Aktiengesellschaft „IRMEN“ Ausnahme oder Beispiel für einen neuen Weg der Mischwirtschaft?

Im tiefen Sibirien, anderthalb Autostunden von der sibirischen Metropole Nowosibirsk nach Süden, liegt am Ufer des zum Obschen Meer gestauten Ob die geschlossene Aktiengesellschaft (AOST) IRMEN.
Sie gilt nicht nur als erfolgreichstes Agrarkombinat der Region von Nowosibirsk, ja Russlands; sie gilt darüber hinaus als Musterbetrieb für einen erfolgreichen Weg zwischen früheren sozialistischem und heutigen marktwirtschaftlichem Management und neuen Formen der Kooperation zwischen Stadt und Land, agrarischer und industrieller Wirtschaft.
Die Aktiengesellschaft „Irmen“ ging aus der vormaligen Kolchose „Bolschewik“ hervor, schon zu Sowjetzeiten ein Musterbetrieb. Ihr Chef Juri Fjodorowitsch Bugakow, war vor Perestroika und ist heute als guter Hausherr über Sibirien hinaus bekannt. Die ehemalige Kolchose ist heute als geschlossene Aktiengesellschaft organisiert. Die Gemeinde „Irmen“ umfasst ca. 3500 Menschen in zwölf Dörfern, frühere Einzel-Kolchosen, auf einem Gebiet von 23 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche und 18 Hektar Weideland. Die Felder liefern einen Ertrag von 35 – 50 Zentner Korn pro Hektar je nach Niederschlag. Auf der Hälfte des Weidelandes wird Heu geerntet. Die Gesellschaft hält 6500 Köpfe Großvieh, davon 2300 Milchkühe, die täglich 156 Tonnen Milch abgeben. Dazu kommen 3000 Schweine, sowie eine ausgedehnte Pelztierzucht und Wildtierpflege, die aus Abfällen im eigenen nahen Wald unterhalten wird.
„Irmen“ ist nicht einfach ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, erklärt Direktor Bugakow, es ist ein Kombinat mit vielen verschiedenen Arbeitszweigen. „Wir produzieren jeden Tag 46 Tonnen Milch. Wir verarbeiten sie hier bei uns. Wir haben eine schwedische Anlage zur Weiterverarbeitung der Milch. Wir stellen heute 12 verschiedene Milchprodukte her – Jogurt, Smjetana, Quark, Kefir, sogar Kumis. (alkoholisierte Stutenmilch – K.E.) Wir verkaufen das in Nowosibirsk. Wir verarbeiten aber auch eine große Menge Fleisch weiter. Wir stellen Mehl her und verkaufen es. Und um nichts wegzuwerfen halten wir auch noch die wilden Tiere. Wir haben auch unsere eigene Ziegelei. Sie stellt sieben Millionen Ziegel im Jahr her. Wir bauen damit selbst und verkaufen obendrei zu günstigen Bedingungen in die Umgebung. Das heißt, alles was wir produzieren, verarbeiten wir auch selbst weiter. Über die Weiterverarbeitung hinaus haben wir eine eigene kleine Produktion und unsere Handelsabteilung. Wir unterhalten dreizehn Geschäfte – einen Laden hier vor Ort, einen im Bezirkszentrum Ordinsk und ein sehr gutes Geschäft in Nowosibirsk. Da haben wir viel Geld investiert, das ist mächtig, schön, mitten im Zentrum von Nowosibirsk, ein Teil unserer Wirtschaft. Es heißt auch „Irmen“, direkt am Zentralen Markt. So also ist es: Produktion, Weiterverarbeitung und Handel, das heißt, wir lösen alles selbst. Das ist ein Komplex.“
So weit, so unspektakulär, könnte man meinen. Dies alles könnte auch die bloße Konservierung Widerholung der Kolchosstrukturen unter hartem Kommando, erkauft durch schwere Entbehrung der Bevölkerung sein. So ist es aber keineswegs, im Gegenteil: Der Erfolg von „Irmen“ liegt nicht in harter Überausbeutung; das ist offensichtlich, wenn man das Hauptgelände betritt, mit den Menschen in den Betrieben der AO, mit den Bewohnern in den Dörfern spricht, selbst denen, die nur im Ort wohnen und nicht in der AO arbeiten. Auch die gibt es. Wer „Irmen“ betritt findet sich in einer wohlhabenden, selbstbestimmten, mit sich selbst im Reinen befindlichen, für Außenstehende sichtlich attraktiven Produktions- und Lebens-Gemeinschaft. Das Geheimnis dieses Wohlstandes liegt, wie man im Gespräch mit Direktor Bugakow, mit Beschäftigten der Betriebe und Anwohnern der Orte erfahren kann in einer günstigen Kombination von wirtschaftlicher Interessiertheit, Tradition und Modernisierung, garantierter Privatheit und paternalistischer Führung.
Das Kontrollpaket von 51% liegt in der Hand von Juri Bugakow, die restlichen 49% sind auf fünfzig Mitaktionäre verteilt. Direktor Bugakow lässt sich seine Dividende jedoch nicht auszahlen; er hat einen Vertrag unterschrieben, daß die ihm zustehende Summe für die Modernisierung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur von „Irmen“ eingesetzt wird. Die Mehrheit der übrigen Aktienbesitzer folgen seinem Beispiel. Sie können das, weil das Lohnniveau in „Irmen“ vergleichsweise hoch liegt.
Perestroika, meint Bugakow, habe prinzipiell nicht viel verändert: Arbeiten müsse man immer noch. Die Umwandlung von „Irmen“ in eine AOST habe aber spürbar zu einer größeren Interessiertheit der früheren Kolchosmitglieder an den Arbeitsergebnissen geführt – bei den einen als Besitzer von Aktien, denen am Ende des Jahres seit Jahren steigende Dividenden ausgezahlt würden, bei den anderen als Bezieher von Löhnen, die sie in die Lage versetzen sich einen steigenden Lebensstandard zu leisten.
„Irmen“, auf diese Feststellung legt Chef Bugakow besonderen Wert, existiert ohne staatliche Subventionen und ohne Kredite; in“Irmen“, das betont er noch einmal gesondert, dulde er keine Bartergeschäfte, wie sie sonst in weiten Teilen des Landes als Folge der Krise heute üblich seien. „Das gibt es bei uns einfach nicht!“ Es werde im privaten Verkehr der Einwohner von „Irmen“ so wenig zugelassen, wie er sich für den Gesamtbetrieb auf Bartergeschäfte mit der Industrie, mit Öl-, Gas, Treibstoff-, Saat- oder sonstigen Lieferanten einlasse. „Barter“ so Bugakow, „macht auch den ehrlichsten Menschen zum Gauner. Es bringt nur Verwirrung. Bei uns gibt es nur klaren Geldverkehr. Wir haben genügend flüssiges Kapital“, so Juri Bugakow, „um uns selbst zu finanzieren.“ Kredite von 245%, wie sie heute verlangt würden, seien ihm einfach zu teuer. So komme man nie auf einen grünen Zweig.
So scharf Juri Bugakow hier die Prinzipien des Marktes betont, so bewusst setzt er andererseits auf die Nutzung der gewachsenen Traditionen. Die AOST „Irmen“ ist nicht nur kollektiver Arbeitgeber, sie übernimmt auch – bewusst entgegen dem Trend einer allgemeinen kommunalen Verwahrlosung – Kosten und Verantwortung für Erhalt und Ausbau der versorgungswirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur der Orte.
In Juri Bugakows eigener Schilderung klingt das so: Die Wohnungen sind mit allem kommunalen Komfort ausgestattet. Da gibt es Gas, da gibt es ständig heißes Wasser, da gibt es kaltes Wasser, schlicht, es gibt allen kommunalen Komfort, den es geben muss. Darüber hinaus gibt es in diesen Dörfern eigene Gärten, eigene kleine Landstücke. Man hat dort außer dem allgemeinen Einkommen die Möglichkeit ein ergänzendes Einkommen aus der eigenen Wirtschaft beziehen. Darauf können wir zur Zeit nicht verzichten.“
Was er zunächst als Mangel formuliert, entpuppt sich bei näherem Nachfragen als bewusst angewandtes Prinzip: Es gehe nicht um den Garten, erklärt er, es gehe überhaupt um „persönliche Wirtschaft“, um „ergänzendes Einkommen“. „Da gibt es außer dem Garten auch noch die Tierhaltung: Kühe, Schweine, Hühner usw. Warum? Nun in den letzten Jahren haben sich die Bedürfnisse der Menschen rasant erhöht. Früher war es so, dass man nur sehr wenig Geld verdiente und für das wenige auch noch wenig kaufen konnte. Es gab weniger gute Dinge, weniger Importware oder es gab sie überhaupt nicht. Jetzt gibt es in unseren Läden alles. Hier am Ort und auch in Nowosibirsk nur siebzig Kilometer von hier. Alle haben natürlich ein eigenes Auto und hat man kein Problem, mal eben nach Nowosibirsk zu fahren. Das ist Maximum eine Stunde und du bist im besten Geschäft von Nowosibirsk. Seit die Möglichkeit besteht zu kaufen, was man möchte, haben sich auch die Ansprüche erhöht: Heute hat man ein Auto, morgen will man zwei haben; man hat es heute gut zu Hause, man will es noch besser haben; der Nachbar ist irgendwohin gefahren, um sich zu erholen, da will man auch hin. Man hat es auch nötig sich zu erholen. Für all das braucht man Geld. Zunächst hat das die Arbeit generell stimuliert in unserer kollektiven Wirtschaft: Es gibt die Möglichkeit Geld auszugeben – also wuchs das Bedürfnis mehr zu verdienen. Und so gibt es heute Leute bei uns, die wirklich sehr gut verdienen. Das sind die Mechaniker, die das Korn auf den Feldern ernten, das sind die Beschäftigten, die tierische Produkte und Fleisch produzieren. Weniger verdienen diejenigen im Dienstleistungsbereich, welche die ganze Wirtschaft versorgen. Warum bekommen die weniger? Das machen wir bewusst so: Diejenigen, welche auf dem Feld arbeiten, haben weniger Zeit, sich mit der persönlichen Wirtschaft zu befassen. Auch jene, die mit den Tier- und Fleischprodukten zu tun haben, haben wenig Zeit dafür. Aber die, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, ihre geregelte Tageszeit haben, haben zwar ein geringeres Einkommen, aber sie haben die Möglichkeit, sich noch mit der eigenen Wirtschaft zu befassen. Sie haben zwei, drei Kühe, Schweine, Hühner – und nicht nur für die eigene Familie, sondern auch, um sie zu realisieren, um sie zu verkaufen. Sie haben es dabei nicht einmal nötig, zum Markt zu gehen, da wir eine eigene Weiterverarbeitung hier in unserer Gesellschaft haben, wir stellen fünfunddreißig verschiedene Fleischprodukte her von der Grundversorgung bis zu Delikatessprodukten. Das heißt, man zieht sein Tier auf, bringt es her, kriegt sein Geld und weitere Fragen gibt es nicht. Das ist also wirklich sehr bequem. Das ist die Antwort, warum wir heute die eigene Wirtschaft zusätzlich zur kollektiven halten.“
Es ergibt sich eine Symbiose, zwischen den kollektiven Strukturen der Wirtschaft und der eigenen Subsistenzwirtschaft, in der die eine Seite die andere die andere nicht nur stützt, sondern überhaupt möglich macht. Was als Notlösung begann, wird zum Modell. Als Vorsitzender der Bezirksagrarkommission ist Juri Bugakow anerkannter Berater in der Region: Zusammen mit der Regionalen Agrarkomission von Nowosibirsk, hat er ein Netz sogenannter Basiswirtschaften entwickelt, in dem die Erfahrungen mit der Organisationsform von „Irmen“ weitergegeben werden. An einem Betrieb pro Bezirk werden die Erfahrungen von „Irmen“ für die anderen Wirtschaftseinheiten des Bezirks demonstriert. In Versammlungen werden die Ergebnisse beraten, wer Hilfe braucht, kann Unterstützung bekommen. „Es geht nur langsam“, meint Juri Bugakow“, „aber hier und da kommt`s“. Zusammen mit der Vereinigung „Sibirische Übereinkunft“, welche offizielle und inoffizielle Machtträger aller sibirischen Regionen vertritt, und dem Russischen Unternehmerverband., der MARP, versucht man zudem, die agrarisch orientierten Basiswirtschaften mit örtlichen Industrien zu „Komplexwirtschaften“ zusammenzuführen. Auch hierbei wird an alten Vorstellungen aus der Sowjetzeit mit marktwirtschaftlichen Methoden angeknüpft.
In der „Moskauer Schule für Wirtschaft und Soziales“, geleitet von dem auch in Manchester lehrenden Wirtschafts-Professor Teodor Schanin, hat man für diese Form der Wirtschaft den Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ geprägt. Damit ist eine Wirtschaft gemeint, die weder einem dirigistischen noch einem liberalistischen, weder einem sozialistischen noch einem kapitalistischen Modell folgt, sondern sich in einer lebendigen Symbiose zwischen diesen Polen, eben extrapolar entwickelt. Juri Bugakows „Irmen“ ist das beste, ein wohlhabendes Beispiel für die Richtigkeit dieser Analyse. Aber es ist nicht das einzige. In anderen Teilen Russlands kann man inzwischen vergleichbare Strukturen beobachten. Nicht alle stehen ökonomisch auf dem hohen Niveau wie „Irmen“; manche liegen sogar im Elend. Die innere Struktur, die sich nach zehn Jahren Krise allmählich herausbildet, ist jedoch die gleiche. Es ist der Versuch, kollektive Bewirtschaftungsformen mit Formen der unmittelbaren persönlichen Substenzwirtschaft von einem Notbehelf, der sie in den ersten Jahren der Krise waren, in Richtung eines produktiven Auswegs aus der Krise zu entwickeln.

 

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