Neue Heimat, neue Kultur. Porträt des Schriftstellers Kai Ehlers und der Künstlerin Frederike von Dall ´Armi

In: KursKontakte, Zeitchrift für neue  Denk- und Lebensqweisen, 152, August/September 2007

Kulturkreatives Spektrum – Wandel zum Integralen

Wer sind die „Kulturkreativen“, die allmählich auch von den Mainstream-Medien wahrgenommen werden? Ist es tatsächlich ein Drittel unserer Bevölkerung – wie die jüngste Studie für Frankreich zeigt –, das sich nicht mehr mit dem vorherrschenden materialistisch-naturwissenschaftlichen Weltbild identifiziert, sondern nach ganzheitlichen Erfahrungen und neuen Werten sucht? In einigen Zeitschriften der Mediengruppe Kulturell Kreative erscheinen in loser Folge Porträts von Persönlichkeiten, die man als „Kulturkreative“ bezeichnen könnte – und das sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen. Dies ist der dreiundzwanzigste Beitrag dieser Serie in KursKontakte. Weitere Porträts finden Sie auf www.kulturkreativ.net.

Hamburg im Sommer1950. Den sechsjährigen Kai Ehlers zieht es mit Macht zu seiner Mama. Zwar musste er schon zu Bett gehen, während sie noch einmal das Haus verlassen hat, um Bekannte in der neuen Reihenhaus-Siedlung zu besuchen – aber Kai kann nun einfach nicht mehr auf sie verzichten. In der Dämmerung steigt er aus seinem Bettchen, klemmt sich die Decke unter den Arm und verlässt das aus über die Gartentür. Die Erwachsenen fragen sich später, wie der kleine Junge es wohl geschafft haben ag, mitsamt seinem Gepäck kreuz und quer über zahlreiche Gartenzäune zu steigen. Doch tatsächlich bringt seine Suche ihn irgendwann zum richtigen Grundstück, wo er seine verdutzte Mutter in die Arme schließt.

Ein idyllisches Landhaus in der Bodenseeregion Mitte der 60er-Jahre: Die kleine Frederike von Dall’Armi ist das jüngste von sechs Kindern der Familie eines gutsituierten Sägewerkbetreibers. Alle sind hier schwer beschäftigt. Notfalls bis spät in die Nacht hinein harrt Frederike manchmal in ihre Bettdecke gehüllt auf der Treppe aus, um die Mutter abzupassen. In den kostbaren zehn Minuten, in denen die beiden dann zusammen noch ein Brot essen, hat sie ihre Mama endlich einmal ganz für sich.

Kai und Frederike – obwohl sie durch sehr unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, Zeiten, Orte und Szenen geprägt sind, werden die beiden Kinder, die damals in eine Bettdecke gehüllt auf ihre Mutter warteten, später zueinander finden. Als es Mitte der 80er-Jahre soweit ist, arbeitet Kai, dem ein Lehrer prophezeite, er würde entweder als Verbrecher oder als Revolutionär enden, als undogmatischer Redakteur einer kommunistisch orientierten Zeitung, und Frederike ist eine anthroposophische Eurhythmiekünstlerin, die nach der richtigen Inspiration sucht, ihrem Anspruch nach positiver Einmischung in die Gesellschaft einen geeigneten Ausdruck zu geben. Aber schön der Reihe nach …

Kriegskind

Eine einfache, glückliche Kindheit sieht wohl anders aus. Als Kais Mutter gegen Ende des Kriegs mit Mühe und Not vor den Vergeltung übenden Tschechen aus dem Sudetenland flieht, stirbt das Baby fast an der Ruhr. Nur dank des volksmedizinischen Ratschlags einer alten Russin – „Kind krank! Trinken schwarzen Tee mit Pferdemist!“ – kommt Kai gerade noch durch. In Dresden wird die Mutter verschüttet; verletzt macht sie sich mit dem rachitischen Kai und seiner älteren Schwester auf ins heimatliche Hamburg. Da der Jüngste jedoch nicht in der Stadt, sondern im April 1944 (zum Leidwesen der Mutter nur fast termingerecht zu „Führers Geburtstag“ – sie hätte die Fahnen lieber zur Geburt ihres Sohns statt Hitlers hochgezogen gesehen) im Sudetenland geboren wurde, lässt die städtische Nachkriegsverwaltung das papierlose Kind jahrelang nicht hinein. Erst mit sechs Jahren darf Kai nach langem Behördenkampf und einer langen Zeit bei einer Pflegefamilie endlich bei seiner Mutter wohnen. Doch sie kann nicht in dem Maß für ihren Sohn da sein, wie er es bräuchte. Wegen ihrer Arbeitsbelastung gibt sie Kai abermals weg, diesmal in die Familie eines Dorfschmieds in der Lüneburger Heide. Diesen Abschnitt erlebt Kai als eine der intensivsten Zeiten seines Lebens, während der er ungeheuer viel lernt. Neben der Schule muss er wie ein Alter in Haus, Hof und Betrieb arbeiten. Das war zwar höllisch anstrengend, aber er zieht noch heute Kraft aus der intensiven Erfahrung des Bauern- und Schmiedelebens. Gut in Erinnerung ist ihm zudem die sonderbare Stellung seiner Pflegeeltern im Dorf: Da die Frau des Schmieds vormals als eine von drei begehrenswerten Schwestern in der Nachbargemeinde selbständig einen etwas abgelegenen Haushalt führte, hängt ihr der Ruf einer Hexe an. Im Dorf erfährt Kai wegen dieses vermeintlich schlimmen Umstands allgemeines Mitleid; der Schmied erkrankt wegen der üblen Nachreden gegenüber seiner Frau am Magen. Kais Mutter erkennt die Unmöglichkeit der Situation, und da er ohnehin von der Mittel- auf die Oberschule wechseln soll, erlebt Kai erneut ein Kontrastprogramm: Er landet für die folgenden zwei Jahre in einer bigotten Pastorenfamilie am Rande Hamburgs.
Als er bald vierzehn ist, nimmt ihn die Mutter, die nun offenbar gewillt ist, ihre bisherige Nicht-Präsenz zu kompensieren, wieder bei sich auf. Sie hat ihm ein „perfektes“ Zimmer eingerichtet, mit farblich abgestimmten Möbeln und Wänden: „Alles Etepetete!“ Entsetzt von diesem Ausdruck der Fremdbestimmung gestaltet Kai zunächst einmal die Tapeten seines perfekten Gefängnisses großflächig mit Kohlestiften um. Sofort begreift die Mutter die Vergeblichkeit ihres Versuchs, die verlorene Zeit durch materielle Zuwendung wieder gut zu machen, und so hält sich ihr Zorn in Grenzen. Für anderthalb Jahre versuchen die beiden, miteinander auszukommen, doch Kais Mutter muss sich eingestehen, dass sie mit dem pubertierenden Schlüsselkind nicht zurechtkommt. Abermals muss Kai weg, diesmal in ein Förderheim für schulisch Benachteiligte bei Osnabrück, das sich in der Realität als Heim für schwererziehbare Schüler entpuppt: „Einfach grauslich!“ Als aufkommt, dass er statt zum Konfirmandenunterricht in die Tanzstunde gegangen ist, will der Heimleiter handgreiflich werden, doch Kai kann die Ohrfeige abwenden, indem er mit seiner Mutter droht. Tatsächlich steht sie zwei Tage später vor der Tür und unterstützt ihren Sohn dabei, bis zu seinem Abitur in einer Pension unterzukommen. „Sie war zwar auf Distanz zu mir, aber wenn es darauf ankam, war sie solidarisch zur Stelle,“ hält Kai ihr heute zugute.

Schon mit vierzehn Jahren führt Kai intensiv ein Tagebuch, das er bis zum heutigen Tag unter dem Titel „ME – Mein Ersatz“ weiterschreibt: „Meine Mutter redete nicht mit mir, deshalb musste ich mir das Buch zulegen.“ Schreiben ist sein Lebenselixier. Im konservativen Gymnasium gründet er eine Schülerzeitung, ist auch als Schulsprecher und Landesschulsprecher aktiv. Seit er dem Internat entfliehen konnte, verbucht er die restlichen Schuljahre als gute Zeit, weil er sich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihn tatsächlich interessieren; unter anderem gründet er einen Arbeitskreis, in dem zum Beispiel seine Gedichte vertont werden. In der Osnabrücker Gegend bleiben wird er aber nicht. Nachdem sein Ruf im Ort spätestens durch ein phänomenales Abiturbesäufnis vollends ruiniert ist, zieht er für eine Weile durch die Welt, kehrt jedoch aus Italien zurück, weil seine Mutter möchte, dass er Lehrer wird.

In Göttingen studiert Kai „alles Mögliche“, wohnt wunderschön in einem Gartenhaus, dessen romantisches Ambiente den Rahmen für erste Frauenbegegnungen abgibt. Endlich einmal so etwas wie Heimat? Sich-heimisch-Fühlen auch in der lange entbehrten weiblichen Energie? Vielleicht. – Indes, das Studium von Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften vermag ihm bald nichts mehr zu geben. Auch ein Göttinger Literaturzirkel kann ihn nicht halten. Im Jahr 1967 bricht Kai aus der Idylle nach Berlin auf, wo er – nicht ganz zu unrecht – den Zeitgeist vermutet.

Idyll am Bodensee

„Ich bin die ersten zwanzig Jahre in einer äußerlich ganz und gar behüteten Situation aufgewachsen,“ berichtet Frederike über ihre Kindheit und Jugend. Die Holzhändlerfamilie bewohnt ein wunderschönes Anwesen in der „lyrisch-musikalischen Landschaft“ des Bodensees. Der Vater, ein vertriebener Junker aus Posen, hat noch fünf Kinder aus erster Ehe. In der Familie wird viel gesungen, die Mutter hat eine schöne Stimme und lässt sie beim Abwaschen, Äpfelpflücken oder Autofahren hören. Mit sechs Jahren beginnt Frederike, sich das Klavierspiel beizubringen, zunächst autodidaktisch.Ihr großes Ziel sind Beethovens Sonaten. Musik ist wie die Natur ihr Zuhause: Den Bach und den Bäumen des Grundstücks kann sie sich mehr anvertrauen als der Welt ihrer Familie: „Das äußere Heil war im Grund ziemlich marode, weil die Beziehungen nicht klappten. Der Vater war innerlich an der Vertreibung zerbrochen, die ganze Betriebsführung im Sägewerk lag auf den Schultern meiner Mutter.“ Chronisch überarbeitet kann sie die kleine Frederike nicht angemessen begleiten, auch was die Förderung des jungen musischen Talents betrifft.
Und noch etwas anderes, eigentlich Unerklärliches überschattet Frederikes Leben schon früh: Die Themen Tod und Krieg lassen sie nicht los. Im Kindergarten in Friedrichshafen fühlt sie die Anwesenheit der vielen im Weltkrieg umgekommenen Menschen. Auch die unverarbeitete Kriegssituation ihrer Eltern nimmt sie intuitiv wahr und kann diese dunkle Vergangenheit nicht in Einklang bringen mit der eigenen, oberflächlich so heilen Gegenwart. Als sie mit drei Jahren – vielleicht zum ersten Mal bewusst – Musik hört, kommen ihr die Tränen, weil sich ihr darin alles Gegensätzliche der eigenen Situation offenbart. Nur mit einem Kirschbaum kann sie über diesen Abgrund sprechen. Oft läuft sie in den Wald, möchte sich am liebsten an die Wurzeln der Buchen klammern oder sich mit bloßen Händen in die mütterlich-schützende Erde eingraben. In der Schule zieht die eigentlich unnahbare Einzelgängerin Scharen von Kindern an, wenn sie die tollsten Phantasiegeschich-ten mythischer Art erzählt. „Mich hat beschäftigt: Wo hört die Welt auf, und wo ist die Brücke, über die es in den Himmel geht?“ Mit vierzehn Jahren beginnt die von Freunden und Lehrern Unverstandene in den Schriften Sartres und Camus’ zu suchen. Nihilismus gemischt mit Depression, Flucht in Musik und Natur, Existenzialismus und Surrealismus – das klingt wie die Blaupause für einen rabenschwarzen Song von The Cure. An manchen Tagen, wie dem ihrer verhassten Konfirmation, überlässt sich Frederike völlig den Tränen.

Dann erkrankt ihre Patentante, eine überzeugte Anthroposophin. Frederike fährt in das Steiner-Mekka Dornach, um sie zu pflegen. Bereits mit vier Jahren hatte sie im berühmten Goetheanum eine Eurhythmieaufführung gesehen. Die Darsteller vermittelten ihr damals den Eindruck von tanzenden Engeln auf Erden – eine Offenbarung für das kleine Mädchen, das seitdem immer wieder nach Gelegenheiten giert, eine solche Aufführung zu sehen. Nun, mit sechzehn, entdeckt sie bei den Dornacher Anthroposophen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die wie sie selbst danach streben, Kunst und Natur zu verbinden. Frederike ist sich sicher, ihren Weg gefunden zu haben, sie verschlingt Steiner-Literatur und beginnt, intensiv zu meditieren. Dies verhilft ihr zur Überzeugung, dass sie als „absoluter Fremdling“ in der normalen Welt nicht gezwungen ist, sich anzupassen. Dennoch flüchtet sie nicht ins Esoterische, sondern setzt sich in dieser Zeit auch intensiv mit Literatur zur Zeitgeschichte auseinander. „Groll und Zorn und eine unglaubliche Wut über das System“ erfassen sie. „Hätte ich nicht die Anthroposophie kennengelernt, wäre ich auch auf die Barrikaden gegangen,“ meint sie heute mit Blick auf Kai. So aber habe sich ihre Revolution im Inneren abgespielt.

Kulturbruch und Synthese

Als Kai 1967 nach Westberlin kommt, gibt es dort zwar noch keine Barrikaden wie ein Jahr später in Paris. Aber offenbar passiert in der Mauerenklave etwas völlig Neues, und dieser Kulturbruch lockt ihn gewaltig. Er weiß, dass er zunächst etwas erleben muss, bevor er als Literat etwas Substanzielles schreiben kann. In den Trümmerhäusern der Stadt teilen die Hippies in spontanen und offenen Gemeinschaften ihr weniges Hab und Gut. Kai ist dabei, doch Jahre später erst wird er verstehen, was ihn an den 68er-Geschehnissen und späteren gesellschaftlichen Übergangsphasen so reizte: „Ich selber bin ein lebender Kulturbruch. In meiner Person bricht sich die mitteleuropäische Kultur sowohl sozial als auch kulturell-politisch. Schon als vater- und heimatloses Kind habe ich mich gefragt, ob ich der Sohn Goethes oder der Sohn Hitlers bin. Mein Grundproblem, mit dem sich auch alle meine Bücher beschäftigen, war und ist deshalb dies: Wie kann ich Heimat und Beziehung immer wieder neu herstellen?“

In Berlin und später in Hamburg erlebt Kai nun seine Revolutionszeit, die Zeit „der Entstehung seiner Person“, wie er es ausdrückt. Innerhalb der 68er-Szene ist er ein Grenzgänger zwischen den Lagern der hyperpolitischen Studenten und der Lebenskünstler-Hippies, die nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst transformieren wollen. 1970 zieht er nach Hamburg, wo er mit Freunden in einer alten Villa die „Ablassgesellschaft“ ins Leben ruft – eine berüchtigte revolutionäre Künstlerkommune mit anarchistischen Ansätzen, die bald noch weitere Ableger unterhält. „Wir waren der Kunstterror schlechthin. High life! Dort haben wir alles gemacht, was man den 68ern so nachsagt …“

Nach anderthalb Jahren geht die Kommune auseinander und Kai landet schließlich mit einem Salto mortale in einer der größeren und undogmatischeren der zahlreichen Post-68er-K-Gruppen, dem „Kommunistischen Bund“. Diese Gruppierung streitet mit ihrer Zeitung „Arbeiterkampf“ (heute: „Analyse & Kritik“) gegen Krieg, neo-faschistische Tendenzen und für eine menschliche Gesellschaft. Als Redakteur ist es Kai über Jahre hinweg ein besonderes Anliegen, die Gruppe für konkrete gesellschaftliche Utopien – für die Frage nach echter kultureller Erneuerung – zu öffnen. Da er nebenher Yoga macht und sich nicht scheut, etwa auch die Bhagwan-Anhänger als Teil der politischen Bewegung mitzudenken, gilt er parteiintern als bunte Kuh.

Mitte der 80er-Jahre beginnt Kai schließlich, die Veränderungen, die er für die eigene Gruppe und die eigene Gesellschaft erhofft, in der Sowjetunion zu spüren. Wie 1968 zieht ihn der dort sich ankündigende Kulturbruch wie ein Magnet an. Zwei-, dreimal reist er noch vor der Wende als Tourist, später als Touristenführer nach Russland – und bei einer dieser Fahrten begegnet ihm auf der Fähre nach Helsinki eine schüchterne Frau …

Frederike hatte sich schließlich für die Eurhythmie- Ausbildung entschieden und tourte bereits seit einigen Jahren mit einem Ensemble durch ganz Europa, doch anders als das Gros ihrer Kollegen mit einer starken politischen Motivation: „Vermitteln wir auch das, was dahintersteht, auf der Bühne?“ fragt sie sich, „Können wir beispielsweise die Menschen, die im Kohlebergwerk rackern und mit dieser Grundlagenarbeit unser Leben erst ermöglichen, gedanklich einbeziehen? Wie kann ich diesen Menschen etwas zurückgeben?“ Sie wünscht sich, viel stärker gesellschaftlich zu wirken und endlich die normalen Menschen kennenzulernen. Und sie will endlich den Mann treffen, der ihre Mission teilt – sie weiß sogar schon, wie er aussieht. Als sie Kai auf der Hinfahrt über die Ostsee sieht, spürt sie sofort, dass er der Richtige ist und sie nun eigentlich handeln müsste. Gut, dass sie beide zufällig auch für die Rückfahrt dieselbe Fähre nehmen und er sich – seinerseits von der Fremden angezogen – in ihre Nähe setzt, während sie noch immer überlegt, wie sie über ihren eigenen Schatten springen und ihn ansprechen soll. Das erste Gespräch dauert bis nachts um vier, wobei Kai sich erinnert, dass es eher ein Interview war, das sie mit ihm führte. Einfach alles will sie von ihm wissen und zeigt sich fasziniert von den Möglichkeiten des politischen Wirkens. Es dauert aber noch eine Weile, bis aus der Künstlerin und dem Kulturbruchforscher ein Paar wird. Immer wieder, sagt Kai, müsse er sich seither entscheiden, mit dieser „fremden Geschichte“ in Beziehung zu sein. An Frederike habe er jedoch gelernt, das Andere zu schätzen und es bewusst anzustreben, das Fremde kennenzulernen, weil es eine Bereicherung sei, wenn Gegensätze zusammen einen neuen Körper formen. Dies sei der Erfolg seiner Suche nach neuer Heimat.

1989 verlässt Kai nach fünfzehn Jahren den Kommunistischen Bund. Er merkt, dass er diesen nicht für neue Horizonte öffnen kann. Am Erscheinungstag der letzten AK-Ausgabe unter seiner Beteiligung schenkt ihm Frederike einen Sohn. Wieder löst neue Heimat die alte ab.

Integriertes Leben

Die Wende im Osten bringt dem Paar schließlich die Gelegenheit, ihre unterschiedlichen künstlerischen und politischen Herangehensweisen sinnvoll zu verbinden. Auf einem russischen Kongress von 400 denkoffenen Psychotherapeuten ermuntert Kai Frederike – die nie zuvor öffentlich gesprochen hat – über „anthroposophische Psychotherapie“ zu referieren. Im Foyer des Saals hat er selbst ein kretisches Labyrinth nachgebaut und leitet darin „Transformationsübungen“ an. Das später noch oft wiederholte Seminar will anhand der Figur des Labyrinths den Wandlungsprozess „sinnlich erfassbar, methodisch erkennbar und auf die persönliche Befindlichkeit und Lebenssituation beziehbar machen“. Die gelungene „Anschauungshilfe in Soziokultur“ im Verbund mit Frederikes Wirken gibt der Veranstaltung einen starken Impuls – eine Sternstunde für das Paar.

Noch weiter im Osten, in der Mongolei, knüpft Kai über viele Jahre hinweg Kontakte zur nomadischen Bevölkerung. Die transformatorischen Veränderungen, denen auch diese noch nicht industrialisierten Gesellschaften unterworfen sind, wird er später in einem Buch über die „Zukunft der Jurte“ beschreiben. Andere seiner zahlreichen Publikationen behandeln die für den Westen zunehmend lehrreichen Ansätze zur Selbstorganisation in der postsowjetischen Gesellschaft („Die Erotik des Informellen“; siehe KursKontakte 150) und im gesamten asiatischen Raum („Asiens Sprung in die Gegenwart“, mehr Infos zu seinen Büchern siehe www.kai-ehlers.de).

Anregend auf Kai und Frederike wirkt die Begegnung mit dem Pionier der Neuen Arbeit, Frithjof Bergmann (siehe KursKontakte 147). Frederike, die Eurhythmie seit der Geburt ihres zweiten Kindes schwerpunktmäßig therapeutisch einsetzt, will mit einer Handvoll Mitstreiter die Vision eines „Eurhythmie-Werks“ realisieren, das nach Bergmannschen Ideen die herrschende Arbeits- und Konsumlogik auf den Kopf stellen soll: „Für Wellness und Heilung ein Vermögen zu bezahlen, das stimmt für mich nicht. Mit Eurhythmie produzieren wir kostbare Energie – Wärme, Licht, gute Luft im geistigen Sinn. Wir verstehen das Teilnehmen an einem Eurhythmiekurs als Arbeit, von der man am besten noch hundert Euro mit nach Hause nimmt. Das ist völlig anders als beim herkömmlichen Wellness-Konsum, wo man sich aufbaut, nur um anschließend wieder vom System fertiggemacht zu werden.“ Wenn Frederike erzählt, wie sich ihre Hamburger Eurhythmiegruppe allmählich zu einer politischen Kraft entwickelt, klingt das gar nicht abwegig: In der neuen Gesellschaft gehe es um die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Mittels Eurhythmie könnten die Menschen an die Quelle der Sprache gelangen und dort ihr Kreativitätspotenzial entdecken.

Kai begleitet Frederikes Projekte mit wohlwollendem Abstand: Er steht der Gruppe als Gesprächspartner zur Verfügung, selber tanzen möchte er aber nicht. Es gibt andere Stricke, an denen sie besser gemeinsam ziehen können. Nach Erscheinen von Kais Buch über die Idee „ Grundeinkommen für alle“ als Sprungbrett in die integrierte Gesellschaft“ (siehe KursKontakte 150) gründen sie Anfang 2006 ein Forum, in dem diskutiert wird, welche kulturellen Veränderungen notwendig wären, damit ein garantiertes Grundeinkommen tatsächlich die erhofften positiven Effekte zeigen kann. Denn was hilft dieses Instrument, wenn niemand gelernt hat, selbstbestimmt zu arbeiten oder auch nur sinnvoll mit Freizeit umzugehen? Ein fundamental anderes Verständnis von Arbeit scheint nötig, und Kai setzt in dieser Hinsicht insbesondere auf den Vorbildcharakter der bestehenden Gemeinschaftsprojekte sowie Inspiration aus dem Krisenmanangement der russischen Gesellschaft und Rudolf Steiners Dreigliederungsgedanken (siehe KursKontakte 129). Hat sich Kai, der seine Bücher mittlerweile auch bei einem anthroposophischen Verlag veröffentlicht, zu einem „Anthro“ gewandelt? „Mein Anliegen ist das, was ich integrierte Gesellschaft nenne: das in-Beziehung-Setzen der isolierten Einzelbewegungen. Hier möchte ich denkerische Prozesse anstoßen. Ich bin aber kein Nachbeter: Ich habe über die Neue Arbeit geschrieben, bevor ich Bergmann kennengelernt hatte, war in Russland, bevor Gorbatschow an die Macht kam. Was ich sehe, trifft sich oft mit dem, was andere sehen: auch zum Beispiel mit Steiner, obwohl ich kein Steinerist bin. Und wenn ich unabhängig zu ähnlichen Schlüssen komme wie andere, rkenne ich daran ihre Gültigkeit.“

Die Beschäftigung mit den russischen und westeuropäischen Gemeinschaften neuen Typs lässt bei Kai die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf erneut in den Vordergrund treten: Die derzeitige Kleinfamilie mit zwei Kindern, Häuschen, Hühnern, Hund und Katze, die sich an die Kommune und K-Zeit anschloss, ist eigentlich nicht das, was Kai sich einmal so vorgestellt hat, selbst wenn – zur Empörung der Nachbarn – eine original mongolische Jurte den Garten verschönert.

So steht also bei Kai und Frederike einmal mehr die Suche nach neuer Heimat an. Gemeinsam machen sie sich daran, aktiv neue Beziehungen aufzubauen – späteres Finden von Gemeinschaft und einer neuen Kultur nicht ausgeschlossen. .

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