ökologische Dienste eingerichtet. Sie sind sehr strikt. Sie fordern die formale Einhaltung ökologischer Standards. Unter den Bedingungen Russlands ist eine Erfüllung dieser Standards aber nicht möglich. Kommt also ein Beamter des ökologischen Dienstes auf die Sowchose und sagt: `Sie müssen ausmisten, sie müssen die Wege pflegen, sie müssen dies und das!´ Der Direktor hat aber keine Kräfte und keine Mittel; es ist nicht real! – Da muss man dem ökologischen Dienst dann einfach „Wsjatki“, geben, mit ihnen trinken, heißt das, sie verpflegen, ihnen Geld geben, damit sie dann wieder gehen. Der ökologische Dienst gilt deshalb als einer der schlimmsten Racketteure, Schutzgeldeintreiber, den die örtlichen Landgemeinen am meisten fürchten. So sieht es mit der Ökologie vor Ort aus.“
…na mestach.“

Erzähler:
Auch im Bereich der Industrie wollen Patriotismus und Privateigentum sich partout nicht verbinden: Die schwachen Anzeichen eines Aufschwungs in der Industrie führen nicht zu mehr Recht und Gesetz, sondern zu einem gnadenlosen Run der Spekulanten auf die wenigen effektiven Betriebe.
Ausgerechnet Betriebsrat Afonin, der den Aufschwung so sehr begrüßt, klagt bitter über diese Entwicklung. Nachdem er seine Begeisterung über die neue Stabilität geäußert hat, fährt er fort:

O-Ton 15: Alexander Afonin, Betriebsrat            0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Chatja wo to schto…
“Andererseits – was sich gegenwärtig um die Fabrik herum abspielt, das ist genau die negative Seite: dass sich alle die, die sich um die sogenannte Privatisierung von Unternehmen bemühen,  jetzt auf unseren Betrieb stürzen, um Aktien zu kaufen, Firmen, Organisationen, Personen, ganz beliebig. Für irre Summen wollen sie von unseren Betriebsmitgliedern Aktien erwerben. Wir wollen aber die Dividende für die Fabrik haben. Deswegen haben wir  jetzt faktisch einen Aufkauf von Aktien durch die Belegschaft des Betriebes organisiert, damit wir auf unserem guten Wege weitermachen können.“
… tak prodolschatj.“

Erzähler:
Der gute Weg des Betriebes – das ist der Einsatz der Gewinne für Investitionen und für die Auszahlung der Löhne. Eine paradoxe Situation ensteht: Kaum zeigt sich ein Betrieb als rentabel, stürzen sich die Aktienhaie auf ihn, während die Belegschaften sich mit Direktoren und Kommunen zusammenschließen, um feindliche Übernahmen zu verhindern. Im ganzen Lande entwickeln sich Konflikte dieser Art. Je stärker der Aufschwung, je mehr also zu verteilen ist, um so stärker werden sie zunehmen. Wladimir Putins Sozialpolitik heizt diese Entwicklung zudem in doppeltem Sinne an: Das neue Steuergesetz begünstigt die Reichen; die Ersetzung der betrieblichen Sozialfonds durch staatliche Sozialfürsorge dagegen entzieht der armen Bevölkerung die Lebensgrundlage, denn diese Maßnahmen führen praktisch zu einer Liquidierung des immer noch bestehenden Systems der naturalen Betriebszuwendungen, von denen ein Großteil der russischen Bevölkerung heute lebt, ohne ihr aber für die Zukunft einen Lohn garantieren zu können, der den Wegfall der betrieblichen Leistungen aufwiegt.
Mit der Novellierung des immer noch geltenden sowjetischen Arbeitsgesetzes, in dem weitgehende Rechte und Versorgungsansprüche festgeschrieben sind, will die Regierung gleichzeitig die Rechte der arbeitenden Bevölkerung einschränken. Realistisches Ergebnis dieser Politik, so Oleg Neterebski, Vizepräsident der „;Moskauer freien Gewerkschaften“, kann nur Protest sein oder, wie schon im Agrarbereich deutlich wurde, die Mißachtung der neuen Gesetze:

O-Ton 16: Oleg Neterebski,             1,23
Vizepräsident der „Moskauer Freien Gewerkschaften
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„liba tichi bunt..
„Entweder stiller Aufruhr oder lauter Aufruhr, aber auf jeden Fall Aufruhr. Verstehen Sie, es gibt offenen und es gibt heimlichen Aufruhr. Heimlicher Aufruhr ist auch ein Aufruhr. Das ist die vollkommene Stagnation aller Aktivitäten, grob gesagt, das ist einfach der Übergang auf ein eine andere Ebene der Gesellschaft, wo jeder für sich ist und das ganze System des Staates zerfällt. Das ist noch katastrophaler, als wenn der Mensch in einer bestimmten Situation offen protestiert. Aber ich bin Pragmatiker und deshalb erwarte ich nicht das Schlimmste. Putins Absicht der Straffung des Staates ist ja von der Idee her in Ordnung. Aber ich sehe erst einmal, dass die neuen Spielregeln vor Ort nicht gelten. Wir kennen doch unser bürokratisches System: Das ist ein äußerst langer, korrumpierter Mechanismus, bei dem der Erfolg keineswegs sicher ist. Das ist das Problem.“
…vot tscho problema.“

Erzähler:
Ein weiteres Problem wurde deutlich, als im Sommer 2000 der „Ostankino“, Moskaus Fernsehturm, ausbrannte: Bis zum Brand galt der Turm als Symbol technischer Größe der Sowjetunion, heute Russlands, ähnlich wie die Raumfahrt oder die Metro in Moskau und St. Petersburg. Seit dem Brand haben die Gewerkschaften ein neues Thema: die Überbelastung und die Überalterung der technischen Anlagen des Landes, die ohne Modernisierung zur technischen Katastrophe führen wird.
Ähnliches wie mit dem „Ostankino“ kann jederzeit bei der Metro geschehen, meint Wladimir Sassurin, Vizepräsident der Gewerkschaft der Transportarbeiter, gequält von dem Straßenlärm, der ungefiltert in sein enges, graues Büro drängt:

O-Ton 17: Wladimir Sassurin, Gewerkschafter        0,41
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„I nje tolka metro…
„Und nicht nur die Metro. Das Jahr 2003 oder 2004 ist, so weit ich weiß, bereits als Jahr der technogenen Katastrophe eingeplant. Ist das etwa normal, eine technogene Katastrophe so einzuplanen? Nötig wäre zu planen, dass sie nicht eintritt! Das kann in Russland nur der Staat. Das sage ich Ihnen nicht nur als Gewerkschaftsführer, nicht nur als Vizepräsident, sondern einfach als russischer Mensch.“
…tschelowjek.“

Erzähler:
Was Gewerkschafter Sassurin mit seinem begriff der „technogenen Katastrophe“, etwas grob übersetzt einem allgemeinen technologischen SuperGAU, nur andeutet, bekommt bei Professor Leonid Gordon, Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft, wissenschaftlich belegte Konturen: Nicht nur die Metro, nicht nur Betriebe, die gesamte allgemeine Infrastruktur samt Bausubstanz der Wohnhäuser sei gefährdet, erklärt er. Nirgends lebten so viele Menschen in Wohnblocks wie in Russland. Die meisten dieser Bauten seien zu schnell hochgezogen worden, ihre Modernisierung überfällig.. Vor allem im fernen Osten Russlands. In einem Vergleich mit den USA versucht der Professor das Problem, vor dem Russland heute steht, deutlich zu machen:

O-Ton 18: Prof. Gordon, Institut für Weltwirtschaft    1,10
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu. predstawtje sebja…
„Denken Sie an die Einfamilienhäuser in Amerika: In jedem Haus ist voller Komfort. Aber sie sind individualisiert. Die Elektrische, also die Bahn, ist natürlich zentralisiert, die Wasserversorgung, Kanalisation. Aber letztlich kann man dort selbst, auf eigene Rechnung, mit eigenen Händen etwas machen. In Russland möchten die Menschen sehr gern mit ihren eigenen Händen etwas tun. Sie machen es ja auch, wo es geht, selbst Professoren renovieren ihre Wohnungen selbst, ihre Datschen usw. Das ist eine große Reserve der Gesellschaft. Aber es gibt verschiedene Dinge, die sind so zentralisiert, da kann man alleine einfach nichts ausrichten. Deshalb ist die Situation heute zwar etwas besser als 1998, aber da gibt es diese kranken Punkte, aus denen heraus die Situation sich sehr schnell ändern kann – was Gott verhüten möge .“
…schto eta nje byla…“

Erzähler:
Eine ernüchternde Zustandsbeschreibung gibt Marina Schabanowa, Soziologin aus Nowosibirsk. Ende 2000 legte sie ein Buch zur „Sozialen Freiheit in der Transformations-Gesellschaft“ vor. Darin zieht sie Bilanz aus ihren zehnjährigen Forschungen zu der Frage, ob die Bevölkerung durch Perestroika und Privatisierung mehr oder weniger Freiheit gewonnen hat. Ihr Ergebnis: Zwar gebe es heute mehr Freiheiten, die von einer kleinen Schicht aktiver Menschen genutzt werde:

O-Ton 19: Marina Schabanowa, Soziologin            0,49
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„W`tosche wremja…
“Zugleich zeigen die Befragungen jedoch, dass das Niveau der individuellen Freiheit bei der Mehrheit der Bevölkerung sich in derselben Zeit gesenkt hat: Die Menschen wurden unabhängiger, selbstständiger und sie haben die Rechte dazu, aber unter den heute bestehenden Bedingungen halten sie sich für weniger frei. In ländlichen Gegenden meinen sogar 68 – 73%, dass sie unter den neuen Bedingungen weniger Möglichkeiten haben, so zu leben, wie sie es selbst wollen, das heißt, das ohne Hindernisse zu verwirklichen, was sie selbst wollen.“
…prepjatswijemi.“

Erzähler:
„Freiheit, ja – Möglichkeit ihrer Verwirklichung, nein“: Unter Wladimir Putins Politik habe sich dieser Widerspruch noch verschärft, meint Frau Schabanowa. Ihre Erwartungen sind düster: Auf der einen Seite entwickle sich Individualismus, vor allem bei den Jungen und bei der mittleren erfolgreichen Generation, das sei im Prinzip ja nicht schlecht, als Ergebnis davon zerfalle jedoch der bisherige gesellschaftliche Konsens. Was da heranwachse, schildert sie so:

O-Ton 20: Schabanowa, Forts.            1,15
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Nu, kak okonomitschiski…
„Nun, der ökonomische Mensch, der nur an sich denkt. Aber das spaltet die Gesellschaft, Missgunst entsteht und es wird lange keine Anerkennung des Privateigentums geben, weil man das alles als gesetzlos, unmoralisch usw. betrachtet. Das kollektive Prinzip geht verloren. Jetzt verbinden sich die Menschen nicht mehr in Kollektiven, sie schließen sich in den Familien zusammen. In Polen heißt es: `Ich bin Pole´ oder `Ich bin Katholik´. Bei uns heißt es: `Ich bin Vater´, `Ich bin Bruder´ oder wie immer. Das heißt, sehr stark definiert man sich aus der Familie, weil die Hauptaufgabe heute ist, das Überleben der eigenen Familie zu sichern. Das füllt die Menschen heute vollkommen aus. Solange sich die Menschen weiter auf diesem Niveau der ersten Befriedigung von Grundbedürfnissen befinden, werden sie keinen Losungen von irgendeiner nationalen Idee folgen.“
…nationalnuju ideu.“

Erzähler
Konkrete Änderungen der Situation seien notwendig, erklärt sie: Größere Produktionssicherheit, mehr Rechtssichertheit, bessere Förderung der Wissenschaft, insgesamt eine stärkere Rolle des Staates. Den aktuellen Maßnahmen der Regierung jedoch –  Steuergesetz, Sozialgesetz, Arbeitsgesetz – steht sie skeptisch gegenüber.

O-Ton 21: Schabanowa, Forts.             0,49
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„Vot, to jest…
“Man hat bei uns neue Gesetze erlassen, aber keine Mechanismen für ihre Realisierung aufgestellt. Jetzt sind da Menschen, die früher solche Rechte nicht hatten, sie jetzt in Anspruch nehmen wollen, aber nicht können. Das hat negative Auswirkungen auf die Freiheit. Gleichzeitig will man nicht verlieren, was man früher hatte. Beides ist nicht immer vereinbar. Kann sein, dass das in einer sich verändernden Gesellschaft für eine gewisse Zeit unvermeidlich ist. Aber die Freiheit wird leiden, wenn man den Menschen nicht entweder die neuen Rechte gibt oder die alten wiederbelebt.“
…wosratdatj starije.“

Erzählung:
Unter diesen Umständen, so Frau Schabanowa, bestehe die Gefahr, dass von Wladimir Putins „Diktatur der Gesetze“ nur die Diktatur übrigbleibe und Freiheit wie zu Zeiten Wladimir Wyssotzkis, des großen Protestsängers der Sowjetzeit, als persönliches Aufbegehren in den Untergrund abgedrängt werde.

Athmo 4: Musik – Wladimir Wyssotzki            1,23
Regie: Hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem ersten Absatz vorübergehend hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:
Probleme im Agrarbereich, Aufruhr in Betrieben, drohender TechnoGAU, der Aufschwung erkauft durch den Krieg und zudem abhängig von der Höhe des Ölpreises auf dem Weltmarkt, dazu ein gesellschaftliches Klima, in dem Rechtssicherheit durch Abdrängen der politischen Opposition und Einschränkung lokaler Selbstverwaltung erkauft wird – das sind die Marken am Horizont der putinschen Stabilität.

Regie: Ton vorübergehend hochziehen

Wo liegen die Ursachen für diese Konstellation?
Bei der Suche nach Erklärungen trifft man auf Menschen wie Wjatscheslaw Nikonnow. Er ist Chef eines „Fonds für Politik, lebt von politischer Beratung, versteht sich selbst als konservativ. Geradezu aufreizend gelassen betrachtet er das „Putinsche Fieber“, wie er es nennt. Putin ist für ihn, wie er sagt, nur die Rückkehr zur Norm“:

O-Ton 22: Wjatscheslaw Nikonnow, Konsultant            0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„U Putina njet…
„Putin hat kein Konzept. Von russischem Weg oder dergleichen hat er nicht wirklich gesprochen. Für mich ist allerdings klar, dass es das westliche Entwicklungsmodell für Russland nicht geben wird. Russland hat ein paar spezieller Besonderheiten, sowohl im nationalen Charakter, als auch im wirtschaftlichen System und in der Geografie, durch die es sich vom Westen sehr unterscheidet. Das ist hinreichend bekannt. Klar ist, dass es hier bei uns immer ein großes Ausmaß staatlicher Einmischung, dass es immer Staatswirtschaft geben wird. Russisch – das heißt: Bürokraten mischen sich ins Geschäft!“
…utschastewajet bisenissom.“, lacht

Erzähler:
Zur Norm gehöre aber auch das, so Nikonnow weiter,  was Wladimir Putin „kollektivie Traditionen“ nenne. Allerdings müsse man präzisieren: Nicht um Kollektivismus gehe es, sondern um korporative Strukturen. Genauer, setzt er hinzu, gehe es nicht um irgendeine mystische kollektive Mentalität der vielzitierten „russischen Seele“, sondern um konkrete soziale Strukturen im Zusammenwirken von Einzelnen  und Gemeinschaft, Führern und Geführten:

O-Ton 23: Nikonnow             0,58
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Übersetzer:
„Korporativism, konjeschna..
„Korporativismus ist natürlich kein Kollektivismus, von dem immer die Rede ist, also dieses angebliche kollektive Bewusstsein. Umgekehrt: Russland ist ja gerade ein sehr individualistisches Land. Bei uns sagt man oft, wir hätten den Kollektivismus aus dem Osten und die Arbeitsliebe aus dem Westen. Ich denke eher, aus dem Westen haben wir den Individualismus, das Einzelgängertum, aus dem Osten den Despotismus: Despotismus auf individueller Grundlage – das ergibt eine einzigartige Mischung! Sie ist dem westlichen Menschen wenig verständlich. Mit Sicherheit aber gibt es keine puritanische protestantische Arbeitsethik in Russland und wird es auch keine geben. Es ist ganz offensichtlich, dass es hier andere Spielregeln geben wird.“
…prawili igri.“

Erzähler:
Moskau stehe seit eh und je zwischen Zentralismus und Anarchismus, das russische Imperium finde seinen Sinn darin, die Einheit in der Vielfalt der Völker Euro-Asiens herzustellen und dies immer wieder auch mit Gewalt. Russland ist nicht Europa, konstatiert Wjatscheslaw Nikonnow schließlich, allerdings auch nicht Asien:

O-Ton 24: Nikonnow            0,15
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Übersetzer:
„Rossije eta…
„Russland ist nicht Osten und nicht Westen – Russland ist Russland. Es liegt auch nicht irgendwie zwischen etwas – es ist eine eigene Zivilisation, die sich von östlicher und westlicher unterscheidet und so wird es auch in Zukunft sein.“
..i tak budit.“

Erzähler:
In der Zwitterlage zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozalismus sieht auch Tatjana Saslawskaja die Besonderheit ihres Landes. Frau Saslawskaja war Ende der achtziger Jahre wissenschaftliche Stichwortgeberin der Perestroika; danach war sie vorübergehend als Beraterin Gorbatschows tätig. Heute ist sie Co-Rektorin im ”Institut für Sozialwissenschaften” in Moskau. In ihrem Buch, `Die Gorbatschow-Strategie´ von 1989, beschrieb sie die damalige sowjetische Ökonomie mit den Worten:

Zitator:
”Das beschriebene System  stellt eine Art Hybridprodukt, einen  Zwitter aus dem zentralisierten  planwirtschaftlichen und dem marktwirtschaftlichen  Weg dar, wobei  es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht  mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird,  sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.”

Erzähler:
Von Beziehungswirtschaft sprach sie an anderer Stelle. Viele Begriffe wurden später gefunden, um das zu definieren, was aus der Transformation des von Frau Saslawskaja beschriebenen sowjetischen Zwitters hervorging: „Übergangsgesellschaft“ „Mutant“. Sie selbst spricht heute von einem „kriminellen Monster“: In einem aber gleichen sich alle Erklärungsversuche: Früher oder später rückt bei allen die Rolle, die das Kollektiv in der russischen Gesellschaft einnimmt, ins Zentrum der Fragestellung. Gerade die Schwierigkeiten der Privatisierung ließen ein Element der russischen Sozialordnung hervortreten, das weit hinter die sowjetische, tief in die russische Geschichte zurückreicht, die „Obschtschina“, die alte russische Bauerngemeinschaft, deren gemeineigentümliche Sozialordnung zum Grundmuster der sowjetischen Gesellschaft wurde.
Boris Kagarlitzki, der schon zitierte linksreformerische Analytiker, erklärt, wie das zu verstehen ist:

O-Ton 25 : Boris Kagarlitzki             1,30
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Übersetzer:
„Schto takoje..
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Obschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umso mehr als man darum herum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befasst sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali.“

Erzähler:
Hier ist man am Drehpunkt russischer Staatlichkeit: Wer Geschichte und Aktualität des russischen Staates verstehen will, muss die Geschichte der „Obschtschina“ studieren. Teodor Schanin, Russlands zur Zeit führender Agrartheoretiker, Rektor der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“, zugleich Professor der Ökonomie in Manchester, beschreibt diese Geschichte so:

O-Ton 26: Prof. Teodor Schanin, Ökonom                        1,09
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Übersetzer:
„If you talk…
„Wenn man von der Obschtschina spricht, die es im 19. Jahrhundert in Russland gab, dann war sie ein System, das gut für die Bauern war, indem es gegen hohe Risiken der Landwirtschaft schützte in einer Situation, in der es extrem schwierig war, ohne die Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die „Obschtschina“ eine Funktion für die Regierung, nämlich, ihre Macht ohne allzu große bürokratische Strukturen auszuweiten: Ohne jemanden vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, dem Dorf den Befehl zu geben, Rekruten für die Armee zu stellen oder Steuern zu zahlen. Man brauchte keinen Beamten zu schicken. Das machten alles die Bauern selbst. Die Elite wiederum konnte unterwegs sein. In diesem Sinne war die Obschtschina effektiv nach zwei Seiten: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern und sie diente den Bedürfnissen der Regierung. Auf diese Weise schaffte sie Stabilität.“
… was so stable.“

Erzähler:
Nach innen agrarischer Ur-Kommuninismus, nach außen Instrument des Moskauer Zentralismus – das war das Doppelgesicht der „Obschtschina“, das den Westen und westlich orientierte Reformer immer wieder verwirrte. Sie schaffte nicht nur Stabilität, sie war auch selbst über Jahrhunderte stabil, weil beide Seiten an ihrer Existenz interessiert waren. Ihre neuere Entwicklung beschreibt Teodor Schanin mit den Worten:

O-Ton 27: Schanin, Forts.                 1,42
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Übersetzer:
“But this type of…
„Aber dieser Typ von Obschtschina kam in die Krise, weil einige sie verlassen wollten, andere nicht. Speziell in der Zeit Stolypins, des letzten zaristischen Reformministers, war es so. Er wollte sie auflösen, weil er fürchtete, dass sie ein Instrument für die revolutionäre Aktion werden könnte, was sie 1905, 1906, 1907 auch tatsächlich wurde. Die Stabilität der Obschtschina, ihre Kraft, ihre tiefen Wurzeln bewiesen sich sehr direkt, als der Bürgerkrieg kam; da kehrten alle Obschtschinas ins Leben zurück, auch die, die unter Stolypin aufgelöst worden waren. 1920 gründeten die Bauern selbst wieder Obschtschina, sodass diese viel mehr waren als bloße staatliche Institutionen. Die Bauern gaben dem System der Obschtschina die Präferenz vor anderen Arten zu leben. Aber diese Art wurde zerstört. Heute benutzen die  Russen das Wort Obschtschina in der Bedeutung von Gemeinde. Also, wenn es nur Gemeinde heißt, dann ist jedes Dorf eine Obschtschina; wenn es aber im Sinne von gegenseitiger Unterstützung gemeint ist, im Sinne von gemeinsamem Besitz und immer wieder vorgenommener Neuaufteilung von Land nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dann existiert sie nicht mehr
…does not exist.“

Erzähler:
Zerstört wurde die alte „Obschtschhina“ durch Stalin, der die gewachsene Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe im Zuge der Kollektivierung in staatliche Zwangsgemeinschaften verkehrte, in denen das Privateigentum aufgehoben war. Viele Bauern wurden zwangsweise in die Fabriken getrieben; wer auf dem Dorfe blieb, durfte, wie einst unter Iwan dem Schrecklichen, das Dorf nicht oder nur mit Sondererlaubnis der Partei verlassen. Der Bauer wurde Angestellter auf seinem eigenen Feld, sein Hof war Eigentum der Sowchose. Diese Verhältnisse lockerten sich nach Stalins Tod. Unter Breschnjew war der eigene Garten, waren die eigenen Hühner, war das eigene Schwein möglich, manchmal auch schon die eigene Kuh. Boris Jelzins Privatisierungspolitik zielte auf die vollkommene Auflösung der dörflichen „Obschtschina“ und der nach ihrem Muster geformen Arbeitskollektive. Den heute erreichten Stand skizziert Teodor Schanin so:

O-Ton 28: Teodor Schanin                                     0,59
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Übersetzer:
„To which extend…
„Zu welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben – ich meine, die Menschen beeinflussen sich gegenseitig – ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, im Süden Russlands, zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein `Aktiengesellschaft-Dorf´, aber es ist exakt dasselbe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft.“
… it operates.“

Erzähler:
Wie es läuft, das führt Teodor Schanin zu Erkenntnissen, die er unter dem Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ zusammenfasst, einer Wirtschaft, die außerhalb der bekannten Pole von Kapitalismus oder Sozialismus, Staatsdirigismus oder Liberalismus stattfindet. In ihr erreicht das Modell der „Obschtschina“ trotz ihrer aktuellen Desorganisation gesamtgesellschaftliche Bedeutung für eine Lebensweise, die kollektive und private, industrielle und familiäre Ökonomie in anderer als der im Westen vorherrschenden Art miteinander verbindet Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert: „Blat“ Beziehungen, heißt das Zauberwort, das schon Frau Saslawskaja zu ihrer Analyse der „Beziehungswirtschaft“ brachte. Das Wesen dieser Wirtschaftsweise erklärt Teodor Schanin so:

O-Ton 29: Schanin, Forts.                                    1,07
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Übersetzer:
„It´s economy favours…
„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst Es spielt keine Rolle, ob das Tauschobjekt gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. In der Sowjetzeit nannten wir es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht: Anschieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen.  Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“
… will stop.“

Erzähler:
„Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs“, das bedeutet: Der Austausch von Gunst, findet, so wie die russische Gesellschaft organisiert ist, selbstverständlich nicht als Aktion zwischen isolierten Individuen statt, sondern zwischen Personen, die Mitglieder von Gemeinschaften oder Kollektiven sind. Sie bringen die Möglichkeiten ihrer Gemeinschaft in den Austausch mit ein. Anders gesagt, der einzelne Mensch ist so stark wie die Gemeinschaft, die Obschtschina, der Clan, das Kollektiv, dem er angehört. Die „Gunst“, von der Teodor Schanin spricht, wird zwischen den Kollektiven ausgetauscht. Die Individuen sind nur die Vermittler, wie der von Schanin erwähnte „Tolkatsch“, der Anschieber in der Sowjetzeit.
Vor dem Hintergrund dieser Realität wird Wladimir Putin, Stabilität und zugleich Demokratie letztlich nur herstellen können, wenn er sich auf diese real existierenden sozialen Strukturen und die damit untrennbar verbundene Mentalität der russischen Bevölkerung stützt. Darin folgt er Jelzin und Gorbatschow, Lenin und Stalin, dem letzten Zaren Nicolaus II. ebenso wie den ersten Selbstherrschern Moskaus im 15. und 16. Jahrhundert. Stabilität entsteht in Russland nicht aus dem Austausch individueller Interessen auf einem offenen Markt, sondern aus der kunstvollen, wenn nötig auch obrigkeitlichen Regulierung des Gunstgeflechtes, in dem Mitglieder von Gemeinschaften handeln. Wohl vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die russische Sprache kein passendes Wort für den westlichen Begriff des Staates hat. „Staat“ kann ins Russische entweder nur mit dem Lehnwort „Schtat“, mit der Umschreibung „bürgerliche Gesellschaft“ oder mit dem russischen „Gossudarstwo“ übersetzt werden. Das letztere aber bedeutet nicht Staat, sondern Herrschaft. Dafür kennt das Russische jedoch eine Reihe von Ersatzbegriffen wie „Büroktie“, Administration“, „Macht“ und dergleichen.
Was könnte unter den Bedingungen der heutigen Veränderungen in Russland heute daraus erwachsen? Diese Frage beantwortet Alexander Nikulin aus der Pespektive der Agrarwissenschaft mit den Worten:

O-Ton 30: Nikulin                             1,11 (Text kürzer als der Ton)
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Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja….
„Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow ist ein großer russischer Agrarwissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts, der die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Diese Theorie ist eine Kombination, sagen wir, des Individuellen und des Kollektiven, wenn die einzelne Menschen in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind, dabei in Prozesse, die man einschätzen, die man rationalisieren kann. Das ist nicht einfach die Obschtschina, das ist die effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. In Abhängigkeit von Ort und wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann es sehr viele unterschiedliche Kombinationen dieser Art geben. Sie bilden sich zur Zeit spontan und arbeiten in Russland. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlern, von Politikern, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen rationalen Entwicklung zu geben. Das erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
…perspektivni putj.“

Erzähler:
Alexander Nikulin, ebenso wie sein Lehrer Teodor Schanin und die mit ihm verbundene Schule Tatjana Saslawaskajas sind nicht die einzigen, die sich Gedanken dieser Art machen. Auch unter Historikern, Philosophen und Publizisten entwickelt sich die Debatte, wie Russlands nationale Identität aussehen könnte.
Igor Tschubajs, Bruder des berüchtigten Ministers für Privatisierung in der Zeit Jelzins, Anatoly Tschubajs ist einer von ihnen. Er ist Historiker an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Er leitet dort den Forschungsbereich einer „Philosophie Russlands.“ Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Weltbildes, so Igor Tschubajs, nachdem klar wurde, dass die dadurch entstandene Leerstelle nicht durch einen einfachen Import aus dem Westen zu schließen sei, ebensowenig aber durch eine Rückkehr zum imperialen Russland des Zarismus, bleibe für Russland im Grunde nur ein Weg:

O-Ton 31: Igor Tschubajs, Historiker
2000/2, Band 2, A, 492
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„Jedinstwenni prijemlimi putj…
„Der einzige annehmbare Weg ist der weg der Akzeptanz, der Weg der Wiedervereinigung mit sich selbst. Ich kann sagen, dass bei uns in unserem Lande jetzt zum ersten mal seit siebzig Jahren eine neue, unabhängige wissenschaftliche Schule entstanden ist, eine neue wissenschaftliche Richtung wie seinerzeit die Frankfurter Schule in Deutschland oder die Wiener Schule der Philosophie. Die Schule, die bei uns entstand, nennt sich „Schule der Akzeptanz“
492 ..schkola priemstwa.“

Erzähler:
Akzeptanz und Modernisierung von Grundwerten des russischen Selbstverständnisses ist das Anliegen dieser Schule, so Igor Tschubajs. Um drei Aspekte gehe es: Um die „Sammlung russischer Erde“, das ist die Frage des russischen Imperiums, um die kollektiven Gemeinschaftstrukturen, die Obschtschina, und um die orthodoxe Religion. Eine Erneuerung dieser Grundwerte, also eine neue russische Idee könne aber weder von oben verordnet, noch den Menschen und Völkern Russlands übergestülpt werden. Sie müsse von unten wachsen. Das braucht Zeit.

Athmo 5: Musik –                     2,12
Bulad Okutschawa“ „Noch dreht sich die Erde…“
Regie: Verblenden, Ton allmählich kommen lassen, am Ende hochziehen und ausklingen lassen

Erzähler:
„Noch dreht sich die Erde“, singt Bulad Okudschawa. Er wird von allen verehrt. In seinen Liedern sind die Gegensätze zwischen Asien und Europa, zwischen Aufbegehren und Despotismus, zwischen Gunstwirtschaft und Dirigismus, an denen westlich orientierte Reformer in Russland immer wieder gescheitert sind, zu einer zärtlichen Symbiose vereint. Ob die von einem starken Mann Putin angestrebte Verbindung von Privateigentum und Patriotismus geeignet ist, diese Symbiose zum Wohle Russlands zu fördern, muss sich erweisen.