Ukrainische Perspektiven

Was geschieht heute in der Ukraine? Antworten auf diese Frage fallen schwer. Die Stimmen der Aktivisten auf dem Majdan, die abseits gelegenen, aber nicht minder wichtigen Schauplätze regionaler Proteste, die über die Ereignisse gezogenen medialen, diplomatischen und politischen Schleier internationaler Akteure bilden ein chaotisches, kaum überschaubares Feld.  Wer verstehen will, sieht sich gezwungen zu sortieren.

Hört man auf die Stimmen der Menschen, die sich seit Monaten zu Tausenden auf dem Majdan versammeln, dann geht es im Grunde um etwas sehr Einfaches, nämlich um Forderungen nach einer Verbesserung des alltäglichen Lebens, nach gesicherten Arbeitsplätzen, nach sozialer Gerechtigkeit, nach einem Ende der allseits verbreiteten Korruption einer von wenigen Oligarchen beherrschten Gesellschaft. Auf dem Majdan, so berichten Beobachter, die die Proteste vor Ort miterlebt haben, zeige das Volk, wie es wirklich leben wolle. Der Charakter der Proteste ist seinem Wesen nach spontan, unorganisiert und politisch diffus, von seiner Grundstimmung her sogar unpolitisch, zumindest von tiefem Misstrauen gegenüber politischen Ideologien und Vereinnahmungsversuchen gleich welcher Couleur geprägt. Vergleiche zu den spanischen „Empörten“, zu „Occupy“, zur „Arabellion“ und zu anderen Bewegungen werden gezogen, in denen Vorboten eines neuen Miteinander sichtbar würden.  Aus dieser Perspektive sind die Majdan-Proteste, einschließlich ihrer militanten Spitzen, Ausdruck einer allgemeinen, globalen Bewegung gegen die Ausplünderung lokaler Bevölkerungen durch das internationale Kapital. Instrumente dieser Ausplünderung sind die diversen Freihandelsabkommen, in denen sich die Deregulierungs-Politik der Multinationalen Konzerne bewegt. In der Ukraine wird diese Ausplünderung heute in der Form der extrem korrupten Oligarchisierung wahrgenommen.

Hört man auf die politische Opposition, die sich die Majdan-Proteste zuschreibt, also die Vertreter der Parteien Julia Timoschenkos, Vitali Klitschkos und Oleg Tiagnibogs, geht es bei den Protesten um die nationale Einigung der Ukraine. Der  Vorwurf dieser Opposition an den Kurs des gegenwärtigen Präsidenten Viktor Janukowytsch gipfelt folgerichtig in dem des nationalen Verrats, extrem vorgebracht durch den erklärten Nationalisten Tiagnibog, der mit seinem rechts-nationalen bis offen faschistisch auftretenden Anhang die extremste Position vertritt: ‚Ukraine den Ukrainern‘. Dieses Motto ist im Kern selbstverständlich nicht nur eine anti-russische, es ist auch eine gegen die Europäische Union, es ist schließlich eine gegen alles „Fremde“ gerichtete Position.  Nichts desto weniger treten Arsenij Jazenjuk, der Vertreter Timoschenkos und Klitschko mit ihren Forderungen nach einem Sturz des gewählten Präsidenten Janukowytsch gemeinsam mit Tiagnibog auf, ohne sich von den nationalistischen Parolen Tiagnibogs und den „rrrevolutionären“ Gewaltankündigungen seiner militanten Anhänger auf dem Majdan und in den Regionen zu distanzieren. Mehr noch, Klitschko rief selbst ausdrücklich dazu auf, überall im Lande Bürgerwehren zu bilden.

 Hört man die Vertreter und Vertreterinnen der Europäischen Union, insbesondere Deutschlands wie auch die der übrigen „freien Welt“, wie sie in besonders deutlicher Form auch auf der soeben durchgeführten Münchner Sicherheitskonferenz zu vernehmen waren, dann geht es in der Ukraine darum, ein „Regime“ zurückzukämpfen, das den Menschen der Ukraine durch seine Weigerung, sich der EU per Assoziierungsvertrag anzuschließen, den Weg zu Wohlstand und Freiheit und überhaupt in die „Moderne“  versperre und sie der Herrschaft eines neo-imperialen autoritären Russland unterwerfen wolle. Zur Durchführung der „demokratischen Transformation“ der Ukraine hält man es für gerechtfertigt, direkt in die laufenden Konflikte des Landes mit dem Ziel einzugreifen, den gewählten Präsidenten und seine Regierung zu stürzen – dabei reicht das Eingreifen vom Aufbauen eines Kandidaten Klitschko über direkte Teilnahme von eigenen Regierungsvertretern an den Protesten bis hin zu Gesprächen mit den Nationalisten um Tiagnibog.  Das ist imperiale Interventionspolitik pur. Sie unterscheidet sich von  den bekannten US-Interventionen allein dadurch, dass sie nicht gegen erklärte „Schurkenstaaten“ irgendwo auf dem weiten Globus von den USA, sondern im Bereich eurasischer Bündnispolitik und dort von einer sich neo-imperial gebärdenden EU durchgeführt wird. Dass die EU-Vertreter/innen dabei als ungeschickt vom großen US-Bruder gerügt werden, ist eine kleine Perversität am Rande.

Glaubt man der russischen Politik,  dann geht es um die Sicherung des eurasischen Friedens, genauer, dann geht es darum, ein friedliches Miteinander von Europäischer Union und Eurasischer Union zu ermöglichen und dabei einen Integrationswettlauf zu vermeiden. Eine Ukraine, die sich in einem von Lissabon bis Wladiwostok reichenden Freihandelsraum nach ihren eigenen Interessen frei verbinde, sei dafür die unerlässliche Voraussetzung, erklärte der russische Außenminister Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Einiges spricht dafür, dass Russland aus einer solchen defensiven Perspektive heraus handelt. Anders machen die bedingungslosen Kreditzusagen und übrigen  Hilfsangebote an die Ukraine für Russland keinen Sinn. Russland, selbst noch Transformationsland, kann sich, will es sich als Großmacht behaupten – und das will es, chaotische, gar revolutionäre Entwicklungen in einem Land, mit dem es trotz dessen Unabhängigkeit so eng verbunden ist wie mit der Ukraine, nicht erlauben. Andererseits ist die Abhängigkeit der Ukraine von offenen Grenzen zu Russland und damit von Russlands Vormacht im Eurasischen Raum nicht zu übersehen. Faktisch verhindert die Tatsache, dass Russlands sich von direkten Interventionen zurückhält, natürlich nicht, dass die Ukraine zwischen Eurasischer und Europäischer Union als umstrittener Integrationsraum unter Druck steht, auch von russischer Seite.

Zum Integrationskonflikt zwischen EU&EU kommt schließlich noch das neu zu beobachtende Interesse Chinas an der Entwicklung einer „Neuen Seidenstraße“ hinzu, die in die Ukraine und von dort in die Europäische Union hineinführen soll. Schon im September 2013 war im „Handelsblatt“ zu lesen, dass das chinesische Staatsunternehmen „Xinjiang  Production and Construction  Corps“ mit dem ukrainischen Agrarkonzern  KSG Agro eine entsprechende Vereinbarung unterschrieben habe. In einem ersten Schritt erhalte China  Zugriff auf  100.000 Hektar Land, letztlich sollten es dann drei Millionen Hektar werden. Diese Fläche entspräche etwa einem Viertel  des gesamten Ackerlandes in Deutschland. In den kommenden 50 Jahren sollen in der Ukraine für den chinesischen Markt Feldfrüchte angebaut und Schweine gezüchtet werden. (Handelsblatt, 22.09.2013) Auf dem Höhepunkt der Majdan-Krise, am 05.12.2013, schloss der ukrainische Präsident Janukowytsch in Peking weitergehende Verträge für wirtschaftliche Zusammenarbeit in den Bereichen Luft-, und Schifffahrt sowie Energie und Straßenbau ab. (Handelsblatt, 05.12.2013). Ein paar Tage später warf die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua dem Westen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates vor.

In den Erwägungen der Geostrategen nimmt die Ukraine unter den skizzierten Bedingungen mehr noch als je zuvor eine Schlüsselstellung ein. US-Altstratege Sbigniew Brzezinski hat daraus Zeit seines Wirkens  kein Geheimnis gemacht. Seit Jahrzehnten erklärt er, dass die Ukraine der entscheidende Baustein sei, der aus dem Integrationsbereich Russlands herausgebrochen werden müsse, wenn die USA ihren Einfluss auf Eurasien und damit ihre globale Hegemonie sichern wollten. Denn: Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt. Neuerdings – soeben noch einmal vorgetragen auf der Sicherheitskonferenz in München, wo er Teilnehmer eines „Panels“ mit Klitschko war – möchte Brzezinsksi Russland allerdings nicht mehr ausschließen wie bisher oder sogar teilen, sondern als Junior-Partner eines sich erweiternden westlichen Bündnisses umarmen. Es soll helfen die durch China, Indien, überhaupt Asien in Frage gestellte westliche Hegemonie zu verteidigen und das „politische Erwachen der Völker“, das in Chaos zu führen drohe, in einem globalen ordnungspolitischen Rahmen zu halten. Zur Erreichung dieses Ziels ist Brzezinski sogar bereit, dem Erzfeind Russland zuzubilligen, Fortschritte in der Demokratisierung seiner Gesellschaft gemacht zu haben. Der Ukraine ist in dieser neu gefaßten strategischen Sicht eine „Brückenfunktion“ zugedacht, über die Russland  in einem Wechsel von Zug und Druck an das westliche Bündnis und damit Eurasien an den Westen gebunden werden soll. US-Außenminister John Kerry, bekräftigte diese neue Ausrichtung der US-Politik auf der Münchner Sicherheitskonferenz unter dem Stichwort einer von den USA heute verfolgten „Transatlantischen Renaissance“. Die jüngsten Zuckungen der EU-Ost-Politik zwischen Intervention und Rückzug lassen allerdings erkennen, dass noch nicht von allen atlantischen Akteuren verstanden worden ist, wie Zuckerbrot und Peitsche auf dieser neuen US-Linie verteilt sind.     

Vor diesem geopolitischen Hintergrund kann es für die Ukraine – gleich ob unter einem Präsidenten Janukowytsch oder unter einem neuen Präsidenten und einer neuen Regierung – nicht darum gehen sich zwischen der Zugehörigkeit zur europäischen oder zur eurasischen Union oder ersatzweise für die Variante einer chinesisch dominierten neuen Seidenstraße zu entscheiden. Dies umso weniger, als „Europäische Union“ nicht gleichbedeutend mit Europa und „Eurasische Union“ nicht identisch mit Russland ist wie auch eine Kooperation mit Chinas Ambitionen einer „Neuen Seidenstraße“ nicht eine Absorption der Ukraine in ein chinesisches Wirtschafts-Imperium bedeutet. Die heutigen transnationalen Kapitalstrukturen, ebenso wie geographische und kulturelle Räume überschreiten diese Grenzen. Als traditionelles Durchgangsland, in das sich die historischen Bewegungen von den Hunnen im fünften Jahrhundert bis in die Neuzeit des letzten und heutigen Jahrhunderts immer wieder aufs Neue in vielfältigster Weise eingeschrieben haben – ethnisch, wirtschaftlich, kulturell und auch religiös, einschließlich der Implosion der Sowjetunion und der darauf folgenden globalen Transformationsprozesse –, wird die Ukraine bis heute von unterschiedlichsten Einflüssen durchzogen. Die Differenz zwischen dem mehrheitlich Russland zugeneigten Osten und dem der EU zugeneigten Westen ist nur der bekannteste dieser Unterschiede. Nicht weniger wichtig sind die ethnischen und sprachlichen Minderheiten – Weißrussen, Moldawier, Krimtataren, Bulgaren, Magyaren, Polen, Juden, Armenier. Nicht übersehen werden darf auch der religiöse Pluralismus des Landes. Ernsthafte Analysen zum Thema der regionalen Gliederung der Ukraine unterscheiden zwischen West-, Zentral-, Süd- und Ost-Ukraine, die Krim und Zakarpattja im äußersten Südwesten. Das seien sechs Gebiete, die man ungeachtet der administrativen Gliederung des Zentralstaates in 24 Verwaltungsbezirke (Oblaste) als „eigene Regionen“ ansehen könne (Ukraine Analysen“, Nr. 23, 5/2007). Weder eine Hinwendung der ganzen Ukraine auf eine Seite, also zur Seite der EU oder zu der Russlands oder gar Chinas, noch eine Spaltung des Landes entlang regionaler Schwerpunkte ist bei der gleichzeitigen bestehenden Überlagerung der unterschiedlichen Gewordenheiten eine Lösung für dieses Land  – jedenfalls keine, die friedlich vollzogen werden und zur Befriedung der des Landes wie der Beziehungen zwischen den das Land umgebenden Integrationsfeldern beitragen könnte. Nicht weniger absurd erscheint allerdings auch eine „nationale“ Wendung, welche die Vielfalt des Landes und seiner gewachsenen Bezüge nach außen gewaltsam zu „ukrainisieren“ versucht. Die Absurdität eines solchen Weges zeigt sich schon, wenn die Partei Tiagnibogs unter Parolen der nationalen Befreiung auf dem Majdan lautstark für einen Anschluss der Ukraine an die EU agitiert und dabei vergisst oder auch geflissentlich übersieht, dass die Europäische Union gerade aus der Überwindung des Nationalismus geboren wurde. Die Orientierung der entstehenden EU war schon nach 1945 kein Zufall, sondern ein Schritt, der über die Zeit hinaus zielte, in der Nationalstaaten als handelnde Subjekte die politische Wirklichkeit bestimmt hatten. Angesichts der heutigen globalen Vernetzung der Kapitalstrukturen sind die Nationalstaaten nur noch ein auslaufendes Modell, bestenfalls Agenturen für die lokale oder regionale Umsetzung der Interessen der transnationalen Konzerne. Für die Ukraine wäre der Rückgriff auf die nationale, gar nationalistische Karte unter den heutigen Bedingungen nur noch ein Schritt in die Isolation. 

So what? Welche Alternativen stehen angesichts dieser Gesamtlage zur Diskussion? Die Antwort liegt auf der Hand, gleich von wem sie vorgebracht wird: Transformation des gegenwärtigen Zentralstaates in Richtung einer Föderation eigenständiger Regionen mit dem Recht eigene Beziehungen zu ihren Nachbarn zu unterhalten. Wem dies zu utopisch erscheint, der schaue zunächst auf die Forderungen der gegenwärtigen Opposition. Ungeachtet ihrer nationalistischen Ausflüge fordert die Troika der Oppositionäre eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 – was nichts anderes heißt als Abkehr von der zur Zeit gültigen Präsidialverfassung zu einer Kompetenzverlagerung auf Regierung und Parlament. Dies ist noch keine Aufkündigung des gegenwärtigen zentralistischen Staatsaufbaus, führt aber in diese Richtung.

Wer noch weiter in die politischen Programme horcht, die schon seit Längerem auf unterschiedlichen Ebenen in der Ukraine diskutiert werden, trifft auf eine lebendige Debatte um eine Föderalisierung des Landes, d.h.,  auf  Vorschläge und Bestrebungen für eine Umwandlung des gegenwärtigen Zentralstaates in eine Föderation, als deren Basis die verschiedenen Regionen ins Auge gefasst werden. Gedacht wird dabei an einen schrittweisen, kontrollierten Übergang von kultureller, z.B. sprachlicher, zu wirtschaftlicher und weiter zu rechtlicher Eigenständigkeit der Regionen bei gleichzeitiger Vertiefung ihrer arbeitsteiligen Kooperation. Mit dem Sprachengesetz von 2012, das Russisch, bzw. andere Sprachen, die in  einer Region zu mehr als 10% vertreten sind, als Zweitsprache legalisiert, wurde ein Schritt in dieser Richtung gesetzt. Die kommunistische Partei, Koalitionspartner der „Partei der Regionen“ des Präsidenten Janukowytsch, hatte  Vorschläge zur Föderalisierung lange vor den jetzigen Protesten zum Programm erhoben. Janukowytsch hatte die Debatte darüber mit der Gründung der „Partei der Regionen“ usurpiert und dadurch vorläufig erstickt. Jetzt mehren sich Stimmen für eine Wiederaufnahme dieser Debatte. Von nationalistischer Seite wird sie selbstverständlich als Verrat und üble russische Einflussnahme angegriffen.

Noch ist die Verfassung nicht auf ihre Form von 2004 zurückgesetzt, noch ist die Debatte um eine mögliche Föderalisierung auf regionaler Basis nicht in die breite Öffentlichkeit vorgedrungen, weder in der Ukraine noch über die Ukraine hinaus, aber erkennbar ist, dass sich hier die Türen öffnen könnten, durch die Wege zu einer nicht nur friedlichen, sondern auch fruchtbaren Wende des ukrainischen Pluralismus führen könnten, der zur Zeit noch richtungslos brodelt. Eine solche Wendung der jetzt aufgebrochenen Konflikte, könnte zudem ein Impuls sein, mit dem die Ukraine, ausgehend von ihren extrem pluralistischen Besonderheiten, anderen Staaten in ähnlicher Lage einen Weg zeigt, der über das bisher entwickelte Verständnis national organisierter Demokratien als universalem politischen Modell in eine offene Gesellschaft hinausweist, in welcher die politische Willensbildung an den Interessen und der Selbstbestimmung der Menschen vor Ort ansetzt, statt ihnen von oben oder außen in Form von Mehrheitsentscheidungen diktiert zu werden, in denen Minderheitenschutz mühsam erkämpft werden muss, ganz zu schweigen von zentralistischen Diktaten. Die ‚global player‘ könnten dadurch Anstöße erhalten, entsprechende Formen auch bei sich und für die Gestaltung ihrer regionalen Kooperation und strategischen Abstimmungen zu entwickeln. Ein runder Tisch ukrainischer Regionen mit überregionaler Begleitung durch die Nachbarn der Ukraine wie auch Vertretern und Vertreterinnen internationaler Organisationen könnte der erste Schritt in diese Richtung  sein.

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de 

Erstveröffentlichung in „Zeitgeist online“