Ukraine: Pragmatische Lösung oder Zeitreise in die Vergangenheit?

Die Ereignisse in der Ukraine treiben einer Eskalation entgegen. Eine friedliche Lösung  des Konfliktes zwischen der Majdan-Opposition und Präsident Janukowytsch scheint kaum noch möglich, nachdem das überraschende Angebot des Präsidenten, zwei  der drei  führenden Vertreter der Opposition, Arseni  Jazenju und Vitali Klitschko in die Regierungsverantwortung einzubinden, von den beiden in Übereinstimmung mit dem dritten in der Oppositionstroika, dem Nationalisten Tiagnibok als „vergiftetes Angebot“ (Klitschko)  abgelehnt wurde. Der Kampf gehe weiter, ließen sie gemeinsam verlauten. Das Ziel, in dem die drei sich mit den Protestlern des Majdan einig sind, lautet:  Rücktritt des Präsidenten Janukowytsch und vorgezogene Neuwahlen noch in diesem Jahr.

Auf einer für den 28. Januar angesetzten Versammlung des ukrainischen Parlaments soll über diese Frage beraten werden.  Aber gibt es in der Rada wirklich noch etwas zu beraten?

Die Majdan-Aktivisten  sind in zunehmendem Maße bereit bis zum Äußersten durchzuhalten. Das lassen nicht nur die Oppositionsführer Jazenju und Klitschko und vor allem der nationalistische Rechtsaußen des Oppositionstrios, Tiagnibok verlauten, sondern auch die Aktivisten und Aktivistinnen auf dem Majdan selbst. Für sie gibt es unter den jetzt herangewachsenen Verhältnissen ebenfalls nur noch eins – voran! Sie lassen mit zunehmend militanten Besetzungen von Verwaltungs- und Regierungsgebäuden in Kiew und in anderen Städten der westlichen Ukraine erkennen, dass sie bereit sind, bis an die Grenze des Bürgerkrieges zu gehen – und möglicherweise darüber hinaus.  

Für die Staatsmacht unter dem gewählten Präsidenten Janukowytsch  gibt es unter den jetzt entstandenen Bedingungen  keine Möglichkeit mehr, den Konflikt  weiter „auszusitzen“, wie das trotz gelegentlicher Polizeiübergriffe und trotz der zu beklagenden Todesopfer  seit zwei Monaten zu beobachten war. Und es wird nicht möglich sein, die Radikalen unter den Protestlern sich „austoben“ zu lassen  in der Hoffnung, dass sie sich in den Augen der Bevölkerung diskreditieren könnten, um sie dann vielleicht durch verschärfte Gesetze abräumen zu lassen. Präsident Janukowytsch kommt bei Fortsetzung dieses Kurses in die Gefahr, die ihm zur Verfügung stehenden  „Sicherheitskräfte“ zu verheizen und seine Parteigänger gegen sich aufzubringen.  Wo hat man in den letzten Jahren gesehen, dass derart radikale, erklärtermaßen auf Umsturz zielende Proteste, einschließlich militanter Besetzungen von öffentlichen Plätzen und Gebäuden und gezielter Angriffe gegen die Polizei über einen solchen langen Zeitraum von gut zwei Monaten der Staatsmacht geduldet werden, wie das jetzt in Kiew geschehen ist?  In unseren westlichen „wehrhaften Demokratien“ jedenfalls nicht! Im Gegenteil, die Gesetze, die zur Unterbindung der Proteste von der Rada im Schnellverfahren vor einer Woche beschlossen wurden, sind westlicher, insonderheit deutscher Standard: Anmeldepflicht,  Vermummungsverbot, Bannmeilengesetz u.a.m. Wenn die deutsche Kanzlerin Merkel, Außenminister Steinmeier und andere gegen die Einführung dieser Gesetze protestieren, kann man ihnen nur zustimmen.  Solche Proteste wünscht man sich für hiesige Verhältnisse auch.

Die einzig denkbare politische Lösung in der so eskalierten Situation dürfte  die sofortige Anberaumung einer Neuwahl des ukrainischen Staatspräsidenten in einem überschaubaren und internationaler Kontrolle zugänglichen Rahmen von ein oder zwei Monaten sein, ob es Janukowytsch persönlich gefällt oder nicht, ob die Oppositionäre es ernst meinen oder nicht. Sie müsste an eine Neutralitätsverpflichtung beider Seiten während der Vorbereitungsphase der Wahlen gebunden sein, einschließlich einer Abrüstung auf beiden Seiten. Ein solcher Schritt – von Janukowitsch selbst zugestanden und mit der Opposition öffentlich vereinbart – könnte auf der Stelle für klares Wetter sorgen, d.h., er könnte die sich zunehmend militarisierende Austragung der Konflikte in eine politische Auseinandersetzung um die Wahlprogramme und Ziele der Kandidaten überführen.  Janukowitsch nicht anders als die drei gegenwärtigen Leitfiguren der Opposition, ggflls. auch weitere Kandidaten  wären gezwungen ihre politischen Ziele in einem offenen Wahlkampf zu vertreten und sachlich zu konkretisieren, das hieße über ein pro oder contra EU, pro oder contra Russland, pro oder contra Janukowitsch, pro oder contra Nation hinaus, vor allem für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Bevölkerung Lösungswege vorzuschlagen.  Daran könnte sich zeigen, wie die politischen Kräfte des Landes tatsächlich stehen.

Vermutlich hätte Janukowytsch angesichts der Heterogenität der Opposition – Oligarchenpartei Timoschenkos, Europapartei Klitschkos, Nationalisten Tiagniboks – von einer solchen Lösung wenig zu fürchten. Sollte er dennoch vor diesem Schritt zurückscheuen, bliebe als Alternative zu einer solchen politischen Lösung  allein ein „Befreiunsgschlag“  a´ la Boris Jelzin, der – wie man sich erinnern wird – 1993 die Kritiker der von ihm betriebenen beschleunigten Kapitalisierung des Landes mit Panzern aus dem Parlament schießen ließ.  Im Unterschied zu Jelzin 1993 könnte Janukowitsch  sich allerdings für eine vergleichbare Aktion des westlichen Beifalles nicht sicher sein; im Gegenteil, er müsste sich auf „Sanktionen“ von dieser Seite gefasst machen. Entsprechende Drohungen wurden von Seiten der USA und der EU ja bereits aus geringerem Anlass laut.  (Die Zeiten der Hau-Ruck-Übernahme des sowjetischen Erbes sind inzwischen doch schon einer differenzierteren Vorgehensweise gewichen.) Putin, um sich nicht weiter für die Konflikte in der Ukraine verantwortlich machen lassen zu müssen, könnte ein gewaltsames Vorgehen von Janukowitsch ebenfalls nicht gefallen. Man darf daher sehr gespannt sein, ob Janukowytsch den Mut zur Zulassung von Neuwahlen findet oder sich auf die Zeitreise zurück zu Jelzin begibt.

Kai Ehlers

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