„Das Wunderbare im Faktischen – Interview mit Kai Ehlers

 

„Das Wunderbare im Faktischen“ – Interview mit Kai Ehlers

Anfang September 2012 trafen Kai Ehlers und Franka Henn sich in Hamburg, um ein Interview für den initiativ-Blickpunkt Nr.134, erschienen im November, zu führen. Gemeinsam umrundeten die beiden Gesprächspartner die Frage nach dem Grund von Motivation, sammelten verschiedenste Perspektiven und fanden das Bild des Labyrinth schließlich als passenden Ausdruck. Kai Ehlers selbst lebt in Hamburg und hat sich seit Jahrzehnten mit dem Labyrinth als Erkenntnisinstrument und Sinnbild von Wandel beschäftigt. Er ist Publizist zahlreicher Bücher über die Transformationen der Sowjetunion und dem heutigen Russland, sowie der Mongolei, aber auch über das bedingungslose Grundeinkommen. Sein nächstes Buch, „Die Kraft der Überflüssigen“, soll im nächsten Jahr erscheinen. Franka Henn lebt in Leipzig, wo sie Politik und Geschichte studiert und als freischaffende Journalistin arbeitet. Seit 2009 ist sie in der ÖIEW als Praktikantin und Redakteurin von initiativ tätig; seit der Ausgabe Nr.134 auch zuständig für die Leitung und Gestaltung des Hefts.

Franka Henn: Du hast ein Buch mitgebracht mit dem Titel Der Imperativ des wilden Herzens. Ist das der Urgrund von Motivation? Können wir dort unsere Motivation immer wieder finden? Ist das „wilde Denken“ nicht oft von unserem Denken in Zwängen be- oder verhindert?

Kai Ehlers: Das „wilde Denken“, das Christina Kessler in ihrem Buch beschreibt, ist kein chaotisches oder aggressives Denken. „Wild“ geht hier auf die Definition des Ethnologen Claude Lévi-Strauss zurück. Er hat unterschieden zwischen zivilisiertem Denken unserer heutigen Kultur und vor-zivilisiertem Denken, dem der ‚Wilden‘ weil er fand, dass es beides miteinander nichts mehr zu tun hätte. Christina Kessler greift diesen Begriff von ihm auf und würdigt Lévi-Strauss als wichtigen Schrittmacher, beschreibt aber in ihrer eigenen Forschung, dass das „wilde Denken“ nicht nur in der Vergangenheit gab oder nur bei alten Stammeskulturen gibt, sondern dass es auch heute noch in uns lebt. Dieses muss nach ihrer Aussage jedoch in eine neue VerbinDung gebracht werden mit dem zivilisierten Denken. Diese Wechselbeziehung zwischen den Urquellen, die sich noch in einer einheitlichen Bewegung mit der Natur befinden und dem analytischen, trennenden Denken der Neuzeit gibt eine unheimliche Kraft. Sie argumentiert darin ganz und gar wissenschaftlich und zitiert auch Forscher wie Albert Einstein und Hans-Peter Dürr, die deutlich machen, dass der Graben zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Unsagbaren eigentlich nicht so groß ist, wie er immer dargestellt wurde. Sondern dass wir gerade über das trennende, atomisierende Forschen genau dahin wieder kommen, dass wir eigentlich gar nichts beschreiben können, weil wir mit unserer Beobachtung bereits den Gegenstand selbst verändern.

FH: Du meinst die Heisenberg´sche Unschärferelation.

KE: Genau. Dort entsteht eine Wechselbeziehung, die uns heute zur Verfügung steht und dies bedeutet, dass wir uns frei fühlen können, und dass wir uns bewegen können in dieser ständigen Metamorphose, in dem Eingebettet-Sein. Wir müssen uns gar nicht allein fühlen. Wir müssen uns nicht verloren fühlen in diesem Weltall; wir sind ein Teil des Ganzen. Jeder ist ein Teil des Ganzen und jeder ist das Ganze. Als ich den Vortrag von Christina Kessler erlebte, da war es richtig spürbar, welche Kraft diese Frau aus ihrem eigenen Erleben von Ganzheit gewonnen hatte. Sie hat es im tiefsten Sinne des Wortes mit-ge-teilt.

FH:  Für Hans-Peter Dürr war ja auch seine physikalische Forschung, die „vergebliche“ Suche nach der „Materie“, nach dem kleinsten Teil, aus dem Alles besteht, Anlass sich einer holistischen Philosophie und dem sozial-ökologischen Engagement (u.a. auch als Mitglied im World Future Council, der maßgeblich die Erd-Charta prägte) zu widmen. Er hatte für sich Durch die Wissenschaft erkannt, dass Alles mit Allem verbunden ist.

KE: Der entscheidende Punkt ist natürlich, dass sich kein Finger bewegt ohne Geist. Der Finger kann sich nur bewegen, er ist ja Materie, weil er von meinem Geist bewegt wird. Das ist ganz banal. Wenn kein Geist mehr in dem Finger ist, dann bewegt sich der Finger nicht mehr. Was ist das für ein Prozess? Da soll mir einer noch kommen und erzählen, dass die Welt nur aus Materie bestünde. Wir haben jetzt eine Zeit hinter uns von zwei-, dreihundert Jahren, in der man (oder die Männer den Frauen, bzw. Man(n) auch nur selbst) sich hat weismachen wollen, dass die Welt nur aus Materie bestünde. Wahr ist natürlich, dass man feststellen kann, dass bis zu einem großen Teil es um konkrete Prozesse geht. Man kann chemische, physikalische, biologische Abläufe feststellen und beschreiben. Und dann kommt man letztlich doch dahin, dass es sich um einen Energiefluss handelt, um eine ständige Bewegung.

FH: In den letzten Jahrhunderten war es der jeweiligen Zeit vielleicht auch angemessen anzunehmen, dass die Welt viel materialistischer zu sehen sei, als es noch vor der Aufklärung der Fall war.

KE: Nun, es gibt historisch gesehen in der Welt zwei Annäherungen an die Wahrheit, also ich meine an das Tao oder auch an Gott, an das Unsagbare: den äußeren und den inneren Weg, den „westlich-rationalistischen“ und den sogenannten „östlichen“ Weg. Beides nähert sich im Laufe der Geschichte dem Unsagbaren an, es geht in beidem um dieselbe Frage. Doch diese beiden Wege haben zu einer Dualität der Welt geführt, nicht nur in Ost und West, diese Dualität gibt es hier wie dort. Also eigentlich zu einer Vereinseitigung. Die einen haben sich in der Mystik, die anderen in der Sezierung der äußeren Verhältnisse verloren. Beide Extreme der historischen Erkenntniswege treffen heute auf einander in einer neuen Weise. Und das ist eine unglaubliche Chance, eine Chance aus den Extremen heraus in eine neue Bewegung zu kommen.

FH: Du meinst damit, dass die Wissenschaft wieder in den Bereich des Glaubens dringt…

KE: Ich würde es nicht als „wieder“ formulieren. Die Wissenschaft ist so weit vorgedrungen, dass sie merkt, dass ihre Worte nicht mehr ausreichen, dass ihre Worte die Welt verändern. Du hast eben auch angedeutet, dass diese neue Erkenntnis nur entstanden ist aus der vorher nötigen Zeit des Materialismus, in der man immer weiter zerlegt und trennt, bis man schließlich an das Innerste stößt. Und das Innerste ist der Geist! – Und was ist mit den Anderen, die sich in der Mystik vergraben haben? Die sind dort stecken geblieben, weil sie das Äußere nicht weiter entwickelten und haben aber dafür unheimlich hohe intuitive Kräfte entfaltet. Wir haben also zwei extreme Wege, aber in unserer heutigen Welt begegnen sich diese beiden Entwicklungen und in der Begegnung wird deutlich, dass sie tatsächlich nur zwei Pole einer Wirklichkeit, einer Welt, einer Wahrheit sind. Und aus meiner Sicht liegt darin eine unheimliche Chance. Und wenn Du nach Motivation fragst, dann ist dies Teil meiner Motivation. Es treibt mich an, diese Dualistik überwinden zu wollen, weil ich sie grässlich und tötend empfinde. Und umgekehrt formuliert: Alles was da raus führt, motiviert mich. Die Motivation ist alles, was uns in die Metamorphose und Wandlung führt, in das fühlende Denken. Und ich denke, dass ist eine Aussage, die man heute eigentlich für die gesamte Gesellschaft formulieren kann. Es müssen also nicht mehr Fühlen und Denken entgegen stehen oder Liebe und Erkenntnis, sondern kann auch liebende Erkenntnis sein. Für mich ist „liebende Erkenntnis“ der entscheidende Begriff.

FH: Warum ist das so schwer deiner Meinung nach? Eigentlich klingt es so, als müsste man sich dem nur öffnen?

KE: Es ist ein Sich-Öffnen. Gleichzeitig ist es ein Sich-Anschließen an die Erde. Es ist ein doppelter Prozess. Es fließt Durch Dich hinDurch und gleichzeitig fühlst Dich ja doch als Selbst. Die Person löst sich nicht auf daDurch. Früher nannte man das eine unio mystica, eine Vereinigung mit dem Nicht-Benennbaren. Doch der Mensch ist benennbar, er hat Füße, Finger usw. Aber das Verbunden-Sein ist eine Grenzüberschreitung, denn der Mensch ist als ein geistiges Wesen angeschlossen an einen großen Strom und er ist Durch seinen Körper aber auch eine Einheit. Diese Grenzerfahrung ist spannend, sie kann aber auch weh tun. Manche verlieren sich dabei. Man muss also sehr aufmerksam sein. Nehmen wir das Labyrinth, mit dem ich sehr viel gearbeitet habe, als Beispiel. Man meint, das Hineingehen sei schon kompliziert, aber wenn man es schafft, dann ist man ja angekommen. Man ist sich selbst begegnet, man hat Gefühle des Großen und Ganzen. Und nun? Wieder zurück! Und das ist vielleicht noch die viel größere Tat.

FH: Du meinst, sich vom inneren „Heilzustand“ zu lösen und bereit zu sein, sich wieder mit beiden Beinen auf die Erde zu stellen. Ist dieser Schritt zurück nicht auch der Schritt aus der Erkenntnis heraus in die Tat?

KE: Ganz recht. Für mich ist dabei das Labyrinth ein wichtiges Erkenntnisinstrument geworden. Im Mythos ist es Ariadne, die draußen vorm Labyrinth steht und sie hat Theseus den roten Faden mitgegeben, an dem er den Weg zurück aus dem Labyrinth finden soll. Und was ist der rote Faden? Der rote Faden ist nichts anderes als ihre Liebe. Und an ihrer Liebe ist er wieder rausgekommen und sie erwartet ihn draußen. Das ist die eine Seite, die andere ist, dass draußen auch die schreckliche Wirklichkeit wartet. Und jetzt ist die Frage: Was zieht einen wieder raus? Verantwortung? Liebe ohne jede Frage. Hass, um das, was Du gesehen hast, unmittelbar draußen zu verwirklichen? Also, das ist die Frage der Motivation.

FH: Ja, und einige Menschen stürzt eine damit verwandte Frage auch in eine Krise. Gerade vielleicht die Jugendlichen sind in eine Zeit hineingeboren, in der sie von einigen Zwängen zur proDuktiven Arbeit freigestellt oder auch entlassen sind. Und wie man diese Veränderung bewertet und wie man findet, welchen Sinn man sich nun geben möchte, stellt eine große Herausforderung dar. Ich verstehe den Moment, in der Mitte des Labyrinths anzukommen, als einen Moment der Erkenntnis und auch der Freiheit. Daraus wieder scheinbar einen Schritt zurück zu machen und mit der gewonnenen Erkenntnis, auch mit einer anderen Kraft, tätig zu werden in der Welt kann sehr schwierig sein. Es passiert auch, dass Menschen sich überflüssig fühlen in dieser Freiheit zum Tun? Gibt es Wege auch das eigene Denken zu überwinden?

KE: Ich denke schon, dass es eine Frage der Erkenntnis ist. Um bei dem Bild zu bleiben: Das Labyrinth kann man als freien Weg und nicht als Weg zwischen Mauern verstehen, doch es ist ein Weg der bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt. Es sind bestimmte Rhythmen. Am Beginn, in den ersten größeren UmrunDungen da sammelt man Kraft. Bis man dann reingeht und es ist ein langer Weg bis zur Mitte. Es ist der längste Weg auf kleinem Raum. Und dann gehst Du wieder raus, Du wendest Dich um. Du könntest auch drin bleiben. Doch was passiert, wenn Du dort bleibst, wo nichts mehr passiert? Du stirbst. Die Frage des Todes stellt sich hier. Und wenn es noch nicht sein soll, dann geht man wieder raus oder man langweilt sich zu Tode. Eigentlich will an diesem Punkt jeder zurück. Natürlich ist die Konsequenz daraus eine Frage des Bewusstseins. Ich sage das jetzt so klar, aber das heißt nicht, dass die Jugendlichen, von denen Du sprachst, das auch bewusst haben. Jeder kommt aus unterschiedlichen biografischen Kontexten und hat einen anderen Bewusstseinsstand. Und wenn man diese Fragen noch nicht begreifen kann, dann hat man ein Problem. Das Problem ist, das man nicht weiß, wer man ist und wo man sich befindet. Und da ist meine gewissermaßen pädagogische Überlegung, dass es gut wäre eine Schule des Labyrinthes einzuführen. Denn das ist eine Figur, an der man das lernen kann. All die Gesetze des Labyrinths, die einem helfen könnten, kann man ja nur anwenden, wenn man es studiert hat oder überhaupt gezeigt bekommen hat. Und da sehe ich die Verantwortung der älteren Generation

dieses tiefe Wissen der Menschheit weiterzugeben.

FH: Aber es gibt ja noch etwas, das auch jedem Einzelnen schon inne wohnt. Eine Art untrüglichen inneren Kompass, den Du vorhin als roten Faden oder Liebe bezeichnet hast. Der Mythos vom Labyrinth, in dem die Liebe von Ariadne und Theseus dargestellt wird, ist ja ein Bild, das auch für eine viel „allgemeinere“ Liebe stehen könnte, nämlich die Liebe zum Leben. Und, diesen Kompass zu erkennen, ist ja potenziell Jedem möglich, weil es in Jedem liegt.

KE: Nun, ich würde es so formulieren, dass es verschiedene Erkenntnisebenen gibt. Neben der intellektuellen gibt es ein intuitives Erkennen. Es gibt eine magische Wirkung des Labyrinthes, die weit unterhalb der intellektuellen Erkenntnis liegt, die findet einfach statt. Auf dieser Ebene kann man auch sagen, dass der Mensch, der da reingeht, das Gefühl hat, dass er nicht dort bleiben will. Es beengt ihn, er will wieder raus und leben. Das heißt in der Mitte des Labyrinthes, welches ein Lebenszeichen ist, stellt sich ganz spontan und auch biologisch stellt sich die Frage von Leben oder Sterben. Wie ein Tier, das sich eingeengt fühlt, flieht auch der Mensch wieder aus dieser Mitte heraus. Oder er entscheidet sich bewusst zu sterben, das heißt in eine andere Welt zu gehen, in einen anderen Zustand. Aber noch besser wäre es, erstmal zurück zu kommen und allen anderen mitzuteilen, was man gesehen hat. Da sind wir jedoch schon im Bereich der Verantwortung. Davor war ich noch in der spontanen Bewegung, in der Menschen einfach einen Punkt erreichen, an dem sie nicht weiterkommen, weil alle Wege schon gegangen sind. Das ist ein Punkt der Verzweiflung. Es ist ein Endpunkt, ein Wendepunkt, ein Anfangspunkt. Ganz beliebig wie Du es wendest, es ist auf jeden Fall ein Punkt der Umstülpung. Wie Du Dich entscheidest, ist deine Sache. Aber der Funke Leben sitzt natürlich tief in jedem, tief im Bauch auch. Und leben zu wollen, heißt wieder lieben zu wollen.

FH: Im Labyrinth sich zu bewegen heißt zu wissen, wo man sich befindet und in der Mitte nach Möglichkeit zu erkennen, wer man ist. Das Labyrinth ist also eine Selbst- und aber auch eine  Raumerfahrung. Damit liegt es nahe, dass auch Selbst- und Welterkenntnis miteinander verknüpft sind. Und diese Erkenntnis gleicht einem Verständnis davon, welche Aufgabe man in der Welt übernehmen kann und möchte. Und dies wäre nicht abzuleiten aus kausalen Zusammenhängen, z.B. was gut sei oder gebraucht würde, sondern aus dem Verständnis dessen, wer man selbst ist. Nur daraus kann eine Aufgabe wirklich zur eigenen Aufgabe werden (in Anlehnung an einen Vortrag von Thomas Brunner „Zur Aktualität des BilDungsideals Wilhelm von Humboldts“, Edition Immanente). Und tiefer noch: Wenn man sich fragt, wer man selbst ist, dann muss man fragen, was der Mensch ist.

KE: Da kann ich nur sagen, dass Du damit vollkommen Recht hast. Wenn man die Figur des Labyrinths nimmt als eine, die sich solchen prozesshaften Fragen am meisten annähert, als eine Art Erkenntniskrücke, dann ist sehr interessant zu sehen, was sich abspielt beim Hineingehen. Die Runden im Hineingehen sind ein rhythmisches Kraftschöpfen und dann kommt man auf ein Feld, an dem es nicht weitergeht. Dort ist ein Umstülpungspunkt erreicht. Es ist ein Metamorphosenfeld. Da löst sich die Bewegung, mit der Du hineinkommst, auf. Da ist etwas in sich selbst geschlossen, es ist zu Ende. Das ist, ganz ohne jede Wertung, ein kleiner Tod. Das bedeutet auch, dass dies ein Raum ist, in dem sich die eine Energierichtung in die andere dreht. Doch darin finden wir auch die Potenzialität, unser Potenzial. Oder um es mit alten Begriffen zu sagen: Das ist Gottesraum.

FH: Seine Grenze in der Beengung des Labyrinths zu erleben, hast Du vorhin eine schmerzliche Erfahrung genannt, die uns darauf stößt, dass wir uns umwenden müssen. Meinst Du, dass es heutzutage schwieriger ist, so in sich hineinzuhören, weil wir Durch viel Konsum abgestumpfter geworden sind? Und auch vielleicht, dass wir daDurch heute weniger unseren eigenen Gefühlen trauen als der gängigen moralischen Vorstellung?

KE: Ehrlich gesagt halte ich diese Problematik für eine ewig menschliche. Ich glaube nicht, dass es irgendeinem Mongolen im Heer Dschingis Khans besser ging als uns heute, was diesen Punkt betrifft. Damals war jener vermutlich mit einem geringeren Selbstbewusstsein als wir heute er selbst und er war gleichzeitig auch Teil des Volkes und darin ganz unbedeutend.

FH: Das ist ja eigentlich gerade die spannende Entwicklung. Wir betonen heute das IndiviDuum mehr als je zuvor und fühlen uns weniger einem Volk verpflichtet; es gibt auch keinen Dschingis Khan mehr, dem wir huldigen…

KE: Aber es gibt eine WTO. Das ist eine Illusion, diese Art von IndiviDualismus ist eine Illusion. Das ist Konformismus bis obenhin. Gerade dieser „IndiviDualismus“ hat unglaublich konformistische Züge. Der IndiviDualismus ist ja nur eine Geste, ein Ritual. Wenn Du mal genauer hinschaust, wirst Du feststellen, dass manche Menschen sich unglaublich indiviDualistisch aufführen und in Wirklichkeit sind wir nur ein Kollektiv von lauter IndiviDualisten. Das macht mich wirklich schmunzeln; IndiviDualspießertum ist das!

FH: Liegt es nicht doch an unserem Selbstverständnis!? Wir können uns ja auch als per se indiviDuell verstehen, da nur ich ich sein kann und niemand sonst.

KE: Ich bin Mensch, weil ich Mensch bin! Und nicht weil ich mich zum Affen mache. Und das ist mein Wert. Das ist wirklich der Punkt, um den es geht.

FH: Kann aus diesem Selbstverständnis, diesem Begriff vom Menschsein, auch eine Motivation zum Handeln erwachsen?

KE: Natürlich. Das steht schon in der Bibel: „Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Das ist für mich die tiefste Wahrheit, die es gibt.

FH: Und dennoch scheint mir, dass viele Leute aus Moral oder Gewohnheit oder was auch immer für einem Bedürfnis heraus sich bemühen andere zu lieben und doch sich selbst nicht akzeptieren können.

KE: Doch wie kann man andere lieben, wenn man sich selbst nicht lieben kann? Das geht gar nicht, das wird schräg. Darum ist dies für mich der wichtigste Spruch in der Bibel. Wenn Du in diese Aussage richtig hineingehst, dann bist Du im Kern der Dinge. Und es ist auch ein Schlüssel zur Motivation. Und das ist nicht mal eine Aufforderung, das ist eine Erkenntnis.

FH: Einmal die Erkenntnis darüber, dass man sich selbst genug liebt und wertschätzt, um auch Vertrauen zu haben Durch seine eigenen Wandlungen zu gehen, denn man weiß ja nicht, was auf einen zukommt. Und andererseits kann man nur aus dieser Liebe heraus auch Vertrauen zu anderen und Liebe für deren Wege haben.

KE: Wenn Du Dich liebst, kannst Du auch andere lieben. Wenn Du Dich nicht liebst, dann kannst Du auch andere nicht lieben. Das ist auch ein Bedingungssatz! Es ist aber kein moralischer Zeigefinger. Nimm Dich selbst als Mensch erstmal an, dann kannst Du auch andere verstehen.

FH: In der Redaktion kamen wir auf das Thema „Motivation“ eigentlich, weil wir uns gefragt haben, wieso es Menschen gibt, die sich mit voller Inbrunst in Arbeit stürzen, die erstmal und meistens höchstens wie der Tropfen auf den heißen Stein wirken kann. Auf der anderen Seite aber auch Menschen sind, die sitzen bleiben mit den Worten: „Was kann ich denn schon tun?“. Woher kommt deiner Meinung nach dieser krasse Unterschied in der Motivation?

KE: Es gibt Bernhardiner und es gibt Boxer und es gibt Dackel! Da muss man nichts weiter reingeheimnissen, die Menschen sind nun einmal verschieden. Aber trotzdem sind sie alle Menschen und sie können sich erkennen.

FH: Warst Du jemals in einer Phase, in der Du von deinem eigenen Engagement so frustriert warst, dass Du das Gefühl hattest, dass deine Arbeit keinen Sinn macht?

KE: Das bin ich ständig immer wieder. Immer wieder frage ich mich, ob es etwas bringt oder nicht.  Ich weiß es nicht. Ich habe keine Wahl; ich muss es machen, wenn ich mich selbst ernst nehmen will. Ich nehme die ganzen moralischen Gründe für mich gar nicht in Anspruch, aber ich sage: `Wenn ich mich selbst ernst nehmen will, dann muss ich zusehen, dass es mir und meinen Mitmenschen gut geht.´ Und das heißt, dass ich und die anderen sich selbst verwirklichen können müssen. Alle anderen Gründe sind ideologische Gebäude, die vielleicht auch ihre Berechtigung haben, aber erst in zweiter Linie. So etwas wie Mitleid, Verantwortung usw.

FH: Doch sowohl Selbsterkenntnis, als auch Ethik sind Motivationen aus „positiven“ Gefühlen heraus. Auch der umgekehrte Weg funktioniert; Menschen können auch von Hass, Aggression, Angst motiviert sein.

KE: Ja und diese Zwiespältigkeit lässt sich auch nicht lösen. Der Mensch ist „frei“ und zwar insofern, dass er sich als Mensch akzeptieren kann oder nicht.

FH: Du hast sprichst auch über deine „Abschweifungen“ immer offen, aber auch davon, wie Du Dich selbst wieder aufgerichtet hast. Abschließend würde ich gern wissen, wie Du diesen Antrieb zur Weiterentwicklung, zur Entwicklung deiner Kräfte, genau verstehst?

KE: Ja, vielleicht sollte ich besser sagen: meiner menschlichen Kräfte. Der Mensch ist ja männlich und weiblich in einer Wechselbeziehung. Für mich ist entscheidend, sich als Mensch über diese Polaritäten hinweg zu entwickeln und diese Kraft, die darin liegt, dass ich das eine wie das andere kann und nicht festgelegt zu sein, auszuschöpfen. Und das ist, was wir auch schon immer wieder umkreist haben: die Liebe, die Akzeptanz des Lebens. Und was ist das eigentlich dieses Leben? Das ist doch ein ganz großes Geheimnis. Ich meine das nicht als Mystifikation, sondern einfach im Sinne eines großen Wunders. Mein Freund, Hermann Prieger, ein Landschaftskünstler, hatte einen wunderbaren Spruch: „Das Wunderbare im Faktischen suchen“. Das finde ich sehr schön. Denn in dieser faktischen Realität liegt das Wunderbare; das muss man nicht hineininterpretieren. Dass es dieses Leben gibt und dass dieser Geist diese Form gefunden hat und neu erfindet, ist ein unglaubliches Wunder und ein unglaubliches Geschenk, in dem Sinne, dass es da ist.

in itiativ-Blickpunkt Nr. 134: http://erdcharta.de/fileadmin/Materialien/Zeitschriften/initiativ/initiativ134_ehlers.pdf