Die Katastrophe von Beslan brachte an den Tag, was Russlands Medienwächter schon lange beklagen: Die Medien des Landes waren nicht in der Lage, die Ereignisse angemessen zu erfassen. Die lange eingefahrene Mischung aus Selbstzensur und bürokratischer Behinderung ließ nicht nur ein regierungsfrommes, sondern ein falsches, ja, provokativ verlogenes Bild der Vorgänge entstehen, das nicht unwesentlich zur Katastrophe mit beigetragen hat. Erst Wochen nach den Ereignissen bekommt es aus einzelnen Berichten, die unabhängig voneinander hier und dort auftauchen, allmählich Konturen. Vier Aktionsfelder, die natürlich ineinander greifen, sind dabei zu unterscheiden:
Das Erste: Kreml und örtliche Machthaber waren offensichtlich an einer Transparenz ihrer Entscheidungen nicht interessiert. Ein Lagezentrum, das die Öffentlichkeit mit überprüfbaren Informationen versorgt hätte, wurde nicht eingerichtet. Stattdessen wurde systematische Desinformation durch Verschweigen und Verfälschen betrieben. Dies Verhalten war nicht überraschend; es entspricht der Linie, die mit dem „Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus“ von 1998, der „Antiterroristische Konvention“ nach dem Anschlag auf Moskauer Theater 2002 und den „Bestimmungen über die innere Sicherheit“ von 2003 eingeschlagen wurde, wonach jede Berichterstattung, die der Inneren Sicherheit Russlands schaden könnte, von den Staatsorganen unterbunden werden kann.
Die zentralen Medien, wesentlich die Fernsehanstalten, aber auch die größeren Zeitungen, seit langem auf die Linie eines starken Russland eingeschworen, hielten sich an das vom Kreml ausgehende Schweigen. Das ist das Zweite. Das Schweigen zu brechen und die Öffentlichkeit zu informieren übernahmen die kleineren Zeitungen, Radiosender und das Internet. Die Entlassung des Chefredakteurs der „Neuen Iswestija“ gehört in diesen Zusammenhang. Auch diese Vorgänge kamen für aufmerksame Beobachter nicht überraschend.
Eine neue Qualität erreicht die Medienpolitik des Kreml allerdings, das ist das Dritte, mit der direkten Behinderung der Berichterstattung, nicht zuletzt eben dieser Medien, die den staatlichen Organen bisher die Mühe der direkten Intervention nicht wert waren. Die Reihe der Vorkommnisse ist lang: Der bekannte Kriegsreporter von Radio Liberty, Andrej Babitzky wurde am Flughafen unter fadenscheinigen Vorwänden festgehalten. Die Reporterin der Nowaja Gasjeta, Anna Politkowskaja, wurde von Unbekannten auf dem Anflug nach Beslan vergiftet. Eine Gruppe ausländischer Journalisten, von der polnischen Zeitung „Gasjeta Wyborcza“, von „Liberation“ und „Guardian“ wurden am Flughafen von Mineralniy Wodi über mehrere Stunden festgehalten, durchsucht und verhört. Nach dem Sturm auf die Schule am 3.September, wurden Kassetten von TV-Teams des ZDF, der ARD, des amerikanischen APTV und des georgischen Rustavi-2 konfisziert. Die georgischen Journalisten Nana Lezhava und ihr Kameramann Levan Tetladze wurden am 4.9. wegen illegalen Überschreiten der Grenze festgenommen, obwohl ein Abkommen besteht, dass im grenznahen Gebiet eine Grenzüberschreitung für zehn Tage ermöglicht. Erst am 8.9. wurden sie freigelassen. Noch am 6.9. wurde der Leiter des arabischen Büros des arabischen Satellitenprogramms AL Arabia , Amr Abdul Hamid am Flughafen von Mineralny Wodi festgenommen, weil angeblich Patronen für eine Kalschnikow in seinem Gepäck gefunden wurden. Und noch am 7. September wurde ein nord-ossetisches TV-Team des Landes verwiesen.
Viele Journalisten sahen sich willkürlichen Passkontrollen, Kontrollen der Akkreditierungen, vorübergehenden Festnahmen ausgesetzt. Der Korrespondent der Moscow Times“ wurde in ein Dorf in Nord-Ossetien verbracht. Bei all diesen Aktivitäten scheute sich der Geheimdienst FSB nicht, neben verdeckten Aktionen wie im Fall Babitskys oder Politkowskajas offen in Erscheinung zu treten.
Eine neue Erfahrung machten die in Beslan anwesenden Journalisten schließlich, viertens, auch mit der Reaktion der lokalen Bevölkerung: Verbittert durch die falsche bis fehlende Berichterstattung, insbesondere durch die falsche Angabe zur Zahl der Geiseln, die die Geiselnehmer provozierte und wesentlich zur Verschärfung der Lage beitrug, verprügelten örtliche Anwohner mehrere Journalisten, so den Moskauer Korrespondenten der Komsomolskaja Prawda, den sie direkt verantwortlich machten für falsche Angaben, so Kollegen der polnischen Gazjeta Wybcza, so das russische Fernseh-Team TVTs. Auch ein französischer Journalist und ein schwedischer Kameramann wurden geschlagen; den Mitgliedern des russischen Ren-TV wurden die Kassetten von Zivilisten weggenommen. Diese Aktionen mischten sich ununterscheidbar mit den verdeckten Einsätzen der diversen Sonderkommandos. „Niemand weiß, wer sie waren“, schrieb „Moskowski Komsomelez“ anschließend über die militanten Zivilisten.
In den westlichen Medien erschien dies alles unter dem Stichwort der Einschränkung der Pressefreiheit durch Wladimir Putin und seinen Stab. So unübersehbar und nötig zu kritisieren die Einschränkungen der Pressefreiheit in und um Beslan sind, geht es doch um mehr: Solche Maßnahmen von oben durchzuführen setzt ja die Fähigkeit zur praktischen Durchsetzung eines politischen Willens voraus; es ist aber, wenn man es recht betrachtet, viel schlimmer: Die Prügelszenen ebenso wie die willkürlichen Schikanen, die Behinderungen, die Verhaftungen durch Spezialagenten an Flughäfen oder auch in Beslan und Umgebung selbst sind Ausdruck einer aus dem Ruder laufenden gesellschaftlichen Ordnung – Willkür, Chaos, Ohnmacht der Staatsorgane auf der einen, vorauseilender Gehorsam zur Erhaltung der Staatsräson auf der anderen Seite.
Selbst die Absetzung des Chefredakteurs der „Neuen Iswestija“ ist kein einfacher Fall der Zensur. Es habe Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, erklärte Raf Schakirow, ob es journalistisch zulässig sei, Bilder der Kinder von Beslan über die ganze Seite der Zeitung zu vergrößern, wie er es veranlasst habe. Der Verleger habe dies als „zu emotionalisierend“ abgelehnt. Tatsächlich, so Schakirow selbstkritisch, sei das ja auch sehr unüblich im Journalismus. Von direktem Eingreifen des Kreml ist bei ihm nicht die Rede.
So kommt ein Bericht der OECD zu dem interessanten Urteil, die Pressefreiheit sei „erhalten geblieben“, aber „einige beunruhigende Entwicklungen zwischen Regierung und den Medien“ hätten die Aufmerksamkeit örtlicher und internationaler Experten und Menschenrechtler erregt, nämlich: „Eine dreifache Glaubwürdigkeitslücke hat sich aufgetan zwischen der Regierung und den Medien, zwischen den Medien und den Bürgern, und zwischen der Regierung und der Bevölkerung.“ Darin liege ein ernsthafter Rückschlag für die Demokratie.
Damit ist das Wesentliche benannt; anders formuliert: Der übermächtige Präsident Russlands hat keine Rückkoppelung zur Bevölkerung mehr, weder durch eine politische Opposition, noch durch die Presse noch durch Stimmen aus der Bevölkerung selbst. Die Medien – weit entfernt davon vierte Macht im Staate zu sein – sind nicht einmal mehr Vermittler. Die Funktion des Vermittlers hat an ihrer Stelle der FSB übernommen.
Dies ist, verfolgt man die Analysen der russischen Medienwächter, nicht über Nacht so gekommen, es ist in den letzten Jahren herangewachsen; mit der triumphalen Wiederwahl Putins im März 2004 wurde es besiegelt, mit Beslan wurde es offensichtlich. Die martialischen Ankündigungen Wladimir Putins und seines Stabes nach den Ereignissen von Beslan von mehr Befugnissen des Zentrums, insonderheit auch der Organe des FSB, sind nicht geeignet, diese Situation zu ändern, sie lassen sie nur umso deutlicher hervortreten.
Das Echo der russischen Gesellschaft auf diese Situation ist geteilt. Beispielhaft dafür sind die Positionen der beiden wichtigsten NGOs, die sich heute um die Freiheit der Presse kümmern. Entstanden aus einem gemeinsamen Ansatz, dem „Fond zum Schutze von Glasnost“, der sich seit 1991 aktiv für die Entwicklung der Pressefreiheit in Russland einsetzte, stehen sich der immer noch bestehende „Fonds“ und das aus ihm vor vier Jahren abgespaltene „Zentrum für extremen Journalismus“ heute mit unterschiedlichen Ansätzen gegenüber. Obwohl beide das gleiche Ziel angeben – eine freie Presse in einer selbstbestimmten Bürgergesellschaft, obwohl beide sich mit den gleichen Fragen in der gleichen Form befassen – Berichte zur Lage der Presse, Monitoring, Herausgabe von periodischen Berichten, Rechtshilfe, Ausbildung – unterscheiden sie sich doch inzwischen in einem: Kooperation mit dem Staatapparat oder Hilfe zur Selbsthilfe? Mit oder ohne, wenn nicht gar gegen Putin? In dieser Polarität stehen sie zugleich exemplarisch für Zerrissenheit hunderter anderer NGOs die gegenwärtig in Russland tätig sind, wie generell der gesamten Gesellschaft.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
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Gespräch mit Oleg Panfilow,
Zentrum für extremen Journalismus:
Hilfe zur Selbsthilfe
Stagnation wie nach zehn Jahren Breschnejew kennzeichnet nach Ansicht von Oleg Panfilow die nach der Wiederwahl Putins entstandene Lage. Chauvinismus und Rassismus breite sich im Lande aus, fürchtet er. Die zentralen elektronischen Medien befänden sich zu 100% in den Händen des Staates, die Presse zu 87%, vor allem in den Regionen sei die Lage katastrophal. Dort gebe es für Journalisten überhaupt keinen Schutz, nicht einmal den der ausländischen Botschaften. Lediglich das Internet sei noch unkontrolliert, allerdings nur, solange es aus wirtschaftlichen und sprachlichen Gründen nur von einem sehr eingegrenzten Kreis nutzbar und daher für die Macht vernachlässigenswert sei.
Kai Ehlers: Was tun Sie in dieser Situation?
Oleg Panfilow: Wir haben uns von der Methode losgesagt, die in anderen Rechtsschutzorganisationen besteht, wo die Journalisten aufgefordert werden, anzurufen, wenn es bei ihnen Probleme gibt, und wo die Organisation dann antwortet: Wir werden Dich beschützen. Wir denken dagegen, dass mit diesen ersten Konflikten die Journalisten selbst sich auseinandersetzen können. Das heißt, wenn es bei ihnen einen Gerichtsfall gibt oder auch sonst kleinere Konflikte. Wir meinen, man muss diese Journalisten unterrichten, sie lehren, wie sie sich selbst schützen, sich selbst helfen können. Wenn der Konflikt dann ernst wird und die Journalisten sich selbst nicht mehr helfen können, dann sind wir dran. Dann befassen wir uns vor aller Augen mit dem Skandal. Aber solange russische Journalisten mit den in Russland bestehenden Gesetzen ihre Rechte selbst verteidigen können, bringen wir ihnen bei, wie man das macht. Das tun wir, damit Russland sich allmählich in eine bürgerliche Gesellschaft verwandelt.
Kai Ehlers: Sie agitieren?
Oleg Panfilow: Nein, wir selbst nicht. Wir unterrichten nur. Nun, manchmal helfen wir, wenn Journalisten nicht wissen, wie sie es anstellen sollen zu protestieren, dann sagen wir so und so. Aktivität der Gesellschaft beginnt da, wo man seinen Kollegen beibringt, dass man nicht schweigen muss. Wir haben ja nicht die Absicht, Nichtstuer zu erziehen. Wenn ein Journalist, der Probleme hat, die Möglichkeit hat, eine Erklärung an die Staatsanwaltschaft zu schreiben, vor Gericht zu gehen, dann soll er das machen. Warum sollte das das Zentrum für extremen Journalismus für ihn tun? Die Journalisten haben doch das volle Recht, das selber zu tun und sie sollten es tun. Wenn wir das für sie tun, wird es niemals eine bürgerliche Gesellschaft geben, das wird eine bürgerliche Gesellschaft auf dem Territorium von zwanzig Quadratmetern.
Förderungen, erklärt Oleg Panfilow noch, nehme das Zentrum im Interesse seiner Unabhängigkeit weder vom russischen Staat noch von der russischen Wirtschaft entgegen. Man bemühe sich stattdessen um Gelder amerikanischer Fonds und in letzter Zeit der deutschen Botschaft.
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Gespräch mit Ruslan Gorewoi,
Fonds zum Schutze von Glasnost:
Man muss kooperieren
Ruslan Gorewoi, Vize-Direktor im „Fonds zum Schutz von Glasnost“, charakterisiert die für die Medien entstandene Lage mit den Worten, die Situation werde sich nicht verschlechtern, „weil sie sich schon gar nicht mehr verschlechtern kann.“ Sie könne sich nur noch verbessern. Wesentliche Ansätze sieht Ruslan Gorewoi in den Regionen, in denen sich trotz des Moskauer Drucks Medienvielfalt halte; insbesondere das Internet werde in den nächsten Jahren einen Boom in den Regionen erleben. Zu dieser Verbesserung, gerade in den Regionen, wolle der Fonds durch die neue Ausrichtung beitragen, die er in den letzten zwei, drei Jahren entwickelt habe.
Ruslan Gorewoi: Die Stiftung hat ihr Gesicht in den letzten Jahren direkt seinen Auftraggebern und dem Wohle der Journalisten zugewandt. Die Programme der Stiftung sind direkt darauf ausgerichtet, den Journalisten zu helfen, in der gegenwärtigen Zeit zu überleben, sie helfen ihnen sich zu stabilisieren und juristische und moralische Unterstützung zu bekommen. Bei uns ist ein juristischer Dienst tätig, der den Journalisten direkt bei Gerichtssachen hilft, der begleitet die juristischen Angelegenheiten. Es gibt einen Dienst für Monitoring, der sämtliche Konflikte in ganz Russland sammelt.
Wir haben in den letzten zwei Jahren unsere Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft stabilisiert, wir übermitteln ihnen unsere Ergebnisse und erhalten ihre Beschlüsse, ihre Mitarbeiter gehen unseren, sagen wir, Spannungspunkten nach, manchmal unternehmen wir auch gemeinsame Missionen mit ihnen. Außerdem gibt es bei unseren Korrespondentenstellen spezielle Missionen für die Stiftung zum Schutz von Glasnost, wenn z.B. Mitarbeiter des Fonds mit analytisch-informatorischen Vorträgen auftreten, diese Vorträge übergeben wir natürlich auch der Presse und der Staatsanwaltschat. Und auf dieser Grundlage führen wir verschiedene gemeinsame Aktionen durch.
Auf der anderen Seite müssen wir unanhängig bleiben von der Macht; deshalb entfernen wir uns davon, Förderung von ihr anzunehmen. Wir bemühen uns stattdessen um Förderung aus den Kreisen unserer russischen Wirtschaft, wie es mit JUKOS war. Außerdem genießen wir seit langem die Unterstützung des amerikanischen Fonds Mac Arthur und neuerdings auch der Ford-Stiftung. Wir werden unsere Arbeit weiter strukturieren und mit der Ford-Stiftung in den nächsten Jahren arbeiten.
Zur Situation den Regionen erklärt er:
Ruslan Gorewoi: Im Zentrum gibt es keine Opposition, in den Regionen aber sehr wohl. Die Sache ist so: Wir sprechen von einem einheitlichen Russland, ja? Von einem zentralen Russland. Aber häufig gehen in den Regionen die Kommunisten mit Jabloko zusammen. Können Sie sich vorstellen wie in Moskau Jawlinski und Suganow zusammen auftreten? Nein, kann man nicht. In den Regionen ist das normal. Der politische Kampf, den wir im Zentrum beobachten, besser gesagt, die politische Stille, die wir hier haben, ist in den Regionen nicht vorhanden, das ist dort nicht real, denn dort gibt es Vertreter unterschiedlicher finanzieller Gruppen, sogar in Tatarstan, wo die Situation vollkommen blockiert erschien. Trotzdem kommen immer wieder Leute, die Politik machen wollen. Und so oder so machen sie sie auch. Und Opposition? Nun, ich kann natürlich sagen, es gibt ein Dutzend Republiken, in denen keine Opposition existiert, wo sie niedergedrückt ist und unwirksam. Aber selbst in Kalmückien gibt es eine SPS (die ultraliberale Union rechter Kräfte – K.E.), die dort eine Zeitung verbreitet. Also, es verbietet sich zu sagen, dass alles überall niedergeschlagen sei, es ist nur ein einem sehr schlechten Zustand. Nehmen Sie das Beispiel eines deutschen Autos: Kaufen Sie einen zehn Jahre alten Mercedes; der ist natürlich problematisch, da und dort funktioniert irgendetwas nicht, aber es ist doch immer noch ein Mercedes. So ist es mit der russischen Presse: Alles schlecht, aber noch fährt sie.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
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