Auszug aus meinem mongolischen Tagebuch

Auszug aus meinem mongolischen Tagebuch

29.August 1997
Heut ist mir aufgefallen, was hinter dem mongolischen Vorhang zum Vorschein kommt – sehr einfach, so einfach, daß ich es vorher schlichtweg übersehen habe: die nomadische Lebensweise selbst und soweit es das westliche Massenbewußtsein betrifft, die Angst der siedelnden Welt vor, und die Sehnsucht nach dieser Lebensweise.
Interessant, was Herr Erdenzogt zur Frage der Allgemeingültigkeit, bzw. Besonderheit des mongolischen (bzw. altazischen) Nomadismus vorbringt: eben die Tatsache, daß die Mongolei von ihren natürlichen Voraussetzungen her ein besonderer Raum ist, der besondere Tierhaltungs- und Bewegungsregeln hervorgebracht hat, die in anderen nomadischen Zivilisationen nicht entwickelt wurden – weder in der arabischen, noch in der afrikanischen, amerikanischen oder australischen Welt – eben jene Besonderheiten der Kontinentalität etc. wie oben aufgezählt.
Ganbold wies noch daraufhin, daß ja auch die amerikanischen Viehzüchter bis heute nomadisieren – allerdings auf einem anderen technischen Niveau.
Insgesamt gehört zur Auseinandersetzung mit der zukünftigen Entwicklung der nomadischen (speziell mongolischen) Gesellschaft unbedingt die Tatsache, daß sich auf Grund der besonderen Voraussetzungen keine Infrastrukur, bzw. nur eine mäßige Infrastruktur (auf dem Lande und spiegelbildlich in der Stadt) herausgebildet hat, konkret: daß keine alte Technik, keine alten Wege und Verbindungen, kaum alte Fabriken die heutige Entwicklung stören. Daraus folgt die einmalige Situation, die nomadische Lebensweise unmittelbar mit neuester, d.h. konkret mobiler elektronischer und ökologischer Technik verbinden zu können – ganz genau besehehen, sogar zu müssen.
Hier verbinden sich die kritischen Anmerkungen des Ornitologen aus dem Biologischen Institut der Universität, der sich gegen die Verwandlung der Mongolei in ein Museum für ausländische ökologiehungrige Touristen wendet, mit den Vorstellungen von der nomadischen Lebensweise als universelle Ökologie zu einer in die Zukunft weisenden möglichen Alternative eines modernisierten Nomadentums.
Nicht die Rückkehr in eine heile vorindustrielle Welt ist angesagt, sondern die bewußte Aufnahme dieses Impulses zu einer einfachen Lebensweise auf höherem technischen Niveau. Klar ist aber, daß dabei die jetzige Form des sich selbst durch ständigen Warenausstoß und die Produktion von künstlich angeheiztem Konsum verwertenden Kapitalismus transformiert werden muß in eine Wirtschaftsform, die nach den vorhandenen Bedürfnissen produziert, statt Bedürfnisse künstlich zu wecken. Das bedeutet, daß diese Entwicklung nur in der Auseinandersetzung mit der jetzigen Form des sich ungesteuert selbst verwertenden Kapitalismus erreicht werden kann.
Wir haben es also mit einer anderen Art der Modernisierung zu tun als der, von der die westliche Welt gegenwärtig spricht, wenn sie sich – in ihrer Wachstumslogik befangen – immer neue Wellen technischer Erneuerung ausdenkt, die nur durch die Folge der Modelle begründet sind, statt durch ihre Eignung für diese nomadisierende Lebensweise.
Kriterium zukünftiger Modernisierung wäre unter solchen Perspektiven nicht das Wachstum, sondern die Eignung der technologischen Erneuerung und sonstigen Produktion für eine Lebensweise, die den Menschen ihre Beweglichkeit wiedergibt…
Hier ist jetzt zu definieren, was Beweglichkeit heißt: Tatsächliche Mobilität, wie sie der heutige Kapitalismus bereits als neues Phänomen spontan hervorbringt, die aber heute noch im Widerspruch zu den gegebenen Strukturen unserer aktuellen Gesellschaften steht? Oder (nur) virtuelle Mobilität, die sich auf der Basis drahtloser Kommunikation entwickelt? Oder eine Verbindung von beiden Elementen?
Das einfache Leben – streßfreier als die jetzige Einbunkerung in den Stau, in dem wir zur Zeit stecken, liegt also nicht hinter uns im Rückgriff auf vorindustrielle Zustände, sondern in der Modernisierung des Nomadentums, anders gesagt in der Anerkennung der spontanen Formen von Mobilität (des Kapitals, der Arbeitskäfte, des Tourismus) als Vorboten einer neuen Lebensweise, die dann aus einer Bedrohung, die sie jetzt zu sein scheint, zu einer gesellschaftlichen Bereicherung führen kann, wenn sie bewußt aufgenommen und von den Zwängen der Selbstverwertungs-Modernisierung befreit wird.
Dies verbindet sich jetzt mit der Thematik meines vierten Buches, nämlich den kooperativen Inseln von Naturalbeziehungen im globalen Netz. Die Beziehungen innerhalb dieser Inseln sind – ganz in dem Verständnis von Nomadentum als universeller Ökologie – im Wesen nomadischer Natur, ein engeres Verhältnis zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Mensch und Mensch.
Hier schließt sich der Kreis zu den traditionellen Formen und Werten der nomadischen Lebensweise.

Kai Ehlers. Publizist,
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