Am 13.10. 2005 wurde die Stadt Naltschik in Südrussland Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen islamistischen Kämpfern und russischen Truppen; Es war der größte Zwischenfall seit der Katastrophe von Beslan, unterschied sich aber von den Ereignissen von Beslan in einem entscheidenden Punkt: Es gab keine Geiselnahme, sondern offene Kämpfe. 50 bis 80 Angreifer lieferten sich Gefechte mit ca. 1000 russischen Uniformierten, Ergebnis: 12 tote Zivilisten, 35 tote Uniformierte, die Angreifer fast aufgerieben. Russische Insider weisen darauf hin, dass die russischen Militärs vorher von dem bevorstehenden Überfall informiert waren, auch Truppen zusammengezogen hatten, aber von der Wucht des Angriffes überrascht waren, der an mehreren Stellen zugleich vorgetragen wurde. Der Angriff war offenbar gut vorbereitet; selbst Handys funktionierten nicht mehr.
Ein Sinn der Aktion nicht zu erkennen. Die Kommentare gehen in alle Richtungen. Die einen erklären, der islamistische Brand habe nach Inguschetien und Dagestan nunmehr auch die kleine Republik Kabardino-Balkarien erreicht. Andere, wie der Leiter des „Zentrums für Strategische Studien“ von Religion und Politik der modernen Welt“ wiegeln ab: Die Kämpfe in Naltschik seien „kein Aufstand von Extremisten, sondern Versuche der örtlichen Eliten, die mit den neuesten Ernennungen in der Republik unzufrieden seien, die Lage zu destabilisieren und auf diese Weise ihre Privilegien wieder zurückzubekommen, bzw. neue zu Erhalten“ (Russland.ru, 14.10.2005) Clanstruktur und extreme Armut seien der Nährboden für den islamischen Radikalismus. Während die Clans gegeneinander kämpften, würden Bombenexplosionen und Morde den Wahabiten zugeschoben. Amtsmissbrauch der moskautreuen „Silowiki“, also der Moskauer Zentralisten, beschere den Islamisten neue Anhänger, die zu den ungeheuerlichsten Terrorakten bereit seien.
Andere Kommentatoren konzentrieren sich schon seit längerem auf einen sich angeblich ausbreitenden „Kampf der Kulturen“ im gesamten Kaukasus. Tatsächlich häufen sich in letzter Zeit, speziell seit der blutigen Geiselnahme in Beslan, Berichte über Zusammenstöße zwischen Volks- und Religionsgruppen, die vorher jahrelang vielleicht nicht gerade freundschaftlich, aber doch ruhig miteinander gelebt haben.
Berichte dieser Art hört man nicht nur aus den Grenzgebieten, sondern auch aus den bisher eher ruhigen Gebieten Südrusslands. Der Tschetschenische Brand, würde das bedeuten, droht sich auf den ganzen Süden Russlands auszubreiten. Berichte über Proteste gegen die Sozialpolitik der russischen Regierung, die die bisherigen Fürsorgeprivilegien durch ein an westlichen Modellen orientiertes System antragspflichtiger Sozialhilfe ersetzen will, und Horrormeldungen von rassistischen Übergriffe aus den Metropolen St. Petersburg, Moskau und anderen Zentren, denen die Staatsmacht nichts entgegensetze, ergänzen dieses tiefschwarze Bild der gegenwärtigen russischen Entwicklung. Das Tschetschenische Geschwür, so einige Kommentatoren, habe die Gesellschaft erfasst. Der kollektive Wahnsinn mache sich breit. Meldungen wie die, das Komitee der „Mütter von Beslan“ habe sich einem Wunderheiler anvertraut, der verspreche, die Toten von Beslan wieder zu erwecken, und dieser Mann finde im Lande rasanten Zuspruch, gehe sogar daran, für die kommende Wahl eine oppositionelle Partei gründen zu wollen, füttern eine solche Sichtweise, nach welcher der tschetschenische Konflikt nur noch als Ausbruch fundamentalistischen Wahnsinns zu begreifen wäre, dem allein mit einem Gegenwahnsinn beizukommen sei.
Auf der anderen Seite stehen jene Kräfte, die den Wahnsinn mit Methode einzudämmen versuchen: am 27.11.2005 soll in Tschetschenien – wieder einmal – gewählt werden. Nach der Wahl soll eine Abgrenzung der Vollmachten zwischen dem Zentrum und der Republik erfolgen. Der derzeitige, nach Moskau orientierte Präsident Alu Alchanow, der dem 2004 ermordeten Vorgänger Kadyrow im Amt folgte, bemüht sich Zuversicht zu verbreiten: Schwere Straftaten, insbesondere Entführungen seien von 2004 auf 2005 um die Hälfte zurückgegangen. Der Leiter des zentralen tschetschenischen Wahlkomitees versprach „offene und ehrliche“ Wahlen und lud die EU zur Wahlbeobachtung ein; 38% der Bevölkerung seien laut neuesten Umfragen für die Wahl, die notwendigen 25% Wahlbeteiligung werde man auf jeden Fall erreichen. 291 Personen haben sich als Direktkandidaten beworben, unter ihnen u.a. auch drei Weggefährten des ersten Präsidenten Dudajew und seines Nachfolgers Machdow. Acht Parteien hatten sich bis Anfang November zur Teilnahme registrieren lassen, u.a. oppositionelle Kräfte wie die „Republikanische Partei“ Wladimir Ryschkows, oder auch „Unsere Wahl“ der radikalliberalen Irina Chakamada. EU-Diplomaten reisten soeben an; zu ihrem Besuchsprogramm gehörte eine Schule, eine Universität und die zentrale Walkommission. Danach trafen sie sich mit der republikanischen Führung.
Es scheint als habe sich die Lage allem täglichen terror zum trotz relativ stabilisieret: Die moskautreue tschetschenische Führung stellte Antrag in den Kreis der wirtschaftlichen Sonderzonen Russlands aufgenommen zu werden, die seit Mitte Juli in eingerichtet wurden. Mit einer Übernahme der Lizenz der Ölfirma Rosneft an die Firma Grosneftegas könnten die Wirtschaftsprobleme gelöst werden, so der Präsident Alu Alchanow: „Das tschetschenische Erdöl bringt jährliche Einnahmen in Höhe von rund 450 Millionen Euro, während Tschetscheniens Etat 300 Millionen Euro beträgt“, erklärte er. Im Jahr 2006 soll der Prozess der die Entschädigungszahlungen für verlorenen Wohnraum abgeschlossen werden. Bis zum 1. Dezember will man eine Liste des zerstörten Wohnraums erstellen. Laut Alchanow gibt es heute 130.000 Anträge auf Entschädigung. Alchanow teilte auch mit, dass bereits im ersten Quartal 2006 der Flugverkehr von Grosny nach Moskau wieder aufgenommen werde. Am 7.11.2005 soll ein Rockfestival unter dem Namen „Phönix, Wiederkehr zum Leben“ in der Stadt Gudermes stattfinden. Die EU versprach im April eine Wirtschaftshilfe von 22,6 Mio Euro. Die UNESCO stellte im Juli 2005 600.000 Dollar für Bildungsprojekte in Tschetschenien bereit.
Die russische Führung versucht Zeichen des guten Willens zu setzen. Erstmals gab ein russischer Regierungsbeamter, der Vorsitzende des pro-russischen tschetschenischen Staatsrates Taus Dschabrailow, die Zahl der Toten in der tschetschenischen Zivilbevölkerung mit 160.000 an, verschwieg auch die mehrere hunderttausend Menschen nicht, die in andere Gebiete geflohen sind und heute in der tschetschenischen Diaspora leben. Der Bombenterror gehöre inzwischen zum Alltag, aber offene Kämpfe gebe es kaum. Die Zahl der Kämpfer gab er mit 1000 an. Der Beauftragte des Kreml für den Kaukasus, Generalgouverneur Kosak, kritisierte seine Untergebenen mit der bemerkenswerten Vorhaltung, Banditen dürfe man nicht mit Methoden des Banditismus bekämpfen. Ein herausragendes Zeichen setzte die russische Regierung mit ihrer Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC), an der sie heute mit Beobachterstatus teilnimmt. Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“
Die Geiselnahme von Beslan ein Jahr später wurde, wie Vertreter des russischen Außenministerium anlässlich des bevorstehenden Jahrestages dieses Ereignisses im Jahre 2005 formulierten, zur „Wasserscheide“ im Prozess der Annäherung Russlands an die OIC, seitdem verstehe die islamische Welt Russlands Position in Tschetschenien besser und man strebe eine „schnellstmögliche gemeinsame politische Lösung“ an. , so u.a. bei einer Konferenz in Saratow im September dieses Jahres.
Wie immer man zur Politik Russlands in der Frage Tschetscheniens steht, auch wenn man die von der jetzt anstehenden Wahl eine ebensolche moskautreue Farce erwartet wie die bisherigen, auch wenn man wie viele russische Kommentatoren der Meinung ist, Wladimir Putin lasse diesen Krieg nur noch führen, weil er sich sonst als starker Mann selbst demontieren müsse, so ist doch eins offensichtlich: In der Hinwendung zur OIC wird in der Tat eine „Wasserscheide“ sichtbar und zwar nicht nur für die russische Innenpolitik, sondern darüber hinaus für die internationalen Beziehungen im großen Spiel der Neuordnung der heutigen globalen Kräfte. Parallel zur Annäherung Russlands an die Organisation Islamischer Staaten fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.
Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines United Energy Systems zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem von seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Von einer gemeinsamen Anti-Terror-Koalition ist spätestens keine Rede mehr, seit der US-Fernsehsenders ABC entgegen Protesten Moskaus im Mai 2005 ein Interview mit dem Terroristenführer Schamil, Bassajew ausgestrahlt hatte und das russische Außenministerium die Sendung als einen „klarer Fall von Beihilfe zur Terrorismus-Propaganda“ kritisierte. Die USA wiesen die Kritik als Eingriff in die Meinungsfreiheit zurück. Dass hier mit Maßstäben gemessen wird, die für die USA selbst nicht gelten, ist offensichtlich. Und klar ist auch, dass sich die Geister hier scheiden: Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
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